Teil 1
In der Stadt gibt es relativ wenige Shops von internationalen Marken oder Modeketten, sondern viele lokale und französische Geschäfte. Finde ich ganz gut, wenn Innenstädte nicht überall gleich aussehen. So einheitlich und genormt. Sonst müsste ich nicht nach Frankreich fahren, sondern könnte auch durch Wanne-Eickel, Bitterfeld oder Bromskirchen flanieren.
Bei einigen Geschäften kann ich nicht mit Sicherheit sagen, ob dort Parfüms und Seifen oder erlesene Pralinen und exquisites Gebäck verkauft werden. Oder beides. Hauptsache es schmeckt.
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Zum Abschluss und nicht zur uneingeschränkten Begeisterung des Sohns laufen wir zu einer weiteren Kirche, zur Cathédrale de la Major. Er verzichtet darauf, mit uns reinzugehen, sondern besichtigt in seinem Smartphone lieber die neuesten TikTok-Videos und Instagram-Storys.
Als wir die Kathedrale wieder verlassen, rutscht gerade eine ältere, leicht dickliche Italienerin am Ende der Treppe aus und sitzt nun auf ihrem Allerwertesten. Zum Glück ist ihr nichts Schlimmes passiert. Ihre größte Pein ist die Verwandtschaft, die in heller Aufregung, wild schnatternd um sie herumsteht und ihr aufhelfen will. Der Frau missfällt das um sie gemachte Aufheben und sie reagiert auf die Hilfsangebote recht unwirsch. Sie will in Ruhe gelassen werden und allein aufstehen. Vielleicht will sie auch in Ruhe gelassen werden und sitzen bleiben. Ist ja schließlich Urlaub.
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Gegen 16 Uhr fahren wir mit dem Regionalzug nach Cassis. Vom Bahnhof zu unserer Ferienwohnung ist es ein kleiner Fußmarsch. Aber nur gut 1.000 Meter. Also, alles im Rahmen des Machbaren. Selbst mit schwerem Rucksack und großen Koffern.
Dachten wir zumindest. Als meine Frau Google Maps für die Route konsultiert, wird die Entfernung plötzlich mit 2.500 Metern angegeben. Obwohl der Sohn im Laufe des Tages bereits tausende von Schritten durch Marseille gegangen ist und 2.500 Meter das monatliche Bewegungspensums eines Teenagers ist, hat er seine Gesichtszüge unter Kontrolle und nimmt die Nachricht regungslos entgegen. Oder bei den Worten „2.500 Meter“ ist irgendetwas in ihm gestorben und ihm fehlt der Lebenswillen, sein Gesicht zu verziehen.
Es stellt sich schnell heraus, dass nicht nur die zweieinhalb Kilometer Wegstrecke problematisch sind. Auch die Rahmenbedingungen sind alles andere als optimal. Es gibt größtenteils keine geteerten Bürgersteige und wir müssen unsere Koffer über staubige Stein- und Sandwege hinter uns herziehen. Um präzise zu sein, müssen meine Frau und der Sohn das tun. Ich dagegen trage unseren schweren Trekkingrucksack auf dem Rücken und einen weiteren vollgestopften kleineren Rucksack seitlich auf der Schulter. So wie sich meine Frau und der Sohn mit den Koffern abmühen, habe ich den Eindruck, trotzdem das bessere Los gezogen zu haben. In der Situation halte ich es aber nicht für hilfreich, ihnen dies mitzuteilen. Vor allem weil die beiden der Ansicht sind, dass ich mich am meisten abmühen muss.
Ab und an gibt es gar keinen Fußgängerweg, sondern nur einen kleinen abgesetzten Streifen an der Straße. Das hat den Vorteil, dass der Boden geteert ist, aber den Nachteil, dass die Autos recht nah an dir vorbeifahren.
Die Temperatur liegt bei über 30 Grad und es gibt nicht übermäßig viele Bäume, die Schatten spenden. Mit jedem Schritt werden die Koffer und Rucksäcke schwerer, die Rücken- und Armmuskulatur wird schwächer und die gute Laune und Urlaubsfreude machen sich irgendwo zwischen Kilometer 1 und 1,5 klammheimlich aus dem Staub.
Nach knapp 30 Minuten kommt es beinahe zu einem ehelichen Eklat. Meine Frau erklärt, die Tochter, die erst heute Abend nachkommt, könne diesen Weg unmöglich allein gehen. Am besten solle sie sich in Marseille ein Taxi nehmen. Nun ist Marseille mehr als 30 Kilometer von Cassis entfernt, was diesen Vorschlag in meinen Augen ein wenig abwegig erscheinen lässt. Dennoch möchte ich rückblickend zugeben, dass meine Reaktion nicht zu Unrecht als wenig konstruktiv und lösungsorientiert aufgefasst werden könnte.
„MIT DEM TAXI? VON MARSEILLE?“, frage ich. Die Lautstärke meiner Fragen entspricht nicht gänzlich den sozial akzeptierten Konversationsnormen. Dabei habe ich meine Gesichtszüge weit weniger gut unter Kontrolle als der Sohn eben am Bahnhof.
Meine Frau würdigt meine Fragen, die ohnehin mehr rhetorischer und noch mehr provokativer Natur waren, nicht mit einer Antwort. Sie erklärt, wir sollten schon mal vorgehen, sie benötige etwas Abstand. Und wahrscheinlich etwas Zeit, um zu recherchieren, was ein Taxi von Marseille nach Cassis kostet.
Nach fast 40 Minuten Fußmarsch finden wir den Ferienwohnungskomplex und nach weiteren fünf Minuten den Eingang zu unserem Appartement.
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Später schreibe ich der Tochter, sie solle sich am Bahnhof in Cassis ein Taxi nehmen. Ein schöner Kompromiss, wie ich finde. Friedensstiftend und geldsparend. Die Tochter fährt Taxi, aber keine 30 Kilometer. Falls sie keines mehr bekäme, solle sie mir Bescheid geben, schreibe ich weiter. Dann würde ich sie abholen und ihr mit dem Koffer helfen.
Als die Tochter die Nachricht liest, ist sie fast schon den kompletten Weg zur Ferienwohnung gelaufen und ich muss ihr nur noch knapp 200 Meter entgegengehen. Sie ist zwar etwas rot im Gesicht, aber dennoch frohgemut. Scheinbar hat sie unterwegs unsere gute Laune und Urlaubsfreude wiedergefunden und mitgebracht.
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Auch ausgedehnte Sightseeing-Spaziergänge, beschwerliche Wege vom Bahnhof und der Anflug von Zwietracht entbinden die Familie nicht, am ersten Urlaubstag das traditionelle Urlaubskniffel-Turnier zu starten. Der Sohn ist dieses Jahr Pokalverteidiger. Und wenn ich Pokal schreibe, meine ich auch Pokal. Im ersten Corona-Lockdown hatte ich in einem Anflug von Lagerkoller einen Champions-League-würdige Trophäe gekauft – nur von der Größe Champions-League-würdig, nicht vom Materialwert -, in deren Sockel seitdem die Gewinner*innen unserer Kniffel-Wettbewerbe graviert werden.
Neben der Verewigung auf dem Pokal geht es um ein Spaghetti-Eis aus der Waffel von der Eisdiele bei uns um die Ecke. Die Zweit- bis Viertplatzierten dürfen sich eine einzige Kugel Eis aussuchen. Das ist noch demütigender als gar kein Eis zu bekommen.
Der Sohn gewinnt das erste Spiel des Urlaubs, aber alle liegen noch nah beieinander. Da ist noch nichts passiert und alles offen.
Alle Beiträge des Cassis-Urlaubsblogs finden Sie hier.
- Vorbereitung 1 (06.07.): Was Sie noch nie über Cassis wissen wollten und deshalb nicht zu fragen wagten
- Vorbereitung 2 (07.07.): Auch Nicht-Nicht-Stammfriseurinnen können gut Haare schneiden
- Anreise (08.07.): Nur Amateure erreichen ihre Anschlusszüge sofort
- Tag 01 (09.07.): Sightseeing in Marseilles. Oder: So weit die Füße tragen.
- Tag 02 (10.07.): Der mit der Kaffeemaschine tanzt. Oder sie mit ihm.
- Tag 03 (11.07.): Wer hoch läuft, muss noch höher laufen. Und dann noch höher.
- Tag 04 (12.07.): In der Ferne zirpen die Zikaden. Und in der Nähe. Und einfach überall.
- Tag 05 (13.07.): Ein Tag ohne Routinen. Fast wie im Urlaub.
- Tag 06 (14.07.): Liberté, égalité, fraternité! Oder: Ein Feuerwerk wie ein Drogenrausch
- Tag 07 (15.07.): Tage, an denen du vom Schwitzen schwitzt
- Tag 08 (16.07.): Morning has broken
- Tag 09 (17.07.): Ein Königreich für ein Wasser, Wasser, Wasser
- Tag 10 (18.07.): Je ne parle pas français. Really not.
- Tag 11 (19.07.): Was macht die Taube am Strand?
- Tag 12 (20.07.): Türlich, türlich!
- Tag 13 (21.07.): The boat that rocked
- Tag 14 (22.07.): Ein letztes Mal
- Heimreise (23.07.): Au revoir!
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Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Im September erscheint sein neues Buch “Papa braucht ein Fläschchen”. Ebenfalls mehr als zu empfehlen sind “Hilfe, ich werde Papa! Überlebenstipps für werdende Väter”, “Ein Vater greift zur Flasche. Sagenhaftes aus der Elternzeit” sowie “Wenn’s ein Junge wird, nennen wir ihn Judith”*. (*Affiliate-Links)