Der alljährliche Urlaubsblog. Nicht live, aber dafür in Farbe und HD. Falls Sie, aus welchen Gründen auch immer, alle Beiträge des Cassis-Blogs lesen möchten, werden Sie hier fündig.
Ich öffne langsam die Augen und schaue aufs Handy. 7.45 Uhr. Für Mitte 40 ist das fast schon ausschlafen.
Draußen lärmen, schreien und ratschen die Zikaden fröhlich vor sich hin. Das werden sie ohne Unterbrechung den ganzen Tag bis zum Abend tun. Meine Güte, wie horny musst du sein, wenn du von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang rumblökst, wie geil du bist und dass du so richtig, richtig Bock auf Sex hast. Immer. Zu jeder Zeit. Dagegen kann das Sexualverhalten von Bonobos fast schon als zölibatär gelten.
Die Notgeilheit der Zikaden hat möglicherweise etwas mit ihrer Lebenserwartung zu tun. Sie werden nur ein paar Monate alt. Da willst du selbstverständlich sexmäßig alles rausholen, was es nur geht.
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Nach dem Kaffee-Balkon-Aussicht-genießen-Ritual steht die heutige Laufrunde an. Zwölf Kilometer. Ich erhöhe jeden Tag die Distanz ein wenig, weil ich mir davon erhoffe, dass mir dadurch das Laufen in der unwirtlichen Umgebung rund um Cassis mit der Zeit ein bisschen leichter fällt. Bisher hat sich dieser Effekt allerdings nicht eingestellt. Kein bisschen. Was wahrscheinlich daran liegt, dass meine Überlegungen überhaupt keinen Sinn ergeben.
Fünf Kilometer später, nachdem ich den teuflischen Berg hinter dem Bahnhof würdelos hochgetrippelt bin, erreiche ich wieder die Waldweg-Schranke. Ich schaue mir das Bild des entlaufenen Hundes, das dort aushängt, nochmal genauer an. Es handelt sich doch nicht um einen Rottweiler-Labrador-Mischling, sondern definitiv um einen reinrassigen Hund. Einen reinrassigen Pitbull. Schön, schön, schön. Hier im Wald läuft also wahrscheinlich ein Kampfhund mit der Frustrationstoleranz von Mike Tyson rum, der seit Tagen nichts gegessen hat. Schön, schön, schön.
Auf dem Foto macht der Hund einen recht friedlichen und zutraulichen Eindruck. Wobei ich für einen Vermissten-Aushang auch kein Bild ausgewählt hätte, auf dem mein cholerischer Hund gerade eine Kuh reißt.
Die scheinbare Friedfertigkeit des Hundes wird dadurch hervorgerufen, dass er ein rotes Halstuch trägt. Während meines Zivildiensts hatte ich einen homosexuellen Kollegen, der mir erklärte, dass es in der Schwulen-Szene einen Halstuch-Farb-Code gäbe. Rot stand für Kuscheln. Ich möchte allerdings ungern mit einem Pitbull kuscheln.
Wenigstens ist sein Halstuch nicht schwarz. Das war der Code für SM-Praktiken. (Auf die anderen Farben möchte ich hier nicht näher eingehen, denn die signalisierten Interessen für teilweise sehr spezielle sexuelle Vorlieben und das ist hier ja immer noch ein Familien-Blog.)
Sofern ich den Text auf dem Zettel richtig verstehe, heißt der Hund Michel. Oder sein Herrchen heißt Michel. Oder Michel ist eine mir unbekannte französische Vokabel, die frei übersetzt ungefähr so viel heißt wie: „Auf keinen Fall annähern. Der Hund ist beißwütig und schlecht gelaunt. Immer.“
Ich laufe trotzdem durch den Wald, von Michel ist aber weit und breit nichts zu sehen. Zum Glück. Wobei das natürlich eine spektakuläre Story für den Blog wäre. Die ich aber erst in fünf Monaten aufschreiben könnte, nachdem mir mein Arm wieder angenäht wurde.
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In der Bäckerei steht eine ältere Dame vor mir. Sie merkt nicht, dass sie an der Reihe ist. Auch nicht nach zweimaliger Aufforderung der älteren Verkäuferin, die zunehmend ungeduldiger wird.
Ich berühre die Dame dezent an der Schulter, sage: „Madame“ und mache eine einladende Handbewegung. Mit meinem butlerhaften Gestus möchte ich meine limitierten französischen Konversationsfähigkeiten verschleiern.
Das gelingt mir ganz hervorragend. Die Dame reagiert mit einem Redeschwall, von dem ich kein Wort verstehe. Ihren Tonfall interpretiere ich als entschuldigend. Daher nicke ich huldvoll und sage „Pas des problem, Madame.“ Ein Satz, den ich mir nicht in der neunten Klasse bei meinen kläglichen Versuchen, die französische Sprache zu erlernen, gemerkt habe, sondern in irgendeiner Fernsehwerbung aufgeschnappt habe, und der, wie ich finde, universell in jeder Situation anwendbar ist.
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Meine Frau und ich befinden uns auf dem steilen Rückweg zu unserer Ferienwohnung. Wir schwitzen. Ein Satz mit so viel Informationsgehalt wie „Wasser ist nass.“, „Bayern München wird diese Saison deutscher Meister.“ oder „Roher Sellerie ist ein kulinarisches Verbrechen gegen die Menschlichkeit.“ Das weiß man alles, das muss einem niemand erklären.
Die Temperaturen liegen seit unserer Ankunft im Schnitt bei 30 Grad aufwärts, die Luftfeuchtigkeit bei über 90 Prozent. Es fühlt sich aber wie 115 Grad und 270 Prozent an. Da schwitzt du andauernd. Immer. Pausenlos. Von morgens bis abends. Länger als die Zikaden zirpen.
Du gehst joggen: du bist durchgeschwitzt. (Obviously!)
Du gehst runter zum Bäcker: durchgeschwitzt.
Du gehst zurück zur Ferienwohnung: durchgeschwitzt.
Du frühstückst: durchgeschwitzt.
Du gehst zum Supermarkt und trägst die Einkäufe nach Hause: durchgeschwitzt.
Du gehst runter zum Strand: durchgeschwitzt.
Du liegst am Strand: durchgeschwitzt.
Du gehst nach Hause: durchgeschwitzt.
Du läufst einmal durch die Wohnung: durchgeschwitzt.
Du trinkst Kaffee und isst Melone und Brioches: durchgeschwitzt.
Du hängst auf dem Balkon ab: durchgeschwitzt.
Du kochst: durchgeschwitzt.
Du isst zu Abend: durchgeschwitzt.
Du räumst den Tisch ab und die Spülmaschine ein: durchgeschwitzt.
Du spielst Kniffel: durchgeschwitzt.
Du schreibst 98-mal das Wort „durchgeschwitzt“: durchgeschwitzt.
Bei der ganzen Schwitzerei könntest du ungefähr 138-mal am Tag duschen. Das würde aber nicht helfen, denn:
Du trocknest dich ab: durchgeschwitzt.
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Um sich unterwegs zu erfrischen, wäre es perfekt, eine portable Dusche dabei zu haben. Einen Wasserkanister, den du dir auf den Rücken schnallst und an dem eine Brause-Konstruktion befestigt ist, die über deinem Kopf hängt. Das sieht komisch aus, aber immer wenn dir danach ist, kannst du dich abduschen.
Das Wasser müsste natürlich gekühlt sein. Sonst ist die Erfrischung nur semi-erfrischend. Der dafür nötige Kompressor könnte durch Solarpaneele mit Strom versorgt werden. Dann ist die Dusche-to-go schön umweltfreundlich.
Ein bisschen schwer könnte das Ganze sein. Da schwitzt du noch mehr, wenn du das mit dir rumschleppst. Dafür wäre ein persönlicher Assistent perfekt. Jemand läuft mit dem Kanister auf dem Rücken neben dir her und wenn du eine Abkühlung wünschst, dreht er den Brausekopf zu dir und duscht dich ab.
Was für eine spitzenmäßige Geschäftsidee. Zumindest wenn du bei 135 Grad und 310 Prozent Luftfeuchtigkeit einen 63.000 Kilometer langen Berg mit 45 Prozent Steigung hochläufst und dabei anderthalb Liter Schweiß pro Minute transpirierst.
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Alle Beiträge des Cassis-Urlaubsblogs finden Sie hier.
- Vorbereitung 1 (06.07.): Was Sie noch nie über Cassis wissen wollten und deshalb nicht zu fragen wagten
- Vorbereitung 2 (07.07.): Auch Nicht-Nicht-Stammfriseurinnen können gut Haare schneiden
- Anreise (08.07.): Nur Amateure erreichen ihre Anschlusszüge sofort
- Tag 01 (09.07.): Sightseeing in Marseilles. Oder: So weit die Füße tragen.
- Tag 02 (10.07.): Der mit der Kaffeemaschine tanzt. Oder sie mit ihm.
- Tag 03 (11.07.): Wer hoch läuft, muss noch höher laufen. Und dann noch höher.
- Tag 04 (12.07.): In der Ferne zirpen die Zikaden. Und in der Nähe. Und einfach überall.
- Tag 05 (13.07.): Ein Tag ohne Routinen. Fast wie im Urlaub.
- Tag 06 (14.07.): Liberté, égalité, fraternité! Oder: Ein Feuerwerk wie ein Drogenrausch
- Tag 07 (15.07.): Tage, an denen du vom Schwitzen schwitzt
- Tag 08 (16.07.): Morning has broken
- Tag 09 (17.07.): Ein Königreich für ein Wasser, Wasser, Wasser
- Tag 10 (18.07.): Je ne parle pas français. Really not.
- Tag 11 (19.07.): Was macht die Taube am Strand?
- Tag 12 (20.07.): Türlich, türlich!
- Tag 13 (21.07.): The boat that rocked
- Tag 14 (22.07.): Ein letztes Mal
- Heimreise (23.07.): Au revoir!
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Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Im September erscheint sein neues Buch “Papa braucht ein Fläschchen”. Ebenfalls mehr als zu empfehlen sind “Hilfe, ich werde Papa! Überlebenstipps für werdende Väter”, “Ein Vater greift zur Flasche. Sagenhaftes aus der Elternzeit” sowie “Wenn’s ein Junge wird, nennen wir ihn Judith”*. (*Affiliate-Links)
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