Sonntagmorgens, 8 Uhr, im November. Jogge verschlafen die Spree entlang. Mein verzweifelter und sysiphosischer Versuch, meine durch kohlehydrathaltige Teigwaren und zuckriges Hefegebäck weniger adonishaft als barock geformten Hüften durch regelmäßiges Laufen zu stählen. Trabe daher mit trüben Gedanken über alternative Freizeitbeschäftigungen, die mein Bedürfnis nach hedonistischer Lustmaximierung viel besser befriedigen könnten, über den Kiesweg.
Plötzlich holt mich eine stark keuchende Gestalt ein. Sie trägt ein weites Kapuzenoberteil aus dunkelbraunem grob gewebtem Leinenstoff (wahrscheinlich nicht atmungsaktiv), das einen süsslich-modrigen Geruch verbreitet. Die Beine stecken in einer labberigen kurzen Hose aus dem gleichen müffelnden Material und an den Füßen trägt sie ein Paar Laufschuhe, die schon zu Zeiten Emil Zatopeks nicht mehr dem aktuellen orthopädisch-sportwissenschaftlichen Stand entsprachen.
Die Gestalt krächzt mir ein freundliches „Guten Morgen!“ entgegen. Da erkenne ich, dass es mein Freund, der Tod, ist. Ich mag ihn wirklich gern, aber ihn beim Sport zu treffen, beunruhigt mich doch ein wenig.
Erwidere etwas besorgt seinen Gruß: „Ebenfalls guten Morgen.“
„Keine Angst“, beruhigt mich der Tod. „Ich bin nicht geschäftlich hier, sondern habe nur nach einer Sport-Begleitung gesucht und dachte, dass ich dich hier finden könnte.“
„Ich wusste gar nicht, dass du so eine Sportskanone bist“, stelle ich überrascht fest, während wir nebeneinanderher joggen.
„Nun ja“, druckst der Tod herum. „Ich muss mich ein wenig körperlich betätigen, um wieder auf mein Idealgewicht zu kommen. In letzter Zeit spannt die Kutte ein wenig.“
Bei diesen Worten deutet er niedergeschlagen mit seinen knochigen Fingern auf seine Bauchgegend.
„Ich seh‘ da nichts“, versuche ich ihn aufzumuntern. „Das ist doch allerhöchstens ein winziges Mini-Bäuchlein.“
„Ja, für dich vielleicht“, antwortet der Tod mit schonungsloser und meine freundschaftlichen Gefühle für ihn aufs Äußerste strapazierender Offenheit. „Aber für mich ist das total inakzeptabel. Oder hast du schon mal ein Bild vom Tod als adipösen Fettwanst gesehen?“
Ich schüttle den Kopf. Schwer atmend laufen wir weiter. Die Lunge des Tods rasselt so lautstark, als begleite uns ein altersschwacher osteuropäischer Panzer, dessen verrosteten Ketten seit dem Fall des Eisernen Vorhangs nicht mehr geölt worden sind.
„Sag‘ mal, rauchst du?“, will ich vom Tod wissen.
„Nein, nicht mehr“, keucht der Tod.
„Wann hast du den aufgehört?“, frage ich nach.
„Als ich den Marlboro-Mann geholt habe. Der hat mich aufgeklärt, dass Rauchen Krebs verursacht. Das hätte man mir ja auch mal früher sagen können“, empört sich der Tod.
„Wie konnte man dir das nur vorenthalten“, bemerke ich spöttisch.
Der Tod ignoriert meinen Sarkasmus und rotzt geräuschvoll schleimigen Auswurf auf den Boden. In diesem Moment überholt uns ein andere Läufer – ein Modellathlet von 1,90 m Körpergröße und austrainierter, muskulöser Statur.
„Nicht übertreiben, Kollegen“, ruft er uns höhnisch zu. „Sonst bekommt ihr noch ‘nen Herzinfarkt.“ Lachend entfernt er sich in zügigem Tempo.
„Deine Mudda bekommt gleich ‘nen Herzinfarkt“, ruft der Tod dem Mann zornig hinterher. „Das geht schneller als du denkst, du räudiges Frettchen.“
„Wirklich?“, will ich vom Tod wissen.
„Iwo, ist nur ein kleiner Scherz“, beruhigt mich der Tod, der einen eher gewöhnungsbedürftigen Humor hat.
Kurzatmig setzen wir unseren Weg fort.
„Woher kommt es eigentlich, dass du zugenommen hast?“, setze ich unsere Unterhaltung von vorhin fort.
„Ach, weißt du“, erwidert der Tod. „Wenn man so viel geschäftlich unterwegs ist wie ich, achtet man nicht immer auf eine ausgewogene Ernährung.“
Nicke wissend und denke an die unzähligen belegten Brötchen, Pizzaschnitten, Hamburgern, Streuselschnecken, Donuts und Kekse, die ich auf Geschäftsreisen an Flughäfen und Bahnhöfen zu mir genommen habe und deren mindere Qualität im reziproken Verhältnis zu ihren überteuerten Preisen stand.
„Außerdem werde ich häufig zum Essen eingeladen“, fährt der Tod fort.
Schaue ihn fragend an.
„Bevor die Leute sterben, wollen sie häufig noch eine letzte Mahlzeit einnehmen“, erklärt der Tod. „Und ich bin doch kein Unmensch, dass ich ihnen diesen letzten Wunsch verwehre.“
„Das ist sehr anständig von dir“, werfe ich ein.
„Meisten, eigentlich immer, bieten sie mir dann auch etwas an. In ihrer Lebenssituation wäre es extrem unhöflich, ihre Einladungen auszuschlagen“, rechtfertigt sich der Tod.
„Das sähe Freiherr von Knigge sicherlich genauso“, pflichte ich ihm bei.
„Das Problem ist, dass die Leute kurz vor dem Ableben nicht gerade die gesündesten Sachen essen wollen“, fährt der Tod fort.
„Klar, wer will als finales Mahlzeit schon Rohkostsalat essen. Und wenn du ohnehin das Zeitliche segnest, dann sind dir Cholesterin-Werte und dein Body-Mass-Index wahrscheinlich auch egal“, mutmaße ich.
„Genauso ist es“, ruft der Tod aus. „Daher esse ich quasi täglich Schweinebraten mit Klößen und Sauerkraut, Pizza mit extra Käse, Rumpsteak mit Pommes, Hamburger, Lasagne und so weiter.“
Mir läuft das Wasser im Munde zusammen.
„Heute Morgen erst hatte ich Käsekuchen zum Frühstück“, berichtet der Tod.
„Wie, da hat jemand kurz bevor er stirbt, noch einen Käsekuchen gebacken?“, frage ich erstaunt.
„Nicht direkt“, erwidert der Tod. „Ich hatte einen Termin bei einem Bäcker. Der war ein wenig leichtsinnig und hat seine Mehlallergie unterschätzt. Da lag er dann in seiner Backstube. Weil ich ohnehin schon da war, habe ich mir halt ein kleines Stückchen Käsekuchen gegönnt.“
Schau kritisch zum Tod rüber.
„Vielleicht waren es auch zwei oder sogar drei Stücke“, stößt der Tod hervor.
Fixiere ihn weiter mit zusammengezogenen Augenbrauen und signalisiere ihm, dass seine Aussage so glaubwürdig ist, wie die Behauptung Bill Clintons er habe beim Kiffen nie inhaliert.
„Na gut“, platzt es aus dem Tod und er wirft seine Arme theatralisch in die Höhe. „Es war der ganze Kuchen. Wenn ich schon morgens um 4 Uhr in der Früh arbeiten muss, kann ich mir ja wohl auch etwas gönnen, ohne mich dafür rechtfertigen müssen.“
Trotten eine Weile nebeneinander her, ohne miteinander zu reden. Schließlich räuspert sich der Tod: „Du gehst doch regelmäßig ins Fitness-Studio?“
„Geht so“, nuschle ich kurzatmig und wohlwissen, dass mein letzter Besuch so weit zurück liegt, dass ich Schwierigkeiten hätte, die Umkleidekabinen dort zu finden. „Bin ab und an beim Kieser-Training.“
„Das ist großartig“, ruft der Tod aus. „Da kann ich dich doch mal begleiten.“
„Ich weiß nicht“, zögere ich. „Da sind viele der Besucher schon weit über 70. Wenn du da auftauchst, denken sie, du kommst wegen ihnen und dann erschrecken sie sich zu Tode.“
Wir kichern beide über das kleine Wortspiel, was gar nicht so einfach während des Laufens ist. Für Außenstehende mag es zwar aussehen, als machten wir Techniktraining im Superzeitlupen-Tempo, aber für uns laufen wir in einer Geschwindigkeit weit oberhalb unserer anaeroben Belastungsgrenze. Zugegebenermaßen ist diese nicht sonderlich hoch.
„Umso besser!“, stellt der Tod euphorisch fest, als wir uns wieder beruhigt haben. „Dann kann ich dort Berufliches und Privates verbinden. Ist gut für die Work-Life-Balance. Verstehst du?“
„Aber vielleicht kündigen die mir den Vertrag, wenn ich jemanden mitbringe und dann sterben denen die Mitglieder wie Fliegen weg“, gebe ich zaghaft zu bedenken.
„So selten wie du da hingehst, wäre das auch nicht weiter tragisch“, entgegnet der Tod spitz. „Außerdem kannst du mir mal beim Arbeiten zuschauen. Da kannst du noch was lernen.“
„Ach ja?“, frage ich skeptisch. „Was denn?“
„Kompromisslose Service-Mentalität und aufopferungsvoller Dienst am Kunden“, erwidert der Tod. „Ich kann eine 100-prozentige Kundenzufriedenheit vorweisen. Bei mir hat sich noch nie ein Klient beschwert. Höchstens mal ein paar Angehörige. Aber auch nur, wenn das Erbe niedriger ausgefallen ist, als erwartet.“
Richtig überzeugt bin ich noch nicht von der Idee, dass mich der Tod ins Fitness-Studio begleitet, aber er kann sehr insistierend und hartnäckig sein, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat. Plötzlich vibriert etwas in seiner Kutte und der Tod zieht ein Mini-Tablet hervor.
„Ist das ein Pulsmesser für ein optimales Fitness-Training?“, erkundige ich mich neugierig.
„Nein“, entgegnet der Tod. „Wir haben technisch aufgerüstet. Das Gerät zeigt mir immer an, wenn ich einen Job zu erledigen habe und wo ich hin muss. Sehr hilfreich. Verkürzt die Wege, steigert die Effizienz und verspricht einen erhöhten Return on Investment.“ Er hört sich ein wenig an wie ein mieser Unternehmensberater.
„Hm“, erwidere ich mit einem Anflug von Neid ob der topmodernen Ausstattung des Tods und versuche, Indifferenz vorzutäuschen.
Der Tod studiert konzentriert das Display, als sich seine Miene aufhellt. „Wie praktisch, das ist ganz in der Nähe. Nur knapp 1.000 Meter entfernt“, freut sich der Tod.
„Das ist doch nicht etwa der Läufer von vorhin?“, frage ich ihn.
„Das ist er in der Tat“, antwortet der Tod. „Er gerät gleich ins Straucheln, verliert das Gleichgewicht und knallt ungünstig mit dem Kopf auf einen Stein. Zack, bumm, aus die Maus!!!“
„Das ist aber nicht deine Idee, weil du immer noch sauer auf ihn bist, oder?“ erkundige ich mich misstrauisch.
„Selbstverständlich nicht“, antwortet der Tod beleidigt. „Das verstieße gegen meinen Berufskodex. Außerdem halse ich mir doch nicht selbst Arbeit auf.“
Bin mir unsicher, ob ich ihm das glauben soll.
„Nun muss ich mich aber beeilen“, sagt der Tod. „Muss ihm noch das Bein stellen, sonst wird das alles nichts.“
Mit diesen Worten winkt mir der Tod zu Abschied zu und entfernt sich scheinbar mühelos mit erstaunlicher Geschwindigkeit im Laufschritt. Beschließe erstmal eine Gehpause einzulegen. Nicht, dass ich auch noch stolpere und der Tod wegen mir noch einmal zurückkommen muss. Das wäre nicht so schön.
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Alle Teile der Serie “Gespräche mit dem Tod” gibt es hier.
Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Im September erscheint sein neues Buch “Papa braucht ein Fläschchen”. Ebenfalls mehr als zu empfehlen sind “Hilfe, ich werde Papa! Überlebenstipps für werdende Väter”, “Ein Vater greift zur Flasche. Sagenhaftes aus der Elternzeit” sowie “Wenn’s ein Junge wird, nennen wir ihn Judith”*. (*Affiliate-Links)
Gnihihi. Er scheint ja doch recht umgänglich zu sein, der Sensenmann.
Bliebe noch zu klären, warum er immer nur als Skelett dargestellt wird. Die können doch gar nicht zunehmen. Da solltest du noch mal nachhaken. ;-)
Es gibt doch auch den Ausdruck “Jemand hat dicke Knochen.” Vielleicht erklärt dies das Phänomen des zunehmenden Todes. Oder die bisherigen bildlichen Darstellungen sind keine adäquaten Repräsentationen des Todes. ;-)