Der alljährliche Urlaubsblog. Nicht live, aber dafür in Farbe und HD. Falls Sie, aus welchen Gründen auch immer, alle Beiträge des Cassis-Blogs lesen möchten, werden Sie hier fündig.
„Wer in Paris war und nicht in Cassis, der hat noch nichts gesehen.“
Eine ziemlich steile These, die der französische Schriftsteller Frederic Mistral seinem Protagonisten Calendal in den Mund gelegt hat.
Das hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass Monsieur Mistral selbst in Cassis lebte, einem kleinen ehemaligem Fischerdorf in der Provence, das in einer Bucht der Calanque-Küste ungefähr 30 Kilometer von Marseille liegt. Außerdem setzte er sich für die Unabhängigkeit der Provence ein. Da bist du mit herabwürdigenden Statements über Paris schon mal schnell zur Hand. Allerdings erhielt Frederic Mistral Anfang des 20. Jahrhunderts den Nobelpreis für Literatur, was seinem Urteil doch wieder etwas Gewicht verleiht.
(Bitte Fragen Sie mich nichts zum Leben und Schaffen von Frederic Mistral oder seinen Romanhelden Calendal: Ich schreibe hier schließlich auch nur Sachen aus dem Internet ab.)
In Cassis werden wir unseren Sommerurlaub verbringen. Das hat aber nichts mit den touristischen Ratschlägen Frederic Mistrals zu tun. Als wir uns im trüben und regnerischen Herbst des letzten Jahres Gedanken über unser nächstes Urlaubsziel machten, erschien uns Südfrankreich eine gute Wahl zu sein. Weil wir gutes Wetter und Sonne satt für relevante Entscheidungskriterien hielten.
Da wussten wir noch nicht, dass die Durchschnittstemperaturen in Deutschland im Juli irgendwo zwischen Hochleistungs-Hochofen und glühendem Lavastrom liegen wird und es vielleicht klüger wäre, im Sommer in Island oder Nordschweden Urlaub zu machen, um sich ein wenig abzukühlen.
Wir entschieden uns aber nicht nur aus meteorologischen Gründen für Südfrankreich, sondern auch weil wir noch nie dort waren. Im Urlaub ist es ja schön, etwas Neues zu sehen. Von wegen neue Erfahrungen machen, seinen Horizont erweitern, über den Tellerrand blicken und so weiter. (Mit Mitte, Ende 40 bekommt das Thema lebenslanges Lernen ja auch eine immer größere Bedeutung.)
Gut, wir waren auch noch nie in Wanne-Eickel, Bitterfeld oder Bromskirchen. Da könnten wir auch etwas Neues sehen, neue Erfahrungen machen, unseren Horizont erweitern und über den Tellerrand blicken. Trotzdem versprechen wir uns von einem Strandurlaub am Mittelmeer einen leicht höheren Erholungsfaktor.
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Zwei Tage vor Urlaubsbeginn ist es an der Zeit, dass ich mich etwas genauer mit Cassis beschäftige. Zunächst schaue ich mir die Website des örtlichen Tourismusbüros an. Zugegebenermaßen nicht die objektivste Informationsquelle, aber irgendwie doch besser als fünf Jahre alte Blog-Posts von bekifften Rucksack-Travellern mit ein paar unscharfen, unterbelichteten Schnappschüssen.
Auf der Seite startet automatisch ein Image-Video. Entweder ist Cassis tatsächlich unfassbar schön oder das Tourismusbüro hat ordentlich Geld für eine exzellente Produktionsfirma und einen oscarprämierten Kameramann ausgegeben.
Der Film beginnt mit einem Drohnenflug über den malerischen Ort, daran knüpft ein Panoramablick auf den pittoresken Hafen an, eine Meeresbucht mit einer imposanten Klippe wird gekonnt in Szene gesetzt und schließlich kommt noch ein Blick auf einen großflächigen Weinberg, wahrscheinlich um urlaubswillige Weinliebhaber*innen nach Cassis zu locken. Zwischendurch ist eine Gruppe attraktiver, junger Menschen an einem Tisch zu sehen, die gut gelaunt zu Abend essen. Für meinen Geschmack sind sie etwas zu attraktiv, ein bisschen zu jung und einen Tick zu gut gelaunt. Mit ein paar semi-attraktiven, nicht mehr ganz jungen und mittel-gut gelaunten Menschen könnte ich mich mehr identifizieren.
Ich setze meine Recherche fort. Und mit Recherche meine ich, ich schaue mir den Wikipedia-Eintrag zu Cassis an. Cassis ist ein altes Fischerdorf mit knapp 7.000 Einwohner*innen. Besondere historische Ereignisse, die in dem Wikipedia-Beitrag Berücksichtigung finden, sind die Pestepidemie von 1720 sowie eine Übernachtung von Napoleon I. im Februar 1794. (Geschichtsbewanderte Menschen – und alle, die bei Google „Napoleon I.“ eingeben können – wissen selbstverständlich, dass Napoleon I. damals noch gar nicht Napoleon I., sondern General Bonaparte war.)
Die Fischerei spielt heute in Cassis keine Rolle mehr. Im Gegensatz zum Tourismus, der die Haupteinnahmequelle des Ortes ist. Muss er auch sein, den ansonsten sieht es in Cassis wirtschaftlich recht mau aus. Zwischen dem 12. und 19. Jahrhundert wurde in Cassis noch in nennenswertem Umfang Wein angebaut. Dann kam die große Reblauskatastrophe, was sich fast so furchtbar wie Pestepidemie anhört, und vorbei war es mit der Winzerei. Erst seit Mitte des 20. Jahrhunderts gibt es in und um Cassis wieder Weinanbau in größerem Umfang. Zumindest genug für stimmungsvolle Drohnenaufnahmen in Image-Filmen.
Früher war Cassis eine große Nummer im Kalkstein-Business. Der wurde bereits seit der Antike abgebaut und dann beispielsweise in Marseille verbaut. Irgendwann fanden die Marseiller*innen anscheinend, dass es jetzt auch mal gut mit dem ganzen Kalkstein ist, so dass die letzten Steinbrüche in Cassis in den 1980ern geschlossen wurden. Laut dem Wikipedia-Eintrag gibt es quasi keine Industriebetriebe mehr im Ort, seit 2006 eine Tresorfabrik nach Osteuropa verlagert wurde.
Wenn dein letzter industrieller Betrieb eine Tresorproduktion ist, weißt du, dass du ein wirtschaftliches Problem hast. Da musst du darauf hoffen, dass dein Ort und die umgebende Landschaft schön genug ist, damit zahlungskräftige Tourist*innen ihren Urlaub bei dir verbringen wollen. Oder du bezahlst eine exzellente Produktionsfirma und einen oscarprämierten Kameramann, um leichtgläubige Reisende von der Attraktivität deines Ortes zu überzeugen.
Auf einer anderen Seite lerne ich, dass Cassis nichts mit dem gleichnamigen Johannisbeer-Likör zu tun hat. Aber rein gar nichts. Es gibt noch nicht einmal besonders viele Johannisbeeren in der Gegend. Dennoch wird besagter Likör häufig vor Ort angeboten, weil ahnungslose, uninformierte Touristen regelmäßig danach fragen. Ob das ein besonderer dienstleistungsorientierter Service für Urlaubende ist oder doch eher eine Abzocke ignoranter Touris, mit der sich mal Nepper, Schlepper, Bauernfänger beschäftigen sollte, vermag ich nicht zu beurteilen.
(Der Ort und der Likör unterscheiden sich übrigens auch phonetisch. Bei ersterem bleibt das s stumm. Also, nur das letzte s. Der Ort wird Cassi ausgesprochen. Nicht Cai.)
Zu den Sehenswürdigkeiten in Cassis zählen unter anderem ein Schloss, das zu Luxus-Ferienwohnungen ausgebaut ist und nicht besichtigt werden kann, der Hafen, ein Gemeindebackofen, das aus dem 16. Jahrhundert stammende Rathaus mit einer großen Treppe, einem Ehrensaal sowie den Resten einer mittelalterlichen Küche, und noch ein paar anderen alte Gebäude. Alles in allem habe ich nicht den Eindruck, dass unser Urlaub in Cassis wegen eines Übermaßes an Sightseeing- und Actionangeboten in Stress ausarten wird. Perfekt!
Alle Beiträge des Cassis-Urlaubsblogs finden Sie hier.
- Vorbereitung 1 (06.07.): Was Sie noch nie über Cassis wissen wollten und deshalb nicht zu fragen wagten
- Vorbereitung 2 (07.07.): Auch Nicht-Nicht-Stammfriseurinnen können gut Haare schneiden
- Anreise (08.07.): Nur Amateure erreichen ihre Anschlusszüge sofort
- Tag 01 (09.07.): Sightseeing in Marseilles. Oder: So weit die Füße tragen.
- Tag 02 (10.07.): Der mit der Kaffeemaschine tanzt. Oder sie mit ihm.
- Tag 03 (11.07.): Wer hoch läuft, muss noch höher laufen. Und dann noch höher.
- Tag 04 (12.07.): In der Ferne zirpen die Zikaden. Und in der Nähe. Und einfach überall.
- Tag 05 (13.07.): Ein Tag ohne Routinen. Fast wie im Urlaub.
- Tag 06 (14.07.): Liberté, égalité, fraternité! Oder: Ein Feuerwerk wie ein Drogenrausch
- Tag 07 (15.07.): Tage, an denen du vom Schwitzen schwitzt
- Tag 08 (16.07.): Morning has broken
- Tag 09 (17.07.): Ein Königreich für ein Wasser, Wasser, Wasser
- Tag 10 (18.07.): Je ne parle pas français. Really not.
- Tag 11 (19.07.): Was macht die Taube am Strand?
- Tag 12 (20.07.): Türlich, türlich!
- Tag 13 (21.07.): The boat that rocked
- Tag 14 (22.07.): Ein letztes Mal
- Heimreise (23.07.): Au revoir!
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Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Im September erscheint sein neues Buch “Papa braucht ein Fläschchen”. Ebenfalls mehr als zu empfehlen sind “Hilfe, ich werde Papa! Überlebenstipps für werdende Väter”, “Ein Vater greift zur Flasche. Sagenhaftes aus der Elternzeit” sowie “Wenn’s ein Junge wird, nennen wir ihn Judith”*. (*Affiliate-Links)