Ein weiterer Supermarktbesuch steht an. In früheren Urlauben in der Bretagne sowie bei Besuchen von Freunden in der Nähe von Toulouse haben wir französische Supermärkte kennen und schätzen gelernt. Die waren alle riesig. So groß wie 38 Fußballfelder. Oder wie ein Saarland. Die Obst- und Gemüseabteilungen waren dort so riesig, dass es mehrere Tagesreisen brauchte, um sie zu durchqueren. Das weitere Lebensmittelsortiment erstreckte sich über kilometerlange Regalreihen, zusätzlich gab es überbordende Frischetheken mit Käse, Fleisch- und Wurstwaren sowie Meeresbewohnern und einen monströsen Wassertank mit lebenden Fischen, Krebsen und Hummern. Das war ein bisschen gruselig, aber auch praktisch. Vor dem Wassergetier konnten wir die Kinder parken und in Ruhe einkaufen.
Falls Sie sich fragen, ob das nicht kindswohlgefährdend war, die Kinder da alleine zu lassen, kann ich sie beruhigen. Ganz im Gegenteil war das sogar pädagogisch besonders wertvoll. In der Stadt haben Kinder nur begrenzten Kontakt zu Tieren. Abgesehen von Hunden, Tauben und der ein oder anderen Ratte. Da ist es ganz schön, wenn sie Tiere live und in Farbe sehen können.
Allerdings sind wir unserem tierweltlichen Bildungsauftrag nicht vollumfänglich nachgekommen. Dass die Fische und Schalentiere aus dem Aquarium getötet und gegessen werden, haben wir den Kindern verschwiegen. (Die Generation Bärchenwurst isst zwar Wurst mit Tiergesichtern, ist aber ansonsten etwas sensibel, was den Verzehr von Tieren angeht.)
In Cassis gibt es drei Supermärkte. Zumindest laut Google Maps. Vielleicht gibt es noch weitere, die tauchen bei Google Maps aber nicht auf. Und was nicht bei Google Maps auftaucht, ist heutzutage quasi nicht existent.
Von diesen Supermärkten hat keiner Saarland-Ausmaße. Zwei sind sogar ziemlich klein. Etwas bessere Tante-Emma-Läden. Der Supermarkt, zu dem wir immer gehen, hat zumindest die Fläche eines Fußballfeldes. Oder eines Achtunddreißigstel Saarland. Damit ist er ungefähr so groß wie der Rewe-City-Markt bei uns in Moabit. Aber deutlich weniger abgeranzt. Außerdem liegt er etwas näher zu unserer Ferienwohnung als die beiden anderen Märkte. Das hat ihn endgültig zum Einkaufsort unserer Wahl qualifiziert.
Der Erlebnisfaktor des Einkaufs ist in dem Fußballfeld-Markt natürlich nicht ganz so groß wie in den Mega-Märkten in der Bretagne oder Toulouse. Es gibt keine ausufernden Käse- oder Fleisch/Wurst-Frischetheken und schon gar keine Becken mit Aqua-Live-Show. Aber das macht nichts. Mit 15 und 18 sind die Kinder dem Quengelalter entwachsen und wir müssen sie nicht mehr während eines 45-minütigen Einkaufs mit lebenden Fischen, Krebsen und Hummern bei Laune halten. (Zur Not schicken wir sie einfach zu den Regalen mit den Süßigkeiten und Keksen.)
Trotz der überschaubaren Größe des Supermarkts entdecke ich einige Produkte, die es so nicht in deutschen Geschäften gibt. Zum Beispiel wahnsinnig viele Sorten Bonne-Maman-Marmeladen, -Konfitüren und -Gelees. Mein „Französisch“ reicht allerdings in den meisten Fällen nicht aus, um auf den Etiketten zu identifizieren, welches Obst da verarbeitet wurde. Und mein Entdeckungsdrang ist nicht groß genug, um meine LEO-App für die Übersetzung zu konsultieren. Schließlich bin ich im Urlaub und nicht im Erwachsenenbildung-Kurs „Französisch für Fortgeschrittene“.
Prinzipiell lassen sich die verschiedenen Marmeladen wie in Deutschland in die Kategorien „Rot” („Rouge“) und „Orange” („Orange”) einsortieren. Außer einem Glas, dessen Inhalt eine gräulich-grüne Färbung aufweist. Ich tippe auf Rhabarber-Konfitüre. Oder stark verschimmelte Aprikosenmarmelade.
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Während des Abendessens regt meine Frau an, in den nächsten Tagen etwas zu unternehmen. Wir hätten eine Woche lang am Strand abgehangen, da könnten wir uns jetzt mal etwas anschauen. Der Rest der Familie reagiert nicht gerade mit überschäumendem Enthusiasmus. Beim Sohn erkenne ich einen Anflug von leichter Panik im Gesicht.
Meine Frau, die ihre Familie seit vielen Jahren kennt, hat mit dieser Reaktion gerechnet und ein paar Optionen aus unserem Reiseführer vorbereitet. Wir könnten zum Beispiel nach La Ciotat fahren, das sei nur zehn Minuten mit dem Zug entfernt, erklärt sie. Dort gäbe es das erste Kino der Welt. Der Gesichtsausdruck der Kinder deutet darauf hin, dass meine Frau noch ein wenig an ihrem Sales Pitch für La Ciotat arbeiten muss.
Bandol wäre auch eine Möglichkeit, fährt sie mit ungebremstem Eifer fort. Das wären auch nur 20 Minuten mit dem Zug und da gäbe es eine schöne Altstadt. Die Mimik der Kinder ist ein einziges „Warum? Wir haben nichts angestellt!“
Ich finde, das hört sich gar nicht schlecht an. Allerdings muss ich eingestehen, dass Altstädte interessant zu finden, ein untrügliches Zeichen ist, dass du alt wirst. Beim Besichtigen einer Altstadt überanstrengst du dich körperlich nicht und bekommst auch nicht vor Aufregung Herzrasen. Außerdem wirkst du beim Flanieren durch kopfsteingepflasterte Gassen neben den hunderte Jahre alten, schiefen und krummen Häusern wie ein vitaler Jungspund. („Besuch der Altstadt von Bandol“ ist bestimmt ein beliebter Programmpunkt auf dem jährlichen Sommerausflug der Seniorenresidenz „Meerblick“.)
Meine Frau hat ihre „Lasst uns was unternehmen“-Munition noch nicht verschossen. „Wir könnten eine Bootstour durch die Calanque machen“, schlägt sie mit irritierender Fröhlichkeit vor. „Da gibt es wunderschöne Badebuchten und Strände zu sehen.“ Ein Argument, das auf tönernen Füßen steht. Badebuchten und Strände möchtest du nicht anschauen, sondern du möchtest dort baden. Du geht ja auch nicht Kaffee trinken und guckst dir Bilder von Torten und Kaffeespezialitäten an.
„Oder wir wandern durch die Calanque und baden an einem der Strände“, fährt meine fort. Das hört sich schon besser an. Abgesehen vom Wandern. „Das sind nur fünf Kilometer hin und fünf Kilometer zurück.“ Die geweiteten Augen der Kinder signalisieren, dass sie eine andere Auffassung als ihre Mutter haben, was die angemessen Verwendung des Wörtchens „nur“ im Zusammenhang mit Entfernungsangaben angeht.
Die Tochter schüttelt den Kopf. „Was ist denn los mit euch?“, mault sie. „Früher sind wir einfach vierzehn Tage an den Strand gegangen und da wolltet ihr nie Action machen. Wir sind doch keine Hyperaktive.“
Vielleicht vertagen wir das Thema Unternehmungen auf einen anderen Tag. Auf nach dem Urlaub oder so.
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Der Sohn unternimmt mit einer 317er-Runde einen Angriff auf die Kniffel-Gesamtwertung, bleibt aber vorerst auf dem dritten Platz. Ich habe einen Vorsprung von knapp 170 Punkten auf meine Frau. Bei noch sechs ausstehenden Runden scheint es mir dennoch ein bisschen früh zu sein, um T-Shirts mit der Aufschrift „Cassis Kniffel-Cup-Sieger 2022“ drucken zu lassen.
Alle Beiträge des Cassis-Urlaubsblogs finden Sie hier.
- Vorbereitung 1 (06.07.): Was Sie noch nie über Cassis wissen wollten und deshalb nicht zu fragen wagten
- Vorbereitung 2 (07.07.): Auch Nicht-Nicht-Stammfriseurinnen können gut Haare schneiden
- Anreise (08.07.): Nur Amateure erreichen ihre Anschlusszüge sofort
- Tag 01 (09.07.): Sightseeing in Marseilles. Oder: So weit die Füße tragen.
- Tag 02 (10.07.): Der mit der Kaffeemaschine tanzt. Oder sie mit ihm.
- Tag 03 (11.07.): Wer hoch läuft, muss noch höher laufen. Und dann noch höher.
- Tag 04 (12.07.): In der Ferne zirpen die Zikaden. Und in der Nähe. Und einfach überall.
- Tag 05 (13.07.): Ein Tag ohne Routinen. Fast wie im Urlaub.
- Tag 06 (14.07.): Liberté, égalité, fraternité! Oder: Ein Feuerwerk wie ein Drogenrausch
- Tag 07 (15.07.): Tage, an denen du vom Schwitzen schwitzt
- Tag 08 (16.07.): Morning has broken
- Tag 09 (17.07.): Ein Königreich für ein Wasser, Wasser, Wasser
- Tag 10 (18.07.): Je ne parle pas français. Really not.
- Tag 11 (19.07.): Was macht die Taube am Strand?
- Tag 12 (20.07.): Türlich, türlich!
- Tag 13 (21.07.): The boat that rocked
- Tag 14 (22.07.): Ein letztes Mal
- Heimreise (23.07.): Au revoir!
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Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Im September erscheint sein neues Buch “Papa braucht ein Fläschchen”. Ebenfalls mehr als zu empfehlen sind “Hilfe, ich werde Papa! Überlebenstipps für werdende Väter”, “Ein Vater greift zur Flasche. Sagenhaftes aus der Elternzeit” sowie “Wenn’s ein Junge wird, nennen wir ihn Judith”*. (*Affiliate-Links)
Ähm, Moment..
Ich fand Altstädte schon als Kind interessant. Was macht das jetzt aus mir?
Mit interessierten Grüßen gesendet,
Das kann ich gut verstehen. Als Kind habe ich mir in Altstädten immer vorgestellt, im Mittelalter zu sein. Nicht wissend, dass damals gerne mal die Notdurft aus dem Fenster verrichtet wurde.