Endlich können wir unsere Plätze im TGV einnehmen. Allmählich setzt so etwas wie Urlaubsentspannung ein. Jetzt, wo wir im richtigen Zug sitzen, kann nicht mehr viel passieren. Eine naiv vorschnelle Einschätzung, die sich leider bereits ab der nächsten Station als unfassbar falsch erweisen wird.
In Karlsruhe steigt eine größere Gruppe von Mittzwanziger*innen ein, die ihren Alkoholpegel bereits in beachtliche Höhen getrunken haben. Ihr Gebaren stellt mein für gewöhnlich naiv-positives Menschenbild auf eine harte Probe. Vor allem die Männer der Gruppe benehmen sich, als würden sie sich als „Manta, Manta“-Komparsen bewerben, aber nicht genommen werden, weil sie ihre Performance zu sehr übertreiben. Sie sind laut, rücksichtslos, unfreundlich, dreist, ordinär, und latent aggressiv. Dabei saufen sie Wodka-Lemon, Jägermeister, Berliner Luft, Whisky-Cola und Bier in Mengen, denen mein 18-jähriges Ich möglicherweise Respekt gezollt hätte, aber mein 46-jähriges Ich hofft insgeheim auf eine Alkoholvergiftung. Natürlich keine komatöse, aber schlimm genug ist, sie ihre Zugreise abbrechen müssen.
Mit zunehmenden Alkoholkonsum wird die Gruppe noch lauter, noch rücksichtsloser, noch unfreundlicher, noch dreister, noch ordinärer und weniger latent aggressiv. Meine In-Ear-Kopfhörer laufen mittlerweile auf voller Lautstärke. Wahrscheinlich fragt sich mein Trommelfell, ob ich nicht mehr alle Tassen im Schrank habe. Trotzdem höre ich kaum etwas von meiner Musik, sondern vor allem das Gegröle und die dummen Sprüche der Prolos vor uns. Vielleicht wäre es doch nicht so schlecht gewesen, wenn wir den TGV nicht mehr bekommen hätten.
Für einen kurzen, aber schrecklichen Moment habe ich die Horrorvorstellung, die Assis on Tour fahren ebenfalls nach Cassis und haben alle Ferienwohnungen neben unserer gemietet. Glücklicherweise steigt die Gruppe in Lyon aus. Es wäre keine schlechte Idee, wenn das Goethe-Institut im Sinne der deutsch-französischen Völkerverständigung in den nächsten Tagen einige feingeistige Kulturveranstaltungen in der Region zwischen Strasbourg und Lyon organisieren würde. Am besten mit freiem Eintritt. Wäre für die Imagepflege Deutschlands in Frankreich keine schlechte Maßnahme.
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Die eingekehrte himmlische Ruhe nutze ich, um mich in unserem Reiseführer über Marseille zu informieren. Mit 2.600 Jahren ist es die älteste Stadt Frankreichs und laut der Autorin ein „Schmelztiegel der Nationen“. Mit seinen über 100 Vierteln sei Marseilles chaotisch, voller Widersprüche, aber auch voller Poesie. (Was immer das heißen soll.) Die Gegensätze der Stadt zeigten sich darin, dass Marseille, seit es 2013 europäische Kulturhauptstadt war, über ein neu gestaltetes Hafenviertel, neue Museen und zahlreiche Meisterwerke der zeitgenössischen Architektur verfügt. Gleichzeitig fänden in den nördlichen Armenvierteln mörderische Kriege rivalisierender Drogenbanden statt.
Am Bahnhof Marseille-St-Charles angekommen, lassen wir uns von Google Maps den Weg zum Hotel weisen. Das Smartphone findet, es sei eine gute Idee, uns durch enge, finstere und heruntergekommene Gassen zu schicken. Die sehen aus, als belegten sie die vorderen Plätze der Top-Ten-Liste „Orte, die du in Marseille unbedingt meiden solltest“. Mit unseren Rucksäcken, Koffern und Handys in den Händen sind wir als so leichte Touri-Beute zu identifizieren, da hätten wir uns auch gleich Zettel mit der Aufschrift „Raubt uns aus!” an den Rücken heften können. Ich frage mich, ob unser Hotel wohl im Norden der Stadt liegt und gleich die Drogengangs ihre tödlichen Auseinandersetzungen anfangen.
Entgegen meiner Befürchtung erreichen wir unbehelligt unser Hotel. Ich habe ein B+B-Hotel gebucht, weil ich keine Experimente eingehen wollte. In Deutschland haben B+B-Hotels zwar diesen genormten, seelenlosen Charakter, den alle Business-Hotels haben. Dafür bieten sie aber einen okayen Standard zu okayen Preisen und du bekommst eigentlich immer das, was du erwarten kannst.
Als Reiselogistik-Beauftragter muss ich den Check-In übernehmen. Ich frage den freundlichen Nachtportier, ob er Englisch spräche, was er bejaht. Er erkundigt sich, ob wir eine gute Anreise hatten. In einer Art Übersprungshandlung antworte ich: „Si!” Von unserem unfreiwilligen Umstieg in Mannheim, den nervigen Proll-Assis im TGV und unserem furchteinflößenden Weg vom Bahnhof zum Hotel erzähle ich nichts. So gut Englisch spricht der junge Mann doch nicht. Und ich um diese Uhrzeit auch nicht.
Stattdessen erkläre ich ihm, ich hätte ein Zimmer unter meinem Namen reserviert. Das ist für den Portier möglicherweise ein Problem. Bei meinem Doppelnamen beginnen beide Nachnamen mit H und die meisten Französ*innen haben es ja meistens nicht so mit dem Buchstaben H. Der Portier stört sich daran aber nicht. Nachdem er meine Reservierung im Computer gefunden hat, überreicht er mit die Zimmerschlüsselkarten mit den Worten: „Here you are, Mr. Anne-Erkommer“.
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Mit dem kleinsten Aufzug, den ich jemals gesehen habe, fahre ich in den dritten Stock. Angeblich ist er für zwei Personen ausgelegt. Aber nur für zwei Personen mit einem Body-Mass-Index im einstelligen Bereich. Außerdem sollten sie besser in einer körperlich intimen Paarbeziehung leben. Da macht es ihnen nichts aus, wenn sie sich in einer Gesichtsentfernung von circa zweieinhalb Zentimetern gegenüberzustehen. Ich passe mit meinem Trekkingrucksack gerade so in die Kabine und bin heilfroh, dass ich nach einer ruckeligen Fahrt auf unserer Etage ankomme. Meine Frau und der Sohn entscheiden sich für die Treppe.
Unser Zimmer ist etwas heruntergekommen. Die Möbel sind aus dunklem Holz mit der ein oder anderen Macke, die Wände könnten mal wieder einen Anstrich vertragen und der Teppich ist abgetreten. Im Bad gibt es ein extrem grelles Licht, das die Unzulänglichkeiten des eigenen Körpers und des Raumes gleichermaßen unvorteilhaft in Szene setzt. Etwas eng ist es in dem Zimmer auch, da noch ein Beistellbett für den Sohn hinzugestellt wurde. Zu seiner leichten Enttäuschung, die er nicht verbalisierte, die aber für den Bruchteil einer Sekunde seiner Mimik zu entnehmen war, hat er nämlich kein eigenes Zimmer bekommen.
Alles in allem ist das Zimmer aber okay. Ist ja nur für eine Nacht. Es hat vielleicht nicht ganz den Standard eines deutschen B+B-Hotels, aber auch keinen seelenlos genormten Charakter. Welchen Charakter es stattdessen hat, weiß ich auch nicht. Für shabby-chic ist es zwar shabby genug, aber nicht ausreichend chic. Damit passt es eigentlich ganz gut zu mir.
Alle Beiträge des Cassis-Urlaubsblogs finden Sie hier.
- Vorbereitung 1 (06.07.): Was Sie noch nie über Cassis wissen wollten und deshalb nicht zu fragen wagten
- Vorbereitung 2 (07.07.): Auch Nicht-Nicht-Stammfriseurinnen können gut Haare schneiden
- Anreise (08.07.): Nur Amateure erreichen ihre Anschlusszüge sofort
- Tag 01 (09.07.): Sightseeing in Marseilles. Oder: So weit die Füße tragen.
- Tag 02 (10.07.): Der mit der Kaffeemaschine tanzt. Oder sie mit ihm.
- Tag 03 (11.07.): Wer hoch läuft, muss noch höher laufen. Und dann noch höher.
- Tag 04 (12.07.): In der Ferne zirpen die Zikaden. Und in der Nähe. Und einfach überall.
- Tag 05 (13.07.): Ein Tag ohne Routinen. Fast wie im Urlaub.
- Tag 06 (14.07.): Liberté, égalité, fraternité! Oder: Ein Feuerwerk wie ein Drogenrausch
- Tag 07 (15.07.): Tage, an denen du vom Schwitzen schwitzt
- Tag 08 (16.07.): Morning has broken
- Tag 09 (17.07.): Ein Königreich für ein Wasser, Wasser, Wasser
- Tag 10 (18.07.): Je ne parle pas français. Really not.
- Tag 11 (19.07.): Was macht die Taube am Strand?
- Tag 12 (20.07.): Türlich, türlich!
- Tag 13 (21.07.): The boat that rocked
- Tag 14 (22.07.): Ein letztes Mal
- Heimreise (23.07.): Au revoir!
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Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Im September erscheint sein neues Buch “Papa braucht ein Fläschchen”. Ebenfalls mehr als zu empfehlen sind “Hilfe, ich werde Papa! Überlebenstipps für werdende Väter”, “Ein Vater greift zur Flasche. Sagenhaftes aus der Elternzeit” sowie “Wenn’s ein Junge wird, nennen wir ihn Judith”*. (*Affiliate-Links)