Beobachtungen aus dem Krankenhaus (Tag 3): Her heart will go on (3/3)

Tag 3 (1/3)
Tag 3 (2/3)


Als ich aus der Mittagspause zurückkehre, ist meine Frau wach. Ich frage, wie es ihr geht. „Gut“, erwidert sie. Das ist wahrscheinlich eine recht euphemistische Aussage, aber ihre Stimme klingt auf jeden Fall schon etwas besser. Nicht mehr wie eine Hardcore-Rot-Händle-Raucherin, sondern wie eine Mischung aus Bonnie Tyler und Joe Cocker.

Sie erzählt mir, dass vorhin ihr Blasenkatheter gezogen wurde. Ein weiterer kleiner Schritt auf dem Weg der Genesung. Nicht in einen Beutel, der am Bett hängt, pinkeln zu müssen, gibt einem ein wenig Würde zurück. Allerdings wird meiner Frau jetzt immer, wenn sie auf Toilette muss, eine Bettpfanne untergeschoben. Da verabschiedet sich die Würde dann wieder ganz schnell.

Eine Schwester bringt meiner Frau eine Wasserflasche mit Strohhalm. Sie solle viel trinken. Meine Aufgabe ist es, ihr die Flasche zu halten und den Strohhalm an den Mund zu führen. Mein Job-Profil, das bisher aus Am-Bett-Sitzen und Händchenhalten bestand, wurde um den Punkt Flasche-Anreichen ergänzt. Ich wurde quasi befördert.

Vom Unterhalten und Trinken erschöpft, schläft meine Frau wieder ein. Wie sie so da liegt, hat sie etwas leicht schneewitchenhaftes. Mit ihrer blassen Haut und den schwarzen Haaren. Also, nicht ganz ebenholzschwarz, aber ziemlich dunkel. Zumindest an den Stellen, wo es nicht grau ist. Aber darauf möchte ich hier nicht weiter eingehen. Das würde von mangelndem Taktgefühl zeugen, wo sie doch so eine schwere OP hinter sich hat. Da ist es nicht nötig, sich in irrelevanten Detailinformationen zu ergehen. Zum Beispiel, dass sie sich regelmäßig die Haare färbt. Beziehungsweise renatured, weil das dann viel „natürlicher“ aussieht. *zwinker, zwinker*

Aber genug davon. Haar-Renaturing hin oder her, meine Frau liegt wie Schneewittchen im Bett. Ich vervollständige die märchenhafte Szenerie. Allerdings nicht als edler Prinz, sondern so bucklig wie ich auf meinem Hocker sitze, als einer der sieben Zwerge.


Als meine Frau aufwacht, klagt sie über Übelkeit. Das kommt wohl von den ganzen Medikamenten, die hektoliterweise in sie reingepumpt werden. In dem Moment erscheint die Stationsassistentin und drückt mir einen Stapel Papiere in die Hand. Dies sei das Essensangebot für die nächste Woche und ich könnte das ja mal gemeinsam mit meiner Frau ausfüllen. Dann bekäme sie in den nächsten Tagen etwas, was sie gerne isst. Meine Frau übergibt sich erstmal. Ich deute das als dezenten Hinweis, dass sie gerade kein Interesse an der Essensauswahl für die nächsten Tage hat und ich mich darum kümmern soll.

Essen auswählen hört sich eigentlich gut an, ist bei dem Krankenhaus-Angebot allerdings eine ziemliche Herausforderung. Alleine die Brotauswahl für das Frühstück ist schier grenzenlos. Weizenbrötchen, Mehrkornbrötchen, Sonnenblumenkernbrötchen, Schwarzbrot, Vollkornbrot, Weizenbrot, Toastbrot, Knäckebrot. Dazu muss zwischen diversen Wurst- und Käseaufschnitten sowie unterschiedlichen Marmeladensorten und zwischen Butter, Margarine oder Frischkäse als Aufstrich gewählt werden.

Ich war mal auf einer Dienstreise in einem Moskauer Luxushotel, in dem sich das exklusive Frühstücksbuffet über eine Länge von 50 Metern erstreckte. Das Angebot dort war nur geringfügig umfangreicher als in diesem Krankenhausbogen.

Die Auswahl des Mittag- und des Abendessen gestaltet sich ebenfalls schwierig. Wenn du mit akuter post-operativer Übelkeit zu kämpfen hast, willst du nicht darüber nachdenken, ob du in drei Tagen lieber Erbseneintopf, Szegediner Gulasch oder Fenchel-Kohlrabi-Auflauf essen möchtest. (Eine Entscheidung, die mich sogar mit vollkommen gesundem Magen überfordern würde.) Ich kreuze einfach mit geschlossenen Augen irgendein Gericht an und wiederhole das für die nächsten Tage. Ich muss es ja nicht essen.

Kurz vor Ende der Besuchszeit mime ich den ex-Zivi und helfe meiner Frau beim Zähneputzen. Um präzise zu sein, putze ich die Zähne, ihre Aufgabe besteht darin, die selbigen zu fletschen. Ich verstehe das als kleine Vorleistung meinerseits. Wenn ich in 30 oder 40 Jahren – falls es extrem gut läuft in 50 – tattrig und bettlägerig bin, wird sie sicherlich das Gleiche für mich tun.


Auf dem Weg ins Hotel rufe ich die Kinder an. Der Sohn ist dran. Er hat seine Lateinarbeit zurück. Sie wissen schon, die, bei der er das beste Gefühl seit zwei Jahren hatte. Es ist eine 3. Er ist trotzdem sehr zufrieden. Schließlich sei es keine 4 oder 5, sondern ein Befriedigend. Das klänge ja schon fast wie zufrieden. Der Sohn ist definitiv der optimistische Glas-halb-voll-Typ. Ich verzichte auf die Frage, was mit diesem besten Gefühl seit zwei Jahren gewesen sei. Wenn du vor ein paar Stunden deiner Frau eine Nierenschale gehalten hast, in die sie sich schwallartig übergeben hat, ist es dir ziemlich wumpe, ob dein Sohn ein paar lateinische Sätze richtig oder falsch übersetzt hat.

Anschließend berichte ich noch bei der Schwiegermutter, meinen Eltern und den Geschwistern von den heutigen Fortschritten. Das mit dem schwallartigen Übergeben behalte ich für mich. Sie wissen ja: Als Propagandaminister muss ich für gute Stimmung sorgen.


In meiner Hotel-Box lege ich mich ins Bett und schlafe ziemlich schnell ein. Im Traum bin ich wieder Patient auf der Intensiv-Station. Vor dem Bett steht eine Reihe von Ärzten, die alle unterschiedlich farbige Stationskleidung tragen. Aus tapetenrollenlangen Listen fragen sie mich ab, was ich gerne essen möchte. Im Hintergrund piepsen die Infusionspumpen eine Techno-Version von „Es ist noch Suppe da!“ Ich sitze derweil auf einer Bettpfanne.

Mit diesem verstörenden Bild lasse ich Sie alleine.

Gute Nacht!


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Beobachtungen aus dem Krankenhaus (Tag 3): Her heart will go on (2/3)

Tag 3 (1/3)


Meine Frau sieht immer noch sehr erschöpft aus. Wenigstens steckt der Beatmungsschlauch nicht mehr in ihrem Mund. Ein erster Fortschritt. Allerdings sind ihre Stimmbänder von dem Schlauch ein wenig in Mitleidenschaft gezogen. Beim Reden krächzt sie, als hätte sie schon im Grundschul-Alter angefangen, täglich eine Schachtel Rot-Händle-ohne-Filter wegzuquarzen.

In ihrem Zimmer gibt es drei weitere Patienten. Meine Frau mit eingerechnet liegt das Durchschnittsalter bei ungefähr elf Jahren. Die anderen Betten sind allesamt mit Babys und Säuglingen belegt. Wegen des angeborenen Herzfehlers liegt meine Frau auch hier auf Intensiv auf der Kinderstation.

Was die kleinen Würmchen genau haben, weiß ich nicht. Ich möchte es auch gar nicht wissen. Es wird sich um irgendwelche schaurigen Herz- und Hirn-Geschichten handeln. Darauf ist die Intensivstation spezialisiert.

Auf jeden Fall haben diese Babys mit ihren wenigen Monaten schon mehr durchmachen müssen, als ich mit meinen 44 Jahren. Ich war noch nie im Krankenhaus. Zumindest nicht als Patient, sondern immer nur als Besucher und nach der Schule als Zivi. Ich erfreue mich einer sehr robusten Gesundheit und muss deswegen so gut wie nie zum Arzt. Mein Zahnarzt, den ich seit acht Jahren nicht mehr aufgesucht habe, ist da möglicherweise anderer Meinung.


Meine Frau schläft wieder und erholt sich von den OP-Strapazen. Ich übe mich in der Rolle des guten Partners, der brav Händchen hält und einfach da ist. Ich hoffe, dass es ihrer Genesung hilft. Oder zumindest nicht schadet.

Nur so rumzusitzen hat etwas sehr Entschleunigendes. Einfach mal nichts tun und ungestört den eigenen Gedanken nachhängen. Dazu kommst du im Alltag ja viel zu selten. Allerdings stelle ich recht schnell fest, dass ich gar nicht so schrecklich viele nachhängenswerte Gedanken habe. Stattdessen starre ich stumpf vor mich hin.

Derweil leuchten, piepsen und surren die Infusionspumpen neben dem Bett unablässig vor sich hin. Die Infusion muss in fünf Minuten gewechselt werden? Das Lämpchen an dem Gerät leuchtet gelb und es ertönen in 30-Sekunden-Abständen drei langgezogene Piepstöne. Die Spritze ist leer? Die Lampe springt auf Rot um und die Piepstöne werden kürzer und schneller, wie bei einem Wecker. Sie hören erst auf, wenn die Alarmtaste an dem Gerät gedrückt wird. Alles ist in Ordnung und nichts muss gemacht werden? Die Lampe schimmert grün und die Pumpe schnurrt mehr oder weniger leise vor sich hin.

Im Prinzip ist so ein Infusionsständer eine Mini-Dorf-Disco mit einer sehr primitiven Lichtorgel, in der miesester Techno gespielt wird.


Um halb eins werden alle Besucher gebeten, für die Mittagsruhe die Intensivstation zu verlassen. Mir kommt das nicht ungelegen. Das viele Rumsitzen und Händchenhalten haben mich hungrig gemacht. Vielleicht ist mir aber auch einfach ein wenig langweilig. Langeweile wird ja häufig mit Hunger verwechselt. Von mir zumindest.

Ich hole mir im Kiosk ein Brötchen und eine Apfelsaftschorle. Zum Essen setze ich mich in den Lichthof und beobachte die vorbeieilenden Menschen. Es ist gar nicht so leicht zu erkennen, wer zu den Ärzten und wer zum Pflegepersonal gehört. Während meines Zivildiensts war das noch ganz eindeutig. Da trugen die Ärzte alle weiße Kittel. So wie in der Schwarzwaldklinik. (Die Älteren erinnern sich.) Ein paar kitteltragende Ärzte gibt es hier auch, die meisten haben aber die gleiche Stationskleidung wie die Krankenschwestern und – pfleger an. Wahrscheinlich soll das Hierarchien abbauen und den Pflegeberuf aufwerten. Oder den Arztberuf abwerten, um weniger Gehalt zu bezahlen.

Das Reinigungspersonal trägt identische Stationshemden und -hosen. Sie werden aber trotzdem kaum mit den Ärzten verwechselt. Es ist eher unwahrscheinlich, dass der Oberarzt vor der Visite noch schnell im Patientenzimmer den Mülleimer leert und kurz durchfeudelt.

Bei der Stationskleidung gibt es wiederum unterschiedliche Farben. Meistens ist sie blau. Bei den Anästhesisten ist sie dagegen in einem ästhetisch fragwürdigem Mintgrün gehalten. Da weißt du als Patient nicht, ob dir vom Narkosemittel oder von der Farbe schlecht ist.

Die Radiologen sind wiederum ganz in pink gekleidet. Das ist besonders hübsch, weil die männlichen Kollegen dort fast alle glatzköpfige, vollbärtige, vierschrötige Hünen sind – wahrscheinlich sind sie aufgrund der täglichen Strahlendosis mutiert –, die so finster schauen, dass Hells-Angels-Rocker dagegen wie putzige Glücksbärchen aussehen. Vermutlich sind sie wegen der pinken Bekleidung so schlecht gelaunt.

Bei den Ärzten, die keine Stationskleidung tragen, wird die Kleidung immer legerer, je höher sie in der Hierarchie stehen. Der Leiter der Kinderkardiologie hat beispielsweise immer weiße Polo-Hemden an, als wäre er gerade auf dem Sprung, um auf dem Tennisplatz noch ein paar Bälle zu schlagen. Wie wohl der Dekan der medizinischen Fakultät rumläuft? Wahrscheinlich in Hawaii-Hemden, Shorts und Flip-Flops.


Fortsetzung (Tag 3, 3/3)


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Beobachtungen aus dem Krankenhaus (Tag 3): Her heart will go on (1/3)

Dass ich dieses Jahr so gut wie gar nichts gebloggt habe, ist ja kein Zustand. Kein Urlaubsblog, kein Gespräch mit dem Tod, kein Garnichts. Daher kurz vor Schluss ein retrospektiver Krankenhaus-Blog. Quasi wie Urlaub, nur ohne Urlaub.


Tag 1: Ein kaputtes Herz muss man reparieren
Tag 2: Don’t go breaking her heart


Mittwoch, 6.55 Uhr. Ich schreibe den Kindern eine Nachricht, ob bei ihnen alles in Ordnung ist. Sie reagieren nicht, aber das ist kein Grund zur Besorgnis. Die Kinder ignorieren immer meine Fragen auf WhatsApp. Oder sie antworten drei Tage später mit einem Daumen-hoch-Emoji, ganz egal, was die Frage war.

Nach dem Duschen versuche ich, in meiner Vier-Quadratmeter-Hotel-Box, die keinen Schrank hat, Ordnung zu schaffen. In der Ecke vor dem Waschbecken richte ich eine Schmutzwäschen-Zone ein, die Ecke vor der Eingangstür wird zur Wechselklamotten-Zone. Allerdings ist das Zimmer so klein, dass die beiden Zonen fließend ineinander übergehen. Die schmutzige Wäsche breitet sich unaufhaltsam aus und droht, die Wechselklamotten-Zone zu okkupieren. Ich trenne beide Bereiche mit dem Koffer meiner Frau, den ich gestern aus dem Krankenhaus mitgenommen habe. Er ist quasi die neutrale Zone. Wie zwischen Süd- und Nordkorea. (Sie dürfen selbst entscheiden, ob Nordkorea die Schmutzwäsche-Zone und Südkorea die Wechselklamotten-Zone ist oder umgekehrt.)

Wäsche nach zwei Tagen. (Symbolbild; keine farbgetreue Darstellung)

Die komplette Bodenfläche ist nun mit Wäsche bedeckt. Um das Zimmer zu verlassen, muss ich über das Bett klettern und mich am Fußende unter der Treppe, die zur Dusche führt, hindurchquetschen. Somit habe ich mir in meinem Low-Budget-Hotel ein eigenes Gym erschaffen. Toll!

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Beobachtungen aus dem Krankenhaus (Tag 2): Don’t go breaking her heart (3/3)

Tag 2 (1/3)
Tag 2 (2/3)


Ich rufe die Kinder an. Die beiden freuen sich sehr über die gute Nachricht. Sie erzählen, sie hätten heute das Judo-Training beziehungsweise den Geigen-Unterricht ausfallen lassen, weil sie so aufgeregt waren. Stattdessen hätten sie sich mit YouTube-Videos und Monopoly-Spielen abgelenkt. Ich verzichte auf die Frage, warum sie sich nicht mit Hausaufgaben abgelenkt hätten. Das wäre heute unangemessen kleinlich.

Anschließend telefoniere ich kurz mit meiner Schwiegermutter sowie meinen Eltern und schreibe in die WhatsApp-Gruppe „Die krummbucklige Sippe“, um die Geschwister meiner Frau zu informieren. Außerdem hat meine Frau eine Gruppe mit Freundinnen, Bekannten und Kolleginnen erstellt, damit ich diesen ebenfalls mitteilen kann, dass alles gut gelaufen ist. Kaum habe ich meine Nachricht abgeschickt, explodiert mein Handy. Im Sekundentakt kommen Antworten rein. Kurz überlege ich, die Gruppe zu verlassen, aber das wäre unhöflich. Stattdessen schicke ich ein paar Daumen-hoch-, Smiley- und Herz-Emoticons in die Runde. Und versehentlich ein Kackhaufen-Symbol, dass ich sofort wieder lösche.


Schließlich kann ich zu meiner Frau. Ich erschrecke ein wenig, als ich sie sehe. (Kein schöner Satz über die eigene Frau. Auch nicht nach 22 Jahren Partnerschaft.) Sie liegt blass und erschöpft im Bett und schläft. Ihr Hals ist vom Jod braun-orange verfärbt, am Ausschnitt des OP-Hemdes leuchtet rötlich die frische Narbe hervor und an verschiedenen Stellen ihres Körpers kommen kleinere und größere Schläuche heraus. Am Ende des Betts hängen zwei schuhkartongroße Kästen, in die bräunlich-gelbe Flüssigkeit läuft.

Aber was habe ich auch erwartet? Nach einer Zehn-Stunden-OP am offenen Herzen ist es eher unwahrscheinlich, wie ein Sports-Illustrated-Cover-Model auszusehen.

Neben ihrem Bett steht ein Ständer mit unzähligen Infusionsspritzen, die irgendwelche Medikamente, Schmerzmittel und Kochsalzlösungen in sie reinpumpen. Über dem Kopfende zeigt ein Monitor zahlreiche Werte an, die mir größtenteils nichts sagen.

Im Mund meiner Frau steckt noch der Beatmungsschlauch, der sie mit Sauerstoff versorgt. Er ist ziemlich groß. Geradezu riesig. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie der in die Luftröhre passen soll. (Was nicht zuletzt damit zusammenhängt, dass ich nicht die geringste Ahnung habe, wie groß so eine Luftröhre ist.) Es sieht auf jeden Fall extrem unangenehm aus. Aber wenn dir das Brustbein zersägt, die Rippen auseinandergebogen und dein Herz angehalten wurde, fällt so ein Beatmungsschlauch vielleicht doch in die Kategorie „vernachlässigenswerte Unannehmlichkeit“. Trotzdem verursacht der Anblick bei mir einen leichten Würgereiz.

Ich setze mich auf einen Hocker und schiebe mich an die Bettkante. Meine Frau wacht kurz auf und schaut mich mit glasigen Augen an. Sie scheint mich nicht wirklich wahrzunehmen und dämmert sofort wieder weg. Ich streichle etwas unbeholfen ihre Hand, weil ich nicht weiß, was ich sonst tun könnte. Draußen konnte ich wenigstens essen.

Plötzlich verschluckt sich meine Frau. Sie röchelt und schnappt hektisch und hilflos nach Luft. Die Werte auf dem Überwachungsmonitor schießen in die Höhe beziehungsweise fallen rapide ab und es piepst und blinkt wie bei einem einarmigen Banditen, der den Jackpot ausspuckt. Sofort ist eine Krankenschwester da und saugt meine Frau über den Beatmungsschlauch ab. Die Vitalwerte bewegen sich wieder im Normalbereich und der Monitor beruhigt sich. Für die Krankenschwester war das reine Routine, für mich eine Erfahrung, die ich nicht noch einmal machen muss. Für meine Frau sicherlich auch. Aber auch daran wird sie sich später nicht erinnern.

Um 20 Uhr ist die Besuchszeit um. Ich küsse meine Frau zum Abschied auf die Stirn, sie nimmt es schlafend zur Kenntnis.


Als ich das Krankenhaus verlassen habe, komme ich erneut meinen nachrichtendienstlichen Pflichten nach. Ich spreche kurz mit der Schwiegermutter, meinen Eltern und den Kindern und erzähle drei Mal das Gleiche. Dass es ihr so weit gut geht, sie noch erschöpft ist und fast die ganze Zeit schläft. Den Erstickungsanfall unterschlage ich lieber. Als Propagandaminister zählt es zu meinen Aufgaben, die Moral hochzuhalten.

In meiner Hotelbox mache ich Katzenwäsche am Waschbecken, putze mir die Zähne und gehe ins Bett. Obwohl es erst kurz nach 21 Uhr ist, schlafe ich sofort ein. Im Traum liege ich auf der Intensivstation. Im Gegensatz zu meiner Frau sehe ich aber nicht blass und matt aus, sondern rosig und ziemlich propper. Möglicherweise liegt das daran, dass ich intravenös belegte Brötchen, Sandwiches, Kekse und Käsekuchen verabreicht bekomme.

Gute Nacht!


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Beobachtungen aus dem Krankenhaus (Tag 2): Don’t go breaking her heart (2/3)

Tag 2 (1/3)


Ich sitze im Lichthof des Klinikums und überlege, wie ich mir die Zeit vertreiben kann. Irgendwas muss ich tun, sonst fange ich an nachzudenken und nachzudenken, während deine Frau am Herzen operiert wird, erscheint mir nicht das Allerbeste zu sein. Da stellst du dir vor, was gerade im OP-Saal passiert und was da alles schieflaufen könnte und das sind dann keine schönen Gedanken. Ich gehe in den Krankenhaus-Kiosk und hole mir einen Kaffee. Wenn du Kaffee trinkst, denkst du keine unschönen OP-Gedanken.

Mit dem Kaffee kehre ich auf die Bank im Lichthof zurück. Im OP irgendwo in den Klinik-Katakomben wird bei meiner Frau gerade die Anästhesie eingeleitet. Mir ist bei dem Gedanken etwas mulmig. Narkose hat so etwas von Einschläfern. Ich kaufe mir im Kiosk ein belegtes Brötchen. Wer belegte Brötchen isst, denkt keine unschönen Narkose-Gedanken. Der Kioskbesitzer nickt mir zu.

Inzwischen beginnt im OP die Öffnung des Brustkorbs. Das klingt so gruselig, wie es wahrscheinlich auch ist. Am Brustbein entlang wird ein ca. fünfzehn Zentimter langer Schnitt gesetzt, dann das Brustbein zersägt und schließlich der Brustkorb aufgedehnt.

Woher ich das weiß? Ich habe letzte Woche in einer Mischung aus Schwach- und Wahnsinn gegoogelt, wie so eine Herz-OP abläuft. Falls Sie sich jetzt fragen, ob ich total bescheuert bin: Nein. Zumindest nicht total. Immerhin habe ich darauf verzichtet, mir die Kabel1-Dokumentation „Operation am offenen Herzen“ anzuschauen.


Vor meinem geistigen Auge sehe ich den netten Professor von gestern Abend in einem blutgetränkten OP-Kittel mit einer rostigen Kettensäge in der Hand. Zeit mir einen weiteren Kaffee und eine Streuselschnecke zu holen. Wer Kaffee trinkt und Streuselschnecken isst, denkt keine unschönen Brustbeinzersägungs-Gedanken. Der Kioskbesitzer verabschiedet mich mit einem fröhlichen „Bis gleich!“

Ob meine Frau wohl schon an die Herz-Lungen-Maschine angeschlossen ist? Die übernimmt – wie Sie aufgrund des Namens wahrscheinlich schon vermutet haben – die Funktion von Herz und Lunge. Eine unheimliche Vorstellung. Eine Maschine ersetzt quasi die lebenswichtigen Organe. Ist meine Frau jetzt mehr Mensch oder Maschine? Eine Maschine mit menschlichem Bewusstsein? Oder eine Borg?

Egal. Ich gehe zurück in den Kiosk und kaufe mir eine Brezel. Wer Brezel isst, denkt keine unschönen Herz-Lungen-Maschinen-Gedanken. Der Kioskbesitzer verabschiedet mich mit Handschlag.

Bei meiner Frau wird jetzt das Herz stillgelegt, damit der Chirurg mit der eigentlichen Operation beginnen kann. Für mich der richtige Zeitpunkt, ein paar Schokoladen-Kekse zu essen. Wer Schokoladen-Kekse isst, denkt keine unschönen Herzstilllegungs-Gedanken. Zuerst muss ich aber einen Bankautomaten suchen. Ich habe kein Bargeld mehr.

Für die Operation wird bei meiner Frau noch die Körpertemperatur gesenkt. Zum Schutz der Organe. Auf bis zu 18 Grad. Das ist weniger als die Hälfte der normalen Körpertemperatur. Wie soll das ohne bleibende Schäden funktionieren? Ich hole mir eine eiskalte Cola. Wer eiskalte Cola trinkt, denkt keine unschönen 18-Grad-Körpertemperatur-Gedanken. Der Kioskbesitzer nimmt mich zum Abschied in den Arm.

Inzwischen operiert der Professor den Herzfehler, begutachtet die Herzklappe, überlegt, ob er sie reparieren kann oder austauschen muss. Dabei hantiert er mit scharfen und spitzen Instrumenten am Herzen meiner Frau herum. Ihrem wichtigsten Organ, das das Blut durch ihren Körper pumpt und die Sauerstoffversorgung der anderen Organe gewährleistet. Da reicht die kleinste Unaufmerksamkeit, ein winziges Zucken oder ein Kribbeln in der Nase des Chirurgen und der OP verwandelt sich innerhalb von Sekunden in ein Jackson-Pollock-Real-Life-Splatter-Bild.

Ich schaue im Kiosk nach, was es im Angebot gibt, das ich noch nicht gegessen habe. Nicht allzu viel. Ich entscheide mich für das Sandwich-Mittags-Angebot. Zwei zum Preis von einem. Ich kaufe vier zum Preis von zweien. Wer Sandwiches isst, denkt keine unschönen Splatter-OP-Gedanken. Der Kioskbesitzer hängt ein Bild von mir an seine „Kunde des Monats“-Galerie.


Ich übe mich weiter in Verdrängung und wandere durch die verwinkelten Gänge des Klinikums. Zum einen muss ich mir die Beine vertreten, zum anderen ist es mir langsam ein wenig unangenehm, alle paar Minuten im Kiosk aufzutauchen.

Beim Umhergehen klappt das mit dem schlechte Gedanken Verdrängen nicht so recht. Glücklicherweise komme ich an einem Snack-Automaten vorbei. Noch glücklichererweise hat er abgepackten Käsekuchen im Sortiment. Könnte ich ja mal probieren. Wann, wenn nicht heute? Schmeckt gar nicht mal so schlecht. Nur ein bisschen klein.

Ich schlendere ziellos weiter. Die eigentliche OP müsste jetzt vorbei sein. Das Herz wird wieder in Betrieb genommen und die Herz-Lungen-Maschine runtergefahren. Hoffentlich klappt das auch alles. Und hoffentlich ohne Defibrillator-Einsatz, um das Herz zum Schlagen zu motivieren.

Die Warterei macht mich fertig. Da taucht wieder ein Snack-Automat auf. Eine glückliche Fügung. Oder mein Unterbewusstsein hat ihn angesteuert. Ich gönne mir noch einen abgepackten Käsekuchen. Wer abgepackten Käsekuchen isst, denkt keine unschönen Defibrillator-Gedanken. Und noch weniger, wenn du dir am nächsten Automaten einen weiteren Käsekuchen holst. Allerdings sind vor dem Käsekuchen meiner Wahl ein Schoko-Muffin und eine belgische Waffel einsortiert. Was soll’s, kaufe ich halt alle drei.

Der Zucker der Teigwaren spendet mir ein zärtliches Gefühl der Geborgenheit und des Trostes. Der Muffin streichelt sanft meinen Magen, die Waffel massiert aufmunternd meine Speiseröhre und der Käsekuchen flüstert mitfühlend „Alles wird gut!“


Gestern Abend meinte der Professor, ich müsse mir keine Sorgen machen, wenn ich bis 16 Uhr nichts höre. Dann sei alles im normalen Zeitrahmen. Nun ist es fast 16 Uhr und da könnte es jetzt langsam mal Neuigkeiten aus dem OP geben. Okay, es ist 15.05 Uhr, um genau zu sein, aber es könnte ja sein, dass der Professor im Rekordtempo gearbeitet hat, während ich mich mit kurzkettigen Kohlenhydraten vollstopfe. Hat er aber anscheinend nicht. Mein Handy bleibt stumm.

Ich vertreibe mir die Zeit am Snack-Automaten und ziehe ein Bounty. Und ein Snickers. 90 Minuten sowie ein Automaten-Käsekuchen, eine belgische Waffel und ein Twix später klingelt das Handy. Es ist der Professor: „Die Operation ist gut gelaufen und Ihrer Frau geht es gut.“ Ich würde gerne etwas antworten, habe aber den Mund voll.

Er erzählt irgendetwas von der Operation, dem Herzfehler, der Herzklappe und dass keine Bluttransfusion nötig gewesen sei, ich höre nur mit halbem Ohr hin. Nach „Die Operation ist gut gelaufen und Ihrer Frau geht es gut.“ ist mir ein riesiger Stein vom Herzen gefallen. Und ein belegtes Brötchen, eine Streuselschnecke, eine Brezel, ein paar Schokoladenkekse, zwei Sandwiches, diverse Automaten-Kuchen und einige Schokoriegel. Der Käsekuchen hatte recht: Alles ist gut!


Fortsetzung (Tag 2, 3/3)


Alle Folgen des Krankenhaus-Blogs:


Beobachtungen aus dem Krankenhaus (Tag 2): Don’t go breaking her heart (1/3)

Dass ich dieses Jahr so gut wie gar nichts gebloggt habe, ist ja kein Zustand. Kein Urlaubsblog, kein Gespräch mit dem Tod, kein Garnichts. Daher kurz vor Schluss ein retrospektiver Krankenhaus-Blog. Quasi wie Urlaub, nur ohne Urlaub.


Tag 1: Ein kaputtes Herz muss man reparieren


Dienstag, 5.30 Uhr. Der Handywecker reißt mich aus dem Schlaf. Heute wird es ernst. Die Herz-OP meiner Frau. Ihr persönlicher O-Day. Unbekümmertheit vortäuschend, stehe ich mit Schwung auf und trete gegen die Wand. Ich muss mich noch an die Größe – beziehungsweise Kleine – des Hotelzimmers gewöhnen.

Die Dusche, die sich über dem Bett befindet, erweist sich als erstaunlich geräumig. Zumindest für ein Zwergkaninchen. Wenigstens hat sie eine Glastür und keinen verkeimten Duschvorhang, der schon bei der kleinsten Berührung Spontanherpes am ganzen Körper auslöst.

Hotelzimmer. (Symbolbild; maßstabsgetreue Darstellung)

Im Eingangsbereich des Hotels genehmige ich mir einen Kaffee aus einer riesigen Pumpkanne. Den gibt es gratis. Zugegebenermaßen kein Weltklasse-Kaffee, aber bei einem geschenkten Gaul erwartest du ja auch nicht, einen edlen Vollblutaraber zu bekommen.

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Beobachtungen aus dem Krankenhaus (Tag 1): Ein kaputtes Herz muss man reparieren (3/3)

Tag 1 (1/3)
Tag 1 (2/3)


Der Chirurg, der morgen die Herz-OP durchführt, erklärt uns, was er bei dem Eingriff genau machen wird. Beruhigenderweise sieht er mindestens zehn Jahre älter aus als wir. Aufgrund seines Alters und seines Professorentitels können wir davon ausgehen, dass er schon sehr viele solcher Operationen durchgeführt hat. Es ist eher unwahrscheinlich, dass er auf dem ersten Bildungsweg eine Lehre als Metzger gemacht und sich erst mit Anfang 50 durch ein paar Volkshochschulkurse zum Herz-Chirurgen fortgebildet hat. Hoffe ich zumindest.

Der Professor erzählt etwas über Atrium, Ventrikel, Aorta, Pulmonalarterie und vieles mehr. Ich komme mir vor wie früher im Bio-Unterricht. Ich verstehe nichts. Aber der Professor macht wenigstens den Eindruck, als wüsste er, wovon er spricht. Bei meinem Bio-Lehrer war ich mir da nicht immer sicher.

Kurz nachdem der Professor gegangen ist, verabschiede ich mich mit einem den Umständen entsprechenden guten Gefühl von meiner Frau. Der Mann ist kompetent, besonnen und außerdem sympathisch. Okay, letzteres ist eigentlich unerheblich, aber es ist doch ein schöner Gedanke, von einem netten Menschen am Herzen operiert zu werden und nicht von einer narzisstischen, donald-trumpigen Arschgeige.


Auf dem Weg zum Hotel komme ich meinen väterlichen Pflichten nach und rufe Zuhause an. Der Sohn erzählt von seiner Latein-Arbeit, die er heute geschrieben hat. Die wäre super gelaufen und er hätte das beste Gefühl bei einer Latein-Arbeit seit zwei Jahren. Ich überlege kurz, ob er in der sechsten Klasse mal eine herausragende Latein-Arbeit geschrieben hat, kann mich aber nicht erinnern.

Auch sonst gehe es ihm gut, versichert der Sohn. Das liegt wahrscheinlich daran, dass sich die Kinder zum Abendessen Döner geholt haben. Da ist ja auch Salat drin und so haben sie wenigstens ein paar Vitamine abbekommen, denke ich. Im Alter von fünf, sechs Jahren hat der Sohn seinen Döner allerdings ausschließlich ohne Tomate, Gurke, Salat und Zwiebeln, sondern nur mit Fleisch gegessen. Den Döner-Mann hat das immer zu Freudentränen gerührt.

Ich verabschiede mich vom Sohn und ermahne ihn, nicht so spät ins Bett zu gehen. Er erwidert „Jaja“ und legt schnell auf.


Ich stehe vor dem Hotel und versuche, die Eingangstür zu öffnen. Eine Aufgabe, die einen eigentlich intellektuell und motorisch nicht überfordern sollte, aber ich habe mich in einem modernen, app-basierten Hotel eingemietet. Hier läuft alles über das Smartphone ab. Die Buchung, der Check-in und die Türschlüssel. Ohne jeglichen Kontakt zu Menschen. Toll!

Meine Menschenvermeidungsstrategie klappt aber nur theoretisch. Praktisch stellt sich die Bluetooth-Verbindung zwischen Handy und Türschloss nicht her. Also muss ich doch klingeln. Ein junger Hotelangestellter lässt mich rein und bringt mich zu meinem Zimmer.

Das Hotel hatte ich nicht nur in der Hoffnung ausgesucht, meine sozialen Kontakte auf ein Minimum zu reduzieren, sondern auch weil es konkurrenzlos billig ist. 29 Euro pro Nacht. Ich bin nämlich ein sehr kostenbewusster Mensch. “Kostenbewusst”. Das klingt irgendwie besser als „krankhaft geizig“. Und als geizig würde ich mich wirklich nicht bezeichnen. Ich hätte auch ein Zimmer ohne Dusche für 24 Euro nehmen und morgens die Gemeinschaftsdusche benutzen können. Da ein gutes Fußpilzmittel aber mehr als fünf Euro kostet, erschien mir der Aufpreis für eine eigene Dusche eine sinnvolle Investition zu sein.

Der niedrige Preis hat allerdings auch seinen Preis. (Grandioses Wortspiel!) Die Zimmer sind sehr klein. Also, wirklich sehr, sehr klein. Das Hotel schreibt auf seiner Website auch gar nicht von Zimmern, sondern von Boxen. Es nennt sich sogar Box-Hotel. Da kann sich wirklich niemand beschweren, dass hier marketingmäßig falsche Erwartungen geschürt werden.

Mein Box-Zimmer ist ungefähr vier Quadratmeter groß. Das Bett steht direkt an der Wand, daneben sind knapp 50 Zentimeter Platz, am Kopfende ist das Waschbecken, über dem Bett führt eine Holztreppe hoch zur Dusche. Fenster gibt es keine, dafür aber ein modernes Lichtkonzept. Wenn du allmählich an deinen eigenen Ausdünstungen erstickst, umspielen dich wenigstens warme, sanft wechselnde Farbtöne.


Als ich im Bett liege, versuche ich mit mäßigem Erfolg, unschöne Gedanken zu verdrängen, was bei der OP morgen alles schieflaufen könnte. Mit leicht mulmigem Gefühl schlafe ich ein. Im Traum werde ich von ein paar Kinder-Ärzten operiert. Also, nicht von pädiatrischen Medizinern, sondern von Kita-Kindern, die mich mit Plastik-Stethoskopen abhören und versuchen, mir mit einer Bastelschere den Bauch aufzuschneiden.

Gute Nacht!


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Beobachtungen aus dem Krankenhaus (Tag 1): Ein kaputtes Herz muss man reparieren (2/3)

Tag 1 (1/3)


Ich sitze im Krankhaus-Flur auf einem Bänkchen. Die Zimmernachbarin meiner Frau wird gerade untersucht und zur Wahrung ihrer – und meiner – Privatsphäre wurde ich rausgeschickt. Während ich so vor mich hinwarte, öffnet sich plötzlich die Tür des Nachbarzimmers. Ein grimmiger Pirat mit schwarzem Hut und finsterem Blick knurrt mich an und zielt mit einer Pistole auf mich. Was der Situation ein wenig die Bedrohlichkeit nimmt, ist der Umstand, dass der Pirat nur circa einen Meter groß und blond gelockt ist, und es sich bei seiner Pistole um eine leere Klopapierrolle handelt. Außerdem trägt er einen Schlafanzug mit Elefanten.

Wie es sich für einen Erwachsenen gehört, der von einem Mini-Piraten bedroht wird, erschrecke ich mich vorschriftsmäßig und hebe die Arme. Der Kleine feuert trotzdem mit lautem „Peng“ seine Klorollen-Pistole ab. Erneut vorschriftsmäßig fasse ich mir mit beiden Händen an die Brust, stöhne oscar-reif auf und sacke GZSZ-reif tot zusammen. Der kleine Pirat kichert und verschwindet in seinem Zimmer.

Vielleicht wundern Sie sich, was ein Mini-Pirat im Schlafanzug hier zu suchen hat. Die Erklärung ist ganz einfach: Er ist hier Patient. Wegen ihres angeborenen Herzfehlers liegt meine Frau auch als Erwachsene immer auf der kardiologischen Kinderstation. Kinderkardiologen sind auf angeborene Herzfehler spezialisiert, egal wie alt die Patienten sind. Die normalen Kardiologen sind es dagegen eher gewohnt, dass sich ihre Patienten die Herzen durch ungesundes Essen, Alkohol und Stress zugrunde richten.

Auf einer Kinderstation zu liegen, hat auch als Erwachsener viele Vorteile. An den Wänden hängen lustige Bilder vom Tiger und dem kleinen Bären, in den Untersuchungszimmern sitzen Puppen und Kuscheltiere und auf dem Gang wird gemalt, gebastelt oder Fußball gespielt. Aber das Allerbeste: Nach einer Untersuchung bekommst du eine Quietscheente geschenkt. Auch mit 44!


Meine Frau muss zu einer Reihe von Voruntersuchungen. Das hört sich einfacher an, als es ist. Die Uniklinik ist riesig, die Gänge sind sehr verwinkelt und die Ausschilderungen so kryptisch, dass Dechiffrier-Experten des Mossad an der Entschlüsselung scheitern würden. Außerdem haben meine Frau und ich den Orientierungssinn einer Schrankwand. Und zwar einer Schrankwand mit acht Bier, sechs Prosecco, fünf Kurzen und drei Mojitos intus, die sich mit verbundenen Augen 28-mal um die eigene Achse gedreht hat.

Eine freundliche Stationsschwester erklärt uns den Weg: „Gehen Sie einfach durch die Tür, wo der Essenswagen steht, dann links durch zwei weitere Türen, danach rechts, da immer weiter an der Leistelle B1 vorbei, anschließend kommt die Leitstelle B2, da müssen Sie auch nicht hin, sondern weiter geradeaus, vorbei am Gleichstellungsbüro, rechts kommt das Sozialbüro, da biegen sie links ab und dann sind sie bei der kinderkardiologischen Ambulanz.“ Ich nicke wissend, habe aber schon nach „Tür, wo der Essenswagen steht“ nur noch „blabli blablö, B1, blablu blabla B2, blublo, bluble Sozialbüro, pallim pallim“ verstanden.

Nach kurzem Fußmarsch und erstaunlicherweise ohne uns hoffnungslos zu verlaufen und 30 Jahre später als BILD-Schlagzeile „Gruselfund im Klinik-Keller: Wer sind die beiden Mumien?“ zu enden, erreichen wir die kinderkardiologische Ambulanz. Eine Frau, deren Stimmungsbarometer ein langanhaltendes Tiefdruckgebiet mit starkem Niederschlag und gelegentlichen Gewittern anzeigt, nimmt die Unterlagen entgegen. Anscheinend ist ihr nicht nur eine Laus, sondern eine stepptanzende Elefantenherde über die Leber gelaufen. Ihr mürrisch-motziger Tonfall wirkt im Umgang mit den Patienten ein wenig befremdlich, bei uns weckt es ein heimeliges Berlin-Gefühl.

Beim Ultraschall zeichnet ein junger Arzt am Monitor eifrig Linien nach. Ich erkenne genauso wenig wie damals bei den Schwangerschaftsuntersuchungen. Ich verkneife mir die Frage, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird.

Anschließend klärt uns der Anästhesist über die morgige Narkose auf. Er fragt meine Frau, ob sie etwas über die Risiken und Nebenwirkungen wissen möchte. Sie verneint. Was bleibt ihr auch anderes übrig? Sie kann ja schlecht sagen: „Das ist mir zu krass. Geben sie mir lieber ein Beißholz und eine Flasche Rum.“


Wir sitzen im Untersuchungszimmer der Kinderstation. Von der Wand lachen uns Ernie und Bert an, was die Stimmung ein wenig auflockert. Zumindest bei uns. Der Nachwuchs-Doc von eben ist nicht ganz so locker. Er versucht verzweifelt, eine geeignete Vene bei meiner Frau zu finden, um ihr Blut abzunehmen. Ihre Adern sind aber sehr dünn und auf der Haut kaum zu sehen. Selbst nachdem der PJler den Stauschlauch an ihrem Oberarm mehrmals fester gezogen hat, werden sie nicht dicker.

Glücklicherweise ist das Selbstvertrauen des Junior-Arztes gering genug und er sticht nicht auf gut Glück in ihren Armen rum. Er holt eine Assistenzärztin zur Hilfe. Unnötig zu erwähnen, dass sie altersmäßig meine jüngere Schwester sein könnte. Also, wenn meine Eltern fünfzehn Jahre nach mir nochmal Nachwuchs bekommen hätten.

Sie hat zwei Medizinstudentinnen im Schlepptau, die – was ich nicht für möglich gehalten hätte – noch jünger aussehen als der PJler. Vielleicht ist heute aber auch Girls-Day und es sind zwei Schülerinnen, die mal auf Station reinschnuppern. Ernie und Bert begrüßen die beiden fröhlich. Ist ja altersmäßig fast ihre Zielgruppe.

Die Assistenzärztin quält sich ebenfalls mit den Adern meiner Frau herum. Minutenlang sucht sie Arme und Hände ab, klopft auf ihnen herum, versetzt den Stauschlauch mehrmals, aber die Adern bleiben dünn wie Nylonfäden. Meine eigenen Adern sind dagegen sehr kräftig. Fast schon krankhaft dick wie Schiffstaue verlaufen sie auf meinen Unterarmen. Ich biete der Ärztin an, sie könne bei mir Blut abnehmen. Ernie und Bert schauen nicht mehr ganz so fröhlich, sondern gelangweilt.

Nach einer Weile gibt die Ärztin entnervt auf und holt eine weitere Kollegin. Diese ist erfreulicherweise nur zehn Jahre jünger als wir. Auch sie tut sich mit den Venenfädchen meiner Frau schwer. Nach ein paar Minuten Suchen sticht sie zu – wahrscheinlich mit geschlossenen Augen – und trifft tatsächlich eine Vene. Ernie und Bert brechen in spontanen Jubel aus.


Fortsetzung (3/3)


Alle Folgen des Krankenhaus-Blogs:


Beobachtungen aus dem Krankenhaus (Tag 1): Ein kaputtes Herz muss man reparieren (1/3)

Dass ich dieses Jahr so gut wie gar nichts gebloggt habe, ist ja kein Zustand. Kein Urlaubsblog, kein Gespräch mit dem Tod, kein Garnichts. Daher kurz vor Schluss ein retrospektiver Krankenhaus-Blog. Quasi wie Urlaub, nur ohne Urlaub.


Montagmorgen, 4.30 Uhr. Aus dem Radiowecker plärrt laute Musik. Der Radio-DJ findet, Montag halb fünf sei der richtige Zeitpunkt, um Techno zu spielen. Ich dagegen finde, es ist nie der richtige Zeitpunkt, um Techno zu spielen. Vielleicht ist es auch gar kein Techno, sondern Electro. Oder Acid House. Oder irgendetwas anderes, das du nur ertragen kannst, wenn du dir eine Monatsration Ecstasy auf einmal einwirfst. Ich bin da kein Experte. Schon gar nicht um diese Uhrzeit.

So früh geweckt zu werden, ist nie schön, bei uns ist der Grund besonders unschön. Wir fahren heute in eine niedersächsische Uni-Stadt, wo meine Frau sich morgen einer Herzoperation unterziehen muss. Sie hat einen angeborenen Herzfehler, der in ihrer Kindheit schon zweimal operiert wurde. Jetzt muss sie erneut unters Messer und eine neue Herzklappe bekommt sie obendrein dazu. Das sind nur so mittelschöne Aussichten. Falls Sie also denken, Sie haben einen beschissenen Montag: Es geht noch beschissener.

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Fahrradausflug nach Mordor. Eine Tortour in 3 Akten – 3. Akt: Mit Picknix und Erholnix am Schlachtensee

Den 1. Akt der Tortour gibt es hier, den 2. Akt hier.

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Am See stehen wir vor der Aufgabe, einen netten Platz zu finden, an dem wir uns niederlassen können. Dies ist kein triviales Unterfangen, denn auf der Seite, auf der wir uns befinden, ist das Ufer sehr schmal und voller schmutzigem Gestein und Geröll. Auf der anderen Seeseite laden dagegen schöne Sandstrände zum Verweilen ein. Die Kinder weigern sich aber nach der beschwerlichen Anreise, auch noch den See zu umfahren.

Schließlich finden wir eine einigermaßen akzeptable Stelle, wo wir die Fahrräder abstellen und unsere Decken ausbreiten. Lediglich die vielen Baumwurzeln, die sich hier auf dem Boden ausgebreitet haben, schränken den Liegekomfort ein wenig ein. Die Kinder monieren dies gleich lautstark, als seien sie gezwungen, über mehrere Stunden auf Nagelkissen zu sitzen.

Still ruht der See (Symbolbild)

Still ruht der See (Symbolbild)

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