3 Uhr morgens. Werden diesmal nicht vom Wecker, sondern von unserem Bonner Freund geweckt. Dieser singt fröhlich „Ein bisschen Schlaf muss sein“ und ich bekomme Lust auf Tiramisu. Verrückt. Muss wohl vom vielen Frühaufstehen kommen.
Machen uns schnell fertig und brechen dann gegen vier Uhr zum zweiten Teil der Urlaubsanreise auf – mehr als 1.000 Kilometer nach Esquibien. An der Tankstelle noch schnell das Auto aufgetankt und einen Kaffee gekauft, der so stark ist, dass er Tote zum Leben erweckt und dann wieder ins Jenseits befördert.
Die erste Herausforderung des Tages besteht darin, für die Fahrt einen ordentlichen Radiosender zu finden. Bin mir da etwas unsicher und mich treibt die Angst um, eine Station zu erwischen, bei der einen Helene Fischer heimsucht, die sich dann mit ihrem “Atemlos durch die Nacht” ohrwurmartig in die Gehörgänge einnistet. Dies gilt es unbedingt zu vermeiden.
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Nachdem ich einen akzeptablen Sender gefunden habe, steuere ich unseren Wagen durch die dunkle Nacht. Da der Rest der Familie schläft, nehme ich mir Zeit, um mir zu überlegen, was ich mir für den bevorstehenden Urlaub vornehmen könnte.
Bei Reisen in fremde Regionen ist es ja immer sehr bereichernd, mit der lokalen Bevölkerung in Kontakt zu kommen. Daher nehme ich mir vor, mich mindestens einmal am Tag in französischer Konversation zu betätigen. Dazu sollten Sie vielleicht wissen, dass ich kein Wort Französisch spreche.
In der Schule lernte ich nämlich Latein und hatte lediglich in der neunten und zehnten Klasse für zwei Jahre Französisch als dritte Fremdsprache. Da mein Lerneifer lediglich äußerst rudimentär ausgeprägt war und nur noch von meinem defizitären Sprachtalent unterboten wurde, handelte mir dies die einzigen Fünfen ein, die ich jemals im Zeugnis hatte.
Ich kann ohne falsche Koketterie behaupten, der französischen Sprache nicht mächtig zu sein. Abgesehen von dem Satz „Quelle heure est-il“, den ich akzentfrei aussprechen kann. Dies hilft mir allerdings nur begrenzt, da ich die Antwort nicht verstehe.
Mein Mangel an französischem Vokabular gepaart mit meiner völligen Unkenntnis der Grammatik dieser Sprache soll mich aber nicht daran hindern, mit der bretonischen Bevölkerung zu parlieren – meine persönliche ‚French Challenge‘ beziehungsweise meine ‚Défi française‘, wie wir frankophonen Zeitgenossen zu sagen pflegen (zumindest laut dem französischen Online-Wörterbuch, dass ich dazu konsultiere).
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Über die viele Nachdenkerei habe ich gar nicht gemerkt, dass wir inzwischen in Belgien sind. Die Fahrt durch Belgien ist eher etwas anstrengend. Zumeist ist die Autobahn nur zweispurig und eine Baustelle reiht sich an die nächste. Die gesamte Autobahn scheint eine einzige Baustelle zu sein. Auf die Qualität der Straßen scheint dies aber keinen Einfluss zu haben. Sind daher froh, als wir endlich Frankreich erreichen.
Allerdings wird diese Freude durch die Péage, die französische Maut, etwas getrübt. Ungefähr alle 20 bis 30 Kilometer werden die Autofahrer nämlich an kleinen Häuschen zur Kasse gebeten. Dies ist nicht nur aus pekuniären Gründen eher unvorteilhaft, sondern auch für den Verkehrsfluss, da sich an diesen Übergängen immer längere Staus bilden.
Dafür bietet mir der Bezahlvorgang die erste Gelegenheit zu einer ‚French Challenge‘. Fahre etwas nervös mit dem Auto an das Kassenhäuschen ran und lasse ein freundliches „Bon jour, Madame!“ ertönen. Erfreue mich dabei an meiner flüssigen und fehlerfreien Aussprache. Wer wird da schon kleinlich sein, dass es sich bei dem Kassierer um einen Mann handelt? Außer er selbst. Der Herr ist aber auch nicht an einer weiteren gepflegten Unterhaltung interessiert, sondern lediglich an meinem Geld. Somit bleibt mir nur übrig mich für das Wechselgeld mit einem höflichen „Merci beaucoup!“ zu bedanken und weiterzufahren.
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Erfahren sehr schnell, dass am heutigen Tage anscheinend ganz Frankreich sowie die Bürgerinnen und Bürger mehrerer EU-Staaten beschlossen haben, zu einem Urlaub in die Bretagne aufzubrechen. Entsprechend voll sind die Autobahnen und wir hangeln uns von Stau zu Stau. So bewegt sich unsere Durchschnittsgeschwindigkeit irgendwo zwischen der einer Schnecke und der eines Igels.
Um das Beste aus der Situation zu machen, singen wir im Stau stehend lauthals Kinderlieder von Frederik Vahle. Dadurch soll alles nur halb so schlimm sein, wie wir den Kindern erklären. Dies ist natürlich kompletter Unfug, denn nur durch ein paar Song wie „Wir fahren mit dem Omnibus“ (und an dieser Stelle meine ich ein höhnisches Lachen in der Stimme von Frederik Vahle zu vernehmen) löst sich selbstverständlich kein Stau auf und die Wartezeit ist immer noch unerträglich lang.
Bitte werfen Sie der Familie im Stau in der Périphérique von Caen, die hysterisch Kinderlieder singt, ein paar Kekse zu. Das sind wir.
— Betriebsurlaub (@Betriebsfamilie) 2. August 2014
Überlege, was man eigentlich alles während so eines Staus machen kann. Zum Beispiel eine neue Sprache lernen. Vielleicht Kantonesisch. Oder ein Ölbild malen, wenn man es denn kann. Genügend Zeit zum Trocknen des Bildes gäbe es auf jeden Fall. Oder einfach mal die Gesamtausgabe der Buddenbrooks lesen und eine ausführliche Rezension darüber schreiben.
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Schließlich geht es aber doch weiter. Da unser Benzin allmählich zur Neige geht, müssen wir eine Tankstelle aufsuchen. Der Bezahlvorgang eröffnet mir die Möglichkeit der nächsten ‚French Challenge‘. Um unsere Rechnung von 73,01 Euro zu begleichen, gebe ich der Tankfrau zwei 50-Euro-Scheine und überreiche ihr freudestrahlend eine 1-Cent-Münze dazu.
Aus ihrem französischen Wortschwall und ihren Gesten auf die Kasse schließe ich, dass sie wohl gerne auch noch drei Euro in Münzen hätte. Habe ich aber nicht. Verneine daher ihre Frage mit einem entschuldigenden „Non“ und hauche noch ein devotes „Pardon“ hinterher. Um zu unterstreichen, wie untröstlich ich bin, zeige ich dabei mit geöffneten Handflächen nach oben und setze einen traurigen Dackelblick auf.
Finde, dass ich mich mit meiner ‚French Challenge‘ bisher ganz hervorragend schlage. Die Freundin rollt mit den Augen.
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Verlassen kurz danach die Autobahn und nähern uns auf Land- und Dorfstraßen unserer Destination in Esquibien. Während unsere Bonner Freunde, das Ferienhaus vom Vermieter übernehmen, suchen wir noch nach einem Supermarkt, um die Einkäufe für das Abendessen zu erledigen. Dies bringt uns in den Genuss, verschiedene dörfliche Seitengassen, holprige Feldwege und verwinkelte Einbahnstraßen kennenzulernen. Das Navi steht derweil kurz vor dem Kollaps und fordert uns mit immer schrillerer Stimme auf, bei der nächstbesten Möglichkeit gefälligst zu wenden. Finden glücklicherweise zehn Minuten vor Feierabend einen Supermarkt, wo wir unsere Besorgungen tätigen können.
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In Esquibien angekommen, lotst uns das Navi in die Straße, wo das Ferienhaus steht. Zumindest denken wir dies. Durch eine enge Einfahrt und ein noch engeres Gässchen, das kaum breiter als das Auto ist (eventuell auch etwas schmaler) fahren wir vor zum Haus, um am Ende des Weges in einem Garten zu landen und in die verdutzten Gesichter einiger Bretonen zu schauen. Also muss sich die Freundin in einem Wenden-in 28-Zügen-Manöver versuchen, damit wir wieder auf die normale Straße kommen.
Dabei unterstützt uns ein kleines älteres Männchen wortreich, das mit einer erstaunlichen Gelassenheit dafür, dass wir gerade seinen Hortensienbusch rasiert und ein Paar seiner Gartenschuhe (glücklicherweise nicht an seinen Füßen) überfahren haben, zeigt, wie das Lenkrad am besten einzuschlagen sei, um das Auto halbwegs unbeschadet aus seinem Hof zu bekommen.
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Kurz danach kommen wir dann tatsächlich an unserem Ferienhaus an, wo wir für unseren 16-Stunden-Trip mit einem traumhaften Garten und einem malerischen Blick aufs Meer entschädigt werden.
Gute Nacht!
Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Im September erscheint sein neues Buch “Papa braucht ein Fläschchen”. Ebenfalls mehr als zu empfehlen sind “Hilfe, ich werde Papa! Überlebenstipps für werdende Väter”, “Ein Vater greift zur Flasche. Sagenhaftes aus der Elternzeit” sowie “Wenn’s ein Junge wird, nennen wir ihn Judith”*. (*Affiliate-Links)