Als ich aus der Mittagspause zurückkehre, ist meine Frau wach. Ich frage, wie es ihr geht. „Gut“, erwidert sie. Das ist wahrscheinlich eine recht euphemistische Aussage, aber ihre Stimme klingt auf jeden Fall schon etwas besser. Nicht mehr wie eine Hardcore-Rot-Händle-Raucherin, sondern wie eine Mischung aus Bonnie Tyler und Joe Cocker.
Sie erzählt mir, dass vorhin ihr Blasenkatheter gezogen wurde. Ein weiterer kleiner Schritt auf dem Weg der Genesung. Nicht in einen Beutel, der am Bett hängt, pinkeln zu müssen, gibt einem ein wenig Würde zurück. Allerdings wird meiner Frau jetzt immer, wenn sie auf Toilette muss, eine Bettpfanne untergeschoben. Da verabschiedet sich die Würde dann wieder ganz schnell.
Eine Schwester bringt meiner Frau eine Wasserflasche mit Strohhalm. Sie solle viel trinken. Meine Aufgabe ist es, ihr die Flasche zu halten und den Strohhalm an den Mund zu führen. Mein Job-Profil, das bisher aus Am-Bett-Sitzen und Händchenhalten bestand, wurde um den Punkt Flasche-Anreichen ergänzt. Ich wurde quasi befördert.
Vom Unterhalten und Trinken erschöpft, schläft meine Frau wieder ein. Wie sie so da liegt, hat sie etwas leicht schneewitchenhaftes. Mit ihrer blassen Haut und den schwarzen Haaren. Also, nicht ganz ebenholzschwarz, aber ziemlich dunkel. Zumindest an den Stellen, wo es nicht grau ist. Aber darauf möchte ich hier nicht weiter eingehen. Das würde von mangelndem Taktgefühl zeugen, wo sie doch so eine schwere OP hinter sich hat. Da ist es nicht nötig, sich in irrelevanten Detailinformationen zu ergehen. Zum Beispiel, dass sie sich regelmäßig die Haare färbt. Beziehungsweise renatured, weil das dann viel „natürlicher“ aussieht. *zwinker, zwinker*
Aber genug davon. Haar-Renaturing hin oder her, meine Frau liegt wie Schneewittchen im Bett. Ich vervollständige die märchenhafte Szenerie. Allerdings nicht als edler Prinz, sondern so bucklig wie ich auf meinem Hocker sitze, als einer der sieben Zwerge.
Als meine Frau aufwacht, klagt sie über Übelkeit. Das kommt wohl von den ganzen Medikamenten, die hektoliterweise in sie reingepumpt werden. In dem Moment erscheint die Stationsassistentin und drückt mir einen Stapel Papiere in die Hand. Dies sei das Essensangebot für die nächste Woche und ich könnte das ja mal gemeinsam mit meiner Frau ausfüllen. Dann bekäme sie in den nächsten Tagen etwas, was sie gerne isst. Meine Frau übergibt sich erstmal. Ich deute das als dezenten Hinweis, dass sie gerade kein Interesse an der Essensauswahl für die nächsten Tage hat und ich mich darum kümmern soll.
Essen auswählen hört sich eigentlich gut an, ist bei dem Krankenhaus-Angebot allerdings eine ziemliche Herausforderung. Alleine die Brotauswahl für das Frühstück ist schier grenzenlos. Weizenbrötchen, Mehrkornbrötchen, Sonnenblumenkernbrötchen, Schwarzbrot, Vollkornbrot, Weizenbrot, Toastbrot, Knäckebrot. Dazu muss zwischen diversen Wurst- und Käseaufschnitten sowie unterschiedlichen Marmeladensorten und zwischen Butter, Margarine oder Frischkäse als Aufstrich gewählt werden.
Ich war mal auf einer Dienstreise in einem Moskauer Luxushotel, in dem sich das exklusive Frühstücksbuffet über eine Länge von 50 Metern erstreckte. Das Angebot dort war nur geringfügig umfangreicher als in diesem Krankenhausbogen.
Die Auswahl des Mittag- und des Abendessen gestaltet sich ebenfalls schwierig. Wenn du mit akuter post-operativer Übelkeit zu kämpfen hast, willst du nicht darüber nachdenken, ob du in drei Tagen lieber Erbseneintopf, Szegediner Gulasch oder Fenchel-Kohlrabi-Auflauf essen möchtest. (Eine Entscheidung, die mich sogar mit vollkommen gesundem Magen überfordern würde.) Ich kreuze einfach mit geschlossenen Augen irgendein Gericht an und wiederhole das für die nächsten Tage. Ich muss es ja nicht essen.
Kurz vor Ende der Besuchszeit mime ich den ex-Zivi und helfe meiner Frau beim Zähneputzen. Um präzise zu sein, putze ich die Zähne, ihre Aufgabe besteht darin, die selbigen zu fletschen. Ich verstehe das als kleine Vorleistung meinerseits. Wenn ich in 30 oder 40 Jahren – falls es extrem gut läuft in 50 – tattrig und bettlägerig bin, wird sie sicherlich das Gleiche für mich tun.
Auf dem Weg ins Hotel rufe ich die Kinder an. Der Sohn ist dran. Er hat seine Lateinarbeit zurück. Sie wissen schon, die, bei der er das beste Gefühl seit zwei Jahren hatte. Es ist eine 3. Er ist trotzdem sehr zufrieden. Schließlich sei es keine 4 oder 5, sondern ein Befriedigend. Das klänge ja schon fast wie zufrieden. Der Sohn ist definitiv der optimistische Glas-halb-voll-Typ. Ich verzichte auf die Frage, was mit diesem besten Gefühl seit zwei Jahren gewesen sei. Wenn du vor ein paar Stunden deiner Frau eine Nierenschale gehalten hast, in die sie sich schwallartig übergeben hat, ist es dir ziemlich wumpe, ob dein Sohn ein paar lateinische Sätze richtig oder falsch übersetzt hat.
Anschließend berichte ich noch bei der Schwiegermutter, meinen Eltern und den Geschwistern von den heutigen Fortschritten. Das mit dem schwallartigen Übergeben behalte ich für mich. Sie wissen ja: Als Propagandaminister muss ich für gute Stimmung sorgen.
In meiner Hotel-Box lege ich mich ins Bett und schlafe ziemlich schnell ein. Im Traum bin ich wieder Patient auf der Intensiv-Station. Vor dem Bett steht eine Reihe von Ärzten, die alle unterschiedlich farbige Stationskleidung tragen. Aus tapetenrollenlangen Listen fragen sie mich ab, was ich gerne essen möchte. Im Hintergrund piepsen die Infusionspumpen eine Techno-Version von „Es ist noch Suppe da!“ Ich sitze derweil auf einer Bettpfanne.
Mit diesem verstörenden Bild lasse ich Sie alleine.
Gute Nacht!
Alle Teile des Krankenhaus-Blogs finden Sie hier:
- Tag 1: Ein kaputtes Herz muss man reparieren
- Tag 2: Don’t go breaking her heart
- Tag 3: Her heart will go on
- Tag 4: Every beat of her heart
Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Im September erscheint sein neues Buch “Papa braucht ein Fläschchen”. Ebenfalls mehr als zu empfehlen sind “Hilfe, ich werde Papa! Überlebenstipps für werdende Väter”, “Ein Vater greift zur Flasche. Sagenhaftes aus der Elternzeit” sowie “Wenn’s ein Junge wird, nennen wir ihn Judith”*. (*Affiliate-Links)