Es ist viertel nach Sieben an irgendeinem Wochentag, aber ich weiß nicht welcher. So etwas vergisst man im Urlaub mal leicht, bei all dem an den Strand gehen, in der Sonne liegen und Eis essen. Außerdem ist im Urlaub jeder Tag wie Wochenende. Sagt zumindest der Sohn. Und damit hat er recht.
Aber egal welcher Wochentag ist, heute steht der nächste Morgenlauf an. Daher sitze ich im Wohnzimmer und versuche mich, seelisch darauf vorzubereiten. Und körperlich. Das ist aber gar nicht so leicht wegen des kleinen Zehs, den ich gestern beim Klettern in den Felsen volle Lotte gegen einen Stein gerammt habe. Dem Stein geht es wieder gut, dem Zeh eher weniger. Er hat die Form und Farbe einer kleinen Aubergine angenommen. Das sieht nicht gut aus und fühlt sich auch nicht gut an.
Da betritt der Innere Schweinehund das Wohnzimmer, wirft einen Blick auf den violetten, unförmigen Zeh und macht Kotzgeräusche. „Damit willst du ja wohl nicht laufen“, sagt er zu mir. „Lass uns lieber einen Kaffee trinken.“ „Nein“, erwidere ich. „Ich gehe trotzdem laufen.“ „Aber das tut doch viel zu weh.“ „I wo“, entgegne ich. „Als Mann läuft man den Schmerz einfach weg.“
Der Innere Schweinehund schüttelt den Kopf. „Was für ein Unsinn!“, ruft er dann. „Du hast doch nur Angst, dass du fett wirst, wenn du nicht laufen gehst und dann am Strand wie eine aufgedunsene Maultasche aussiehst.“ „Gar nicht“, entrüste ich mich. „Ab einem gewissen Alter ist es halt wichtig, sich um seinen Körper zu kümmern.“ „Kümmer‘ dich lieber um das Nutella“, antwortet der Innere Schweinehund, während er das Küchenregal einer Inventur unterzieht. „Das ist nämlich fast alle.“ „Das ist mir egal“, sage ich. „Ich gehe jetzt laufen.“
Der Innere Schweinehund reißt entsetzt die Augen auf ob meiner gewissermaßen gotteslästerlichen Aussage, murmelt etwas, das sich wie „Grande stronzo!“ anhört, und verlässt kopfschüttelnd die Ferienwohnung.
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Nachdem ich ungefähr zehn Minuten jogge, tut der Zeh eigentlich gar nicht mehr so weh. Zumindest, wenn man nicht an ihn denkt. Und den Schmerz am Fuß einfach wegatmet. (Endlich lohnt es sich, dass ich damals gemeinsam mit der Frau den Geburtsvorbereitungskurs besucht habe.)
Bergauf geht es viel besser als bergab, wo man immer mit dem Fuß abbremst und der Zeh dann anfängt, zu pochen, wie ein Techno-Beat auf einer Kirmes-Disco. Deswegen freue ich mich geradezu auf die Anstiege, die ich hinauflaufen muss. Das ist schon ein bisschen krank. Fast so krank wie mit einem lilafarbenen, ballonartigen Zeh durch die sardische Hügellandschaft zu laufen.
Als ich circa 25 Minuten unterwegs bin, treffe ich das erste Mal in diesem Urlaub auf einen Straßenhund. So eine Art Schäferhund. Aber kein reinrassiger. Er sieht eher danach aus, als hätten seine Vorfahren mit allen Rassen rumgevögelt, die ihnen vor die Rute kamen. So wie er aussieht, hat er nicht allzu große Chancen, einen vorderen Platz bei einem Hundezüchterwettbewerb zu belegen.
Der Hund und ich beschließen, so zu tun, als hätten wir uns gar nicht bemerkt. Das erspart uns beiden unnötige Scherereien. Der Hund muss nicht so tun, als wäre er böser und bissiger, als er ist. Deswegen muss er dann auch nicht unnötig bellen und kläffen, was in der Morgensonne nur unnötig anstrengt. Ich wiederum muss mich nicht fürchten und mitten in der freien Natur einnässen, was in der Morgensonne nur unnötig riecht. Eine klassische Win-Win-Situation für alle Beteiligten, wenn wir uns einfach ignorieren.
Nachdem ich ungefähr sieben Kilometer gejoggt und zurück Richtung Ferienwohnung laufe, macht das zehschonende Berghochlaufen, auch nicht mehr ganz so viel Spaß. Eigentlich überhaupt keinen. Ich glaube, ich bin hier ohnehin einem geologischen Phänomen auf der Spur, bei dem durch ganz leichte tektonische Verschiebungen, die Hügel auf dem Rückweg viel steiler als auf dem Hinweg sind.
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Am Frühstückstisch herrscht eine glückselige und frohlockende Stimmung. Zumindest bei der Frau und mir, denn wir haben das erste Mal seit drei Tagen wieder Kaffee zum Frühstück. Mit dem verträumten Blick frisch Verliebter schauen wir unsere Tassen an und genießen jeden Schluck.
Bei den Kindern ist die Stimmung dagegen leicht angespannt. Das hängt damit zusammen, dass das Nutella-Glas tatsächlich ziemlich leer ist. So dass man quasi mit der ganzen Hand hineinlangen muss, um mit dem Messer ganz tief unten am Boden ein paar letzte Nutellareste herauszukratzen, wobei aber immer viel mehr an den Fingern kleben bleibt, was man dann nicht aufs Brot schmieren kann, so dass man nur eine hauchdünne Nutellaschicht zusammenbekommt und dann ist es eigentlich gar keine richtige Nutellastulle. (Die ist es erst, wenn der Nutella-Aufstrich mindestens so dick wie die Brotscheibe selbst ist.)
Es muss heute also Nutella-Nachschub besorgt werden. Oder Ersatz. In diesem Sinne schlage ich vor, wir könnten ja eine andere italienische Schokocreme kaufen. Es wäre doch wichtig, im Urlaub auch mal etwas Neues auszuprobieren. Dem entgeisterten Gesichtsausdruck der Kinder – und der Frau – entnehme ich, dass ich damit eine rote Linie überschritten habe. Gewissermaßen den Nutella-Rubikon. Vorzuschlagen, man könne mal ein Frühstück ausfallen lassen, um rechtzeitig am Strand zu sein, ist das eine, aber auch nur anzudeuten, etwas anderes als Nutella zu kaufen, geht für sie entschieden zu weit. Man sollte sich in unserer Familie, was kreative Ideen im kulinarischen Bereich angeht, lieber ein wenig zurückhalten. Sonst wird man irgendwann an irgendeiner Tankstelle im Nirgendwo ausgesetzt, wie so ein Hund, bei dem man mit zunehmendem Alter feststellt, dass er mehr Mühe als Freude bereitet. Zumindest würde ich dann etwas Neues im Urlaub erleben.
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Provozierend spät, um kurz nach elf, erreichen wir den Strand und unsere Chuzpe wird tatsächlich belohnt. Wir finden eine freie Fläche, auf der wir zwei unserer Handtücher ausbreiten können. Gut, wir grenzen links und rechts quasi direkt an andere Familien, so dass unsere Liegeplätze mehr oder weniger ineinander übergehen, aber immerhin haben wir einen Platz im weichen Sand. Außerdem sind Privat- oder gar Intimsphäre an einem italienischen Strand im August ohnehin von eher untergeordneter Bedeutung. Eigentlich sind hier alle eine große Familie. Und wir sind die verschrobene Verwandtschaft aus Deutschland, die immer zu spät zum Strand kommt.
Unser Liegeplatz liegt erfreulich nahe am Wasser, was uns einen direkten und schnellen Zugang ins kühle Nass garantiert. Außerdem bietet er die Möglichkeit unsere Reflexe zu testen, wenn wir unsere Handtücher vor heranschwappenden Wellen in Sicherheit bringen müssen. Es stellt sich heraus, dass unsere Reflexe ausbaufähig sind. Entsprechend nass sind unsere Strandtücher nach kürzester Zeit.
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Ansonsten geht es bei uns heute sehr sportiv zu. Die Tochter, der Sohn und ich spielen im Wasser Ballzuwerfen, wobei jeder fünf Leben hat, von denen man eins verliert, wenn man den Ball fallenlässt oder zu schlecht wirft. Die Tochter triumphiert in drei von vier Matches, aber mit zunehmender Spieldauer gibt es immer mehr Diskussionen zwischen den Kindern, ob das Fallenlassen des Balls auf die schlechte Augen-Hand-Koordination des Fängers oder die Zielungenauigkeit des Werfers zurückzuführen ist. Dabei stehen sie sich mit ihren Positionen unversöhnlich gegenüber wie einst Kennedy und Chruschtschow während der Kuba-Krise 1962. Und ähnlich heiter ist die Stimmung zwischen den Geschwistern.
Ich versuche mich als integrativer Friedensstifter, quasi als familieninterner Blauhelm, und schlage vor, wir könnten uns doch einfach so den Ball zuwerfen. Aber irgendwie ist die Luft raus und wir lassen den Ball so häufig fallen, dass man den Eindruck gewinnen könnte, wir imitieren englische Fußball-Torhüter.
Als die Tochter zurück an den Strand geht, spielen der Sohn und ich Sieben-Meter-Werfen. Mit ungefähr 16 Jahren habe ich seinerzeit in der B-Jugend des örtlichen Handballvereins als Torwart gespielt und ich bin sehr erfreut, dass ich immer noch über die gleichen akrobatischen Fähigkeiten und geschmeidigen Bewegungen verfüge. Ich denke, die Strandbesucher von Santa Teresa Gallura werden mich als ‚Die sardische Katze‘ in Erinnerung behalten. Die Frau, der ich von dieser Vermutung erzähle, stimmt mir zu. Garfield sei schließlich auch eine Katze.
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Nach den vielen sportlichen Aktivitäten schmerzt mein Zeh wieder ein wenig. Daher humple ich würdevoll, wie man es das letzte Mal bei Patrick Swayze als Orry Main in ‚Fackeln im Sturm‘ gesehen hat, durch die Straßen von Santa Teresa Gallura. In der Spiegelung der Schaufenster sieht es allerdings eher nach Anthony Quinn in seiner Rolle als Quasimodo aus. Wahrscheinlich eine optische Verzerrung durch den Spiegeleffekt.
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Bevor wir zurück in die Ferienwohnung fahren, steht im Supermarkt noch der Großeinkauf für die nächsten Tage an. Die Kinder gehen direkt zielstrebig zu dem Regal mit den Frühstücksaufstrichen und kommen kurze Zeit später mit einem großen Glas Nutella zurück. Mit einem scharfen Blick signalisieren sie mir, ich solle gar nicht erst daran denken, irgendetwas von einer „anderen italienischen Schokocreme“ zu fabulieren, sonst würde ich mich im Alter nach Eintritt in die Pflegebedürftigkeit schneller in einem Kellerzimmer eines drittklassigen Siechenheims wiederfinden, als ich ‚Nudossi‘ sagen kann. Nachdem die beiden das Nutella-Glas in unseren Einkaufswagen verfrachtet haben, ziehen sie weiter, um in Erfahrung zu bringen, was das Kinder-Süßigkeitenangebot von Ferrero so zu bieten hat.
Während sich die Frau um Obst, Gemüse, Aufschnitt und Brot kümmert, fallen Nudeln, Mozarella und Parmesan in meinen Verantwortungsbereich. Bei den Mengen an Pasta und Käse, die ich zu unserem Wagen verfrachte, wäre es wesentlich günstiger, wenn wir die Sachen direkt vom Erzeuger beziehen würden.
Anschließend widme ich mich dem Projekt Bier. Bei Facebook hatte mir nämlich Stefan Schwarz, seines Zeichens ebenfalls Autor im Seitenstraßen Verlag, empfohlen, ich solle von Ichnusa, dem sardischen Lokalbier, die trübe Variante ausprobieren, damit könne man sich derart die Sinne benebeln, dass man den Anblick von Italienern in Speedo-Badehose besser erträgt. Er zerstreute auch meine Bedenken, die Familie akzeptiere es möglicherweise nicht, wenn Vati schon zum Frühstück Bier trinkt. Ich solle den Kindern eine interessante Herkunft schenken, denn es wäre doch alles im Leben viel mehr wert, wenn sie später sagen könnten: „Das alles habe ich erreicht, obwohl Vater trank.“ Man dürfe nicht immer nur Vorbild sein, sondern auch mal Trauma, lautete sein Rat.
Das hörte sich für mich alles recht schlüssig an und so stehe ich nun in der Bierabteilung und suche nach „ichnusa non filtrata“. Mein Problem: Ich kann es nicht finden. Lediglich größere Lücken im Bierregal lassen erahnen, wo es einmal gestanden haben könnte.
Glücklicherweise entdecke ich den Angestellten, mit dem ich gestern schon so eloquent über Zündhölzer und Feuerzeuge parliert habe. Freundlich lächelnd gehe ich auf ihn zu und habe den Eindruck, dass auch er sich an mich erinnert. Zumindest deutet das nervöse Zucken seines linken Augenlids darauf hin.
Ich freue mich, dass ich meine Standardfloskel wieder anbringen kann und frage ihn höflich: „Hanno ‚ichnusa non filtrata‘“? Dabei nehme ich Abstand davon, das Ganze pantomimisch durch das Ansetzen einer fiktiven Bierflasche und lautmalerisch durch Gluck-gluck-gluck-Geräusche zu unterstreichen. Schließlich möchte ich bei dem jungen Mann nicht den Eindruck erwecken, es fehle mir an Zuversicht, was meine italienischen Konversationsfähigkeiten angeht.
Der Angestellte schüttelt nur mit dem Kopf und widmet sich dann wieder dem Einräumen eines Regals, wobei er jeden Blickkontakt vermeidet, aus Furcht ich könnte eine weitere Nachfrage stellen. Wahrscheinlich schämt er sich, dass er mir nun schon zum zweiten Mal nicht weiterhelfen konnte.
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Beim Abendessen sitzen wir wie die Miracouli-Familie am Tisch und essen Nudeln mit Fertig-Tomatensauce. Bei der abschließenden Kniffelrunde spitzt sich der Dreikampf zwischen Tochter, Sohn und mir zu. Allerdings liegen inzwischen beide Kinder vor mir. Wenn ich aber ihr Taschengeld in Cent umrechne und von ihren Punkten abziehe, liege ich in Führung.
Gute Nacht!
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Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Mit seiner Frau lebt er in Berlin-Moabit, die Kinder stellen ihre Füße nur noch virtuell unter den elterlichen Tisch. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Sein neues Buch “Wenn ich groß bin, werde ich Gott” ist im November erschienen. Ebenfalls mehr als zu empfehlen sind “Hilfe, ich werde Papa! Überlebenstipps für werdende Väter”, “Ein Vater greift zur Flasche. Sagenhaftes aus der Elternzeit” sowie “Wenn’s ein Junge wird, nennen wir ihn Judith”*. (*Affiliate-Links)
Also, das Moretti Bier flutscht auch ganz gut. Und für die Dame des Hauses gibt es davon ein leckeres Radler.
Ich weiß, du stehst auf verlorenem Posten, aber die schokocreme Nocciolato (oder so) ist ziemlich lecker und dazu noch ökologisch einwandfrei. Leider zu Goldpreisen.
Die Nocciolato-Creme gab es bei uns im Supermarkt gar nicht. Nur so eine andere Marke, die dunkel- und hellbraun gestreift war, wobei die hellbraunen Streifen eher unschöne Assoziationen hervorgerufen haben.
😂 du warst im Schwangerschaftsvorbereitungskurs?
Wenn man schon in Vorbereitung der Schwangerschaft den Schmerz weg atmen muss…
Nachdem es bereits bei Facebook eine Bemerkung zum Schwangerschaftsvorbereitungskurs gab, habe ich das jetzt mal geändert. Vielen Dank für den Hinweis.