Cassis 2022 – Tag 05 (13.07.): Ein Tag ohne Routinen. Fast wie im Urlaub. (Teil 2)

Teil 1


In den letzten beiden Tagen war unser Hunger größer, als der vorgestrige Großeinkauf groß war. Der Kühlschrank ist nahezu leer und die Wasservorräte gehen zuneige. Wir müssen zum Supermarkt.

Diesmal konzentrieren wir uns tatsächlich auf die allernötigsten Grundnahrungsmittel. Das klappt recht gut. Wir brauchen ja keine neue Literflasche Aperol. (Für wie versoffen halten Sie uns eigentlich?) Außerdem haben wir Chips und Kekse als allernötigste Grundnahrungsmittel deklariert. Und Brioches. Das ist möglicherweise die Ursache, warum unser Wagen am Ende des Einkaufes nicht viel leerer ist als beim letzten Mal.

Vor uns hat sich eine niederländische Familie in die Schlage eingereiht. Ihr Wagen ist noch voller als unserer. (Respekt!) Sehr langsam und unkonzentriert packen sie ihre Waren auf das Kassenband. Mich macht das nervös. Gut, ich habe keinen Zeitdruck oder irgendwelche Anschlusstermine. Trotzdem möchte ich meinen Urlaub nicht unnötig lange in einer Supermarktschlange verbringen.

Noch mehr als das langsame Tempo irritiert mich, dass die Niederländer ihre Sachen vollkommen planlos auf das Band legen. Kreuz und quer. Ohne Sinn und Verstand. Ich bin kurz davor, mich vorbeizudrängeln, um ihren Wagen aus- und ihre Einkaufstüten einzuräumen. Was das angeht, bin ich ganz Deutscher: Das Kassenband muss mit System und Ordnung bestückt werden. Die schweren Sachen zuerst, dann die weichen und zum Schluss die zerbrechlichen. Und genauso muss das in die Einkaufstaschen wandern. Alles andere ist Unfug, Unsinn und Unvernunft.

Das Arbeitstempo der Kassiererin ist auch nicht gerade rekordverdächtig. Aus Deutschland bist du es gewohnt, dass die Kassierer*innen die Waren so schnell über den Scanner ziehen, dass du kaum hinterherkommst, sie wegzupacken. Die französischen Kolleginnen sind da wesentlich gemütlicher. Sie scannen die Produkte mit Gemach, kontrollieren regelmäßig auf dem kleinen Monitor, ob ihnen kein Fehler unterlaufen ist, und sind einem kleinen Schwätzchen nicht abgeneigt. Nicht mit den Kund*innen, sondern mit den Kassierer*innen links und rechts von ihnen.

Meine Tochter würde sagen: „Das ist ein You-Problem. Ist doch toll, wenn sich die Kassierer*innen nicht den Ausbeutungsmechanismen der kapitalistischen Lohnsklaverei unterwerfen.“ (Oder so etwas ähnliches.) Damit hat sie recht. Ein bisschen Entschleunigung hat ja etwas Gutes. Besonders im Urlaub ist das sehr erholsam.

Als wir an der Reihe sind, übernehmen die Kinder das Ausräumen der Waren aus unserem Wagen, meine Frau und ich verstauen diese in unseren Rucksäcken und Taschen. Ab und an werfe ich der Tochter und dem Sohn einen scharfen Blick zu, wenn sie mein striktes Wie-Lebensmittel-auf-das-Kassenband zu-legen-sind-Dogma missachten (Schwer → weich → zerbrechlich. Merken Sie sich das. Falls Sie an der Kasse mal vor mir stehen.)

Nach geraumer Zeit ist alles eingescannt. Der Betrag auf dem Kassendisplay ist wieder dreistellig. Vielleicht ist das langsame Tempo der Kassiererinnen doch nicht so schlecht. Dann dauert es länger, bis du erfährst, wieviel du bezahlen musst. Das ist auch sehr erholsam.

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Inzwischen ist es bereits 14.30 Uhr. Wir beschließen, nicht wie sonst an den Strand zu gehen, sondern ein bisschen durch das Städtchen zu flanieren. Nachdem ich heute schon eine andere Strecke gelaufen bin und bei einem anderen Bäcker war, brechen wir also mit einer weiteren Routine. Komme mir vor wie ein Hippie, der jegliche Strukturen und Regeln ablehnt und ziel- und planlos in den Tag lebt. (Andere Menschen nennen das Urlaub.)

„Durchs Städtchen flanieren“ ist keine tagesfüllende Beschäftigung, nicht einmal eine nachmittagfüllende, denn Cassis ist nicht sonderlich groß. Am Ende des Hafens gehen wir durch eine kleine Gasse. Nach einem kurzen Fußweg kommen wir an einem alten Haus vorbei.

Vielleicht ist das das Rathaus aus dem 16. Jahrhundert mit der alten Treppe. Oder eine der anderen Sehenswürdigkeiten, von denen ich im Internet gelesen hatte. Keine Ahnung. Das passiert mir häufig. Ich lese etwas und vergesse es direkt wieder. Manchmal während des Lesens.

Zumindest kann ich ausschließen, dass es sich bei dem Gebäude um den alten Gemeindebackofen handelt. Außer der ging über zwei Etagen und hatte eine große Flügeltür als Klappe.

Ein Schild am Straßenrand weist den Weg zu dem anderen Strand in Cassis. Den können wir uns ja mal anschauen. (Hoffentlich bekommt das unser Stamm-Strand nicht mit und ist beleidigt.) Die Straße zum Strand geht steil bergab, verfügt nur über einen sehr schmalen Gehweg und ist sehr kurvenreich.

Wem die Kurven nichts ausmachen, sind die vielen Motorroller-Fahrer. Die fahren in halsbrecherischem Tempo die Straße hinunter. Dabei schneiden sie an den unübersichtlichsten Stellen die Kurven, als hätten sie neun Leben. Oder einen Termin bei Gott.

Einer fährt sogar auf dem Hinterrad den Berg hoch. Ich glaube, er will der Tochter imponieren. Die ist maximal unimponiert.

Der Sohn findet die Rollerfahrer cool. Er würde auch gerne einen Moped-Führerschein machen. Hoffentlich vergisst er das, bis wir wieder in Berlin sind. Dann müssen wir es ihm nicht verbieten. Beziehungsweise – pädagogisch wertvoll – argumentativ davon überzeugen, dass das keine gute Idee ist.

Der andere Strand ist etwas kleiner und dadurch etwas voller. Und die Besucher*innen etwas jünger. Eher so Spät-Millennials und Früh-Generation-Zer. Da würde ich nur unangenehm auffallen. Außerdem ist der Weg viel zu lang. Wir werden also bei unserem Stamm-Strand bleiben. (Der Stamm-Strand wischt sich unauffällig eine Träne aus dem Augenwinkel.)

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Neues Kniffelspiel, neuer Kniffelsieg. Für mich zumindest. Und nicht nur ein Sieg, sondern ein Triumph. Ich werfe drei Kniffel und komme auf 479 Punkte. Weil ich einen 1er-Kniffel beim Dreier- und einen 2er-Kinffel beim Vierer-Pasch eintragen muss, sind es nicht noch mehr Punkte. Das Bedauern der anderen hält sich in Grenzen.

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Vollmond über Cassis

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Cassis 2022 – Tag 04 (12.07.): In der Ferne zirpen die Zikaden. Und in der Nähe. Und einfach überall. (Teil 2)

Teil 1


Meine Frau und ich gehen runter in den Ort zu unserer Stammbäckerei. Wir waren erst zweimal dort, aber werden in diesem Urlaub sicherlich zu keinem anderen Bäcker mehr gehen. In unserer Stammbäckerei – ja, ich bleibe bei der Formulierung – kennen wir die Regeln der sozialen Interaktion, die Gepflogenheiten, die Abläufe. Okay, bei anderen Bäckern ist das wahrscheinlich identisch: Du gehst rein, stellst dich an, wenn du an der Reihe bist, sagst du, was du haben möchtest, bezahlst und verlässt den Laden.

Trotzdem gibt es Sicherheit – insbesondere im Urlaub in einem Land, in dem du die Sprache nicht beherrschst –, wenn es Routinen gibt, du eine gewohnte Umgebung hast und vertraute Gesichter siehst. Gut, die ältere Verkäuferin schaut immer etwas grimmig. Trotzdem ist sie ein vertrautes Gesicht. Bei ihr weiß ich, dass sie mir nichts tut. Keine Ahnung, wie das in anderen Bäckereien ist. Wenn du da nicht schnell genug bestellst und bezahlst, wirst du vielleicht vom Verkaufspersonal attackiert . Oder in der „Boulangerie Lion“ sogar von dem backenden Löwen.

Heute früh müssen wir allerdings feststellen, dass in unserer Stammbäckerei die Croissants, die wir so liebgewonnen haben, aus sind. Ich verstehe nicht, was die jüngere Verkäuferin zu der Kundin sagt, die an der Reihe ist. Situativ erschließe ich mir aber, dass es wohl gleich Nachschub gibt. Meine Frau und ich verlassen die Bäckerei, um in ein paar Minuten noch einmal unser Croissant-Glück zu versuchen.

Wir schlendern zum Hafen. Dort reihen sich Lokale, Restaurants und Cafés aneinander. Mit Blick aufs Wasser und auf Ausflugs-, Segel- und kleinere Fischerboote kannst du hier zu recht strammen Preisen zu Mittag und zu noch strammeren Preisen zu Abend essen.

Apropos stramm: Obwohl es erst kurz nach 11 ist, führen sich nicht wenige Urlaubende schon ein Fläschchen Weißwein zu Gemüte. In der prallen Sonne bei 30 Grad. Einerseits sieht das durchaus reizvoll aus. Der Wein ist eisgekühlt und das Kondenswasser läuft die Gläser hinunter. Am liebsten würde ich die ablecken. Andererseits reicht bei dieser Hitze – und meinem leeren Magen – ein Schluck Alkohol und ich hätte einen im T. Aber das ist wahrscheinlich gar nicht so schlecht, wenn du nach dem Essen die Rechnung bekommst.

Ich bin ohnehin kein riesengroßer Fan der französischen Küche. (Zu viele Innereien und zu viele Tiere, die ich nicht essen möchte.) Das wirft natürlich berechtigterweise die Frage auf, warum ich überhaupt in Frankreich Urlaub mache, aber das ist ein anderes Thema. (Vor allem, weil jedes Jahr nach Italien fahren langweilig ist und Indien zu weit weg ist.) Auf jeden Fall bin ich nicht in Versuchung gebracht, unsere Urlaubskasse mit 20 Euro für eine Portion Moules Frites zu belasten. Und mit sieben Euro oder mehr für ein Glas Weißwein.

Da reizt mich eher das Frühstück in einem der kleinen Hafenbistros. Das wird auf einer dreistöckigen Etagere mit Käse- und Wurstaufschnitt, Marmelade, Nuss-Nougat-Creme, Crossaints und Baguettes sowie Obstsalat (französische Variante) oder gebratenem Schinken und Rührei (amerikanische Version) serviert. Dazu gibt es Orangensaft und ein Kaffeegetränk.

Dreizehn Euro kostet das Ganze. Für ein Frühstück nicht gerade geschenkt. Aber der sich nie irrende Volksmund weiß ja, dass das Frühstück die wichtigste Mahlzeit des Tages ist und du morgens wie ein Kaiser speisen sollst. Für ein kaiserliches Mahl sind dreizehn Euro ziemlich wenig.

Die Urlaubskasse ist von dieser Logik nicht uneingeschränkt überzeugt. Nicht zu Unrecht. Der Rest der Familie möchte mir sicherlich nicht beim Frühstücken zuschauen, sondern selbst etwas essen. Dann liegst du schon bei über 50 Euro.

Meine Frau und ich gehen zurück zu unserem Stammbäcker. Wir holen zwei Baguettes und drei Croissants. Dafür müssen wir nur 5,30 Euro zahlen. 1,10 Euro für ein Croissant ist auch nicht übermäßig günstig. Aber wenn der Kaiser zum Frühstück Croissants essen will, bekommt er Croissants. Koste es, was es wolle.

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Ich war in meinem Leben an mehr als 30 Stränden, verteilt auf zehn Länder und drei Kontinente. Anthropologisch und soziologisch gesehen, ist es nicht wahnsinnig originell, wenn ich schreibe, dass sich je nach Land und Kulturkreis die Sitten, Gebräuche, Verhaltensweisen und Umgangsformen an Stränden stark voneinander unterscheiden.

Das trifft aber nicht auf Familien zu. Länder-, kultur und religionsübergreifend verhalten sich Eltern und Kinder an allen Stränden vollkommen identisch. Immer. Ohne Ausnahme. Da gibt es keinerlei Varianz und Abweichungen. Das gilt auch für unseren Stamm-Strand in Cassis. Hier ein paar Beispiele:

  • Eltern gehen überall ausschließlich sehr, sehr langsam und sehr, sehr bedächtig ins Wasser. Schritt für Schritt und zusammenzuckend sobald eine winzige Welle an ihnen hochschwappt. Dabei benetzen sie sich vorsichtig die Unter- und dann die Oberarme. Damit wollen sie vermeiden, durch zu schnellen Kontakt zum kalten Wasser einen Herzstillstand zu erleiden. Kinder müssen dagegen immer und ausnahmslos ins Meer rennen und maximal planschen und Wasser verspritzen. Das ist durch einen genetischen Code festgelegt. An allen Stränden rund um den Globus ermahnen Eltern ihre Kinder dann in scharfem Ton, sie sollen unverzüglich die Spritzerei unterlassen. Sie drohen mit Enterbung oder gar Eisverbot, was für die Kinder wesentlich schlimmer ist.
    (Bei generationsübergreifenden Konflikten in der Familie rund um den angemessenen Einstieg ins Meer stößt das Konzept „Erziehen ohne Strafen”  an seine Grenzen.)
  • Kinder wollen nie das Wasser verlassen. Nirgendwo, an keinem Strand weltweit. Ihre Lippen sind blau, die Finger- und Zehennägel weiß und ihr Zähneklappern hat mehr beats per minute als ein Scooter-Song. Trotzdem sind sie unter keinen Umständen bereit, aus dem Wasser zu gehen und sich kurz auf dem Badetuch aufzuwärmen. Eltern auf der ganzen Welt stehen dann vor ihren Kindern fordern auf, bitten, flehen, bestechen mit Süßigkeiten, schimpfen und zetern. Irgendwann wird es ihnen zu bunt, sie klemmen sich ihr schreiendes Kind unter den Arm und schleppen es zum Liegeplatz.
    (Eine Verhalten, das im ersten Moment grob und gewaltvoll wirkt, aber trotzdem mit bedürfnisorientierter Erziehung vereinbar ist: Das Bedürfnis der Eltern, ihr Kind soll nicht im Wasser erfrieren, hat in der Situation Vorrang gegenüber dem Bedürfnis des Kindes, nie wieder das Meer verlassen zu wollen.) (Für mehr unfundierte Erziehungsratschläge kaufen sie bitte meine Bücher.)
  • Alle Kinder auf allen Kontinenten hassen es, eingecremt zu werden. Sobald Eltern auch nur andeuten, eine Flasche Sonnencreme aus der Badetasche zu holen, beginnt unverzüglich das kindliche Gemaule und Protestieren. Wagen es Eltern tatsächlich, mit dem Eincremen zu beginnen, verwandeln sich Kinder in tollwütige Kraken, die mit allen zur Verfügung stehenden Extremitäten versuchen, sich nicht festhalten zu lassen und den Kontakt zur Sonnencreme zu vermeiden. Dabei gilt die Regel: Je kleiner das Kind, desto tollwütiger und krakiger.
    (Ich habe Babys gesehen, die ihre hünenhaften Väter zur Strecke gebracht haben, als diese versuchten, eine stecknadelkopfgroße Menge Sonnencreme zu applizieren.)
  • Kinder sind an keinem Strand der Welt in der Lage, Lebensmittel festzuhalten. Wird ihnen etwas Ess- oder Trinkbares gereicht, liegt es sofort auf dem Boden. Ein Eis, zack, unten. Ein Obstschnitzen, flutsch, unten. Ein Trinkbäckchen, platsch, unten. Ein Sandwich, plumms, unten. Nirgendwo reagieren Kinder dann mit Verständnis, wenn ihre Eltern ihnen untersagen, den angelutschten Keks, der über den halben Strand gekullert ist, noch zu essen.

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Der Kniffel-Abend bringt eine Veränderung auf dem Leader-Board. Mit einem Kniffel und 301 Punkten gewinne ich das dritte Mal hintereinander und übernehme die Gesamtführung. Außer mir scheint das niemanden so richtig zu freuen, ja, nicht einmal zu interessieren. Gewiss möchte ich hier nicht den verkrusteten patriarchalen Familienstrukturen der 50er/60er das Wort reden, aber ein wenig mehr Respekt gegenüber dem Herrn Vater wäre schon schön.

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Mond über Cassis

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Cassis 2022 – Tag 04 (12.07.): In der Ferne zirpen die Zikaden. Und in der Nähe. Und einfach überall.

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Ratsch! Ratsch! Ratsch!

Kurz vor sieben. Die Zikaden sind aufgewacht. Und ich damit auch.

Im Vergleich zu Städten werden ländliche Gegenden gemeinhin als Oasen der Ruhe und der Stille gerühmt. In erster Linie von Menschen, die noch nie in ländlichen Gegenden waren.

Ratsch! Ratsch! Ratsch!

In und um Cassis ist es mit der ländlichen Ruhe und Stille nicht weit her. Dafür sorgen die Zikaden. Ihr Zirpen ist ein beständiger Klangteppich, ein allgegenwärtiger Hintergrund-Soundtrack. Morgens, wenn die Sonne aufgeht, fangen sie mit der Zirperei an, und erst abends, wenn die Sonne verschwindet, hören sie auf.

Ratsch! Ratsch! Ratsch!

Das Wort „Zirpen“ vermittelt nur unzureichend, was für Geräusche die Zikaden den ganzen Tag produzieren. Es ist eine Mischung aus Kreischen, Brüllen und Zetern, während jemand eifrig ein Stück Metall über eine Küchenreibe zieht. Selten in piano, sondern fast ausschließlich fortissimo.

Ratsch! Ratsch! Ratsch!

Aus mir unerklärlichen Gründen heißt die Zikadenart, die hier in der Gegend lebt, Singzikaden. Eine veritable Wort-Ton-Schere. Wer auch immer die Bezeichnung Singzikaden eingeführt hat, hat vermutlich noch nie gehört, wie jemand singt. Die Geräusche, die Zikaden fabrizieren, haben mit Gesang so viel zu tun wie ein Klo bei einer Brechdurchfall-Erkrankung mit expressionistischer Malerei. (Vergleiche wie dieser sind der Grund, warum Sie für die Beiträge hier nichts bezahlen müssen.)

Dauerbrüllende Schreizikade wäre ein viel zutreffenderer Name. Aber mich fragt ja niemand.

Ratsch! Ratsch! Ratsch!

Für den Zikaden-Lärm sind – wie sollte es anders sein – die Männchen zuständig. In der Antike schrieb der griechische Dichter Xenarchos: „Glücklich leben die Zikaden, denn sie haben stumme Weiber.“ Wäre Xenarchos eine Frau gewesen, wäre ihr Urteil sicherlich anders ausgefallen: „Unglücklich leben die Zikadinnen, denn ihre Männer halten einfach nie ihre verdammten Fressen.“

Ratsch! Ratsch! Ratsch!

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Cassis 2022 – Tag 03 (11.07.): Wer hoch läuft, muss noch höher laufen. Und dann noch höher. (Teil 2)

Teil 1


Sofort als wir am Strand ankommen, geht der Rest der Familie ins Wasser. Ich bleibe bei unseren Sachen. Einer muss die ja bewachen. Vor allem, wenn einer ohnehin keine Lust aufs Wasser hat.

Ich nutze die Gelegenheit und schaue ein wenig rum. Macht man im Alltag ja viel zu selten. Einfach mal rumschauen. Wobei das bei mir gar nicht stimmt. Mein Schreibtisch steht vor einem großen Fenster und davor steht wiederum ein großer Baum. Mehrmals am Tag flattern da Vögel rein, das schaue ich mir an und denke dabei: „Och wie schön, Vögel.“ Die Vögel schauen dann zurück. Aber nicht so, als würden sie denken: „Och wie schön, ein Mensch!“ Eher so etwas wie: „Da glotzter wieder, der komische Typ. Scheiß Creep!“

Zurück zum Strand. Auf der linken Seite gibt es hier eine große Klippe, auf der eine Burg steht. Wahrscheinlich die Burg, von der ich gelesen habe, dass sie zu luxuriösen Ferienwohnungen umgebaut wurde und nicht zu besichtigen ist.

Als Kind habe ich mir häufig vorgestellt, wie es wäre, in einem Schloss zu leben und gedacht, wie toll das wäre, so viele Zimmer zu haben, in denen du spielen kannst. Als Erwachsener stelle ich mir immer noch unnormal häufig vor, wie es wäre in einem Schloss zu leben, denke dabei aber eher, wie aufwändig es wäre, so viele Zimmer sauber zu halten.

In Westerburg, wo ich aufgewachsen bin, gibt es sogar ein Schloss. In dem lebte bis Anfang der 1990er Jahre noch ein Graf. Als er verstarb, stand das Schloss zum Verkauf. Für 10.000 D-Mark, wenn ich mich richtig erinnere. Ich fand es recht enttäuschend, dass meine Eltern bei dem Preis nicht zugeschlagen haben. Gut, die Sanierung hätte einen siebenstelligen Betrag gekostet, aber wir hätten in einem Schloss wohnen können!

Auf der Website des Anbieters der luxuriösen Ferienwohnungen steht, dass die Standard Suite Camille 350 Euro die Nacht kostet. Für zwei Personen. Das heißt, die Kinder könnten nicht mitkommen. Ich muss überlegen. Bei dem Preis könnten wir uns aber nur fünf bis sechs Tage leisten. Ein bisschen kurz für einen Urlaub. Außerdem bietet die Suite nur einen kleinen Blick aufs Meer und die Stadt. Ein bisschen wenig für das Geld.

Von der Junior Suite Jean-Baptiste hast du dagegen eine reizende Aussicht auf die Calanque und den Hafen. Kostet aber 590 Tacken pro Nacht. Das heißt nur drei Tage Urlaub. Die Superior Suite Chloé, die sich für mich ein wenig nach Rotlicht-Etablissement anhört, punktet mit einem wunderschönen Meerblick. Für den musst du pro Nacht allerdings 720 Euro berappen. Wird wohl nichts mit uns und einer Übernachtung in den luxuriösen Ferienwohnungen.

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Wenn du Strandurlaub machst, kannst du aber nicht den ganzen Tag über Burgen und Schlösser sinnieren. Irgendwann musst du auch mal ins Meer gehen. Sonst kommen von der Familie leicht vorwurfsvolle Fragen à la „Willst du gar nicht ins Wasser?“ und wer will sich im Urlaub schon Vorwürfe anhören.

Also pritsche ich mir mit dem Sohn im Wasser den Beach-Volleyball zu. Wir wollen uns aber nicht nur einfach zupritschen, sondern einen neuen familieninternen Weltrekord im Dauerpritschen aufstellen. Der liegt bei sagenhaften 279 Wiederholungen, aufgestellt letztes Jahr auf Sardinien.

Das ist bei uns in der Familie immer so. Wir müssen aus allem einen Wettbewerb machen. Keine Ahnung, woran das liegt. Vielleicht weil ich als Kind gerne Olympische Spiele geschaut habe, bei Sportwettkämpfen aber nie sonderlich gut abgeschnitten habe. (Ich kann Sie aber beruhigen, dass wir zumindest keinen überdimensionierten, Champions-League-würdigen Pokal fürs Dauerpritschen haben. Noch nicht.)

Heute läuft das mit dem Pritschen noch nicht so richtig rund. Wir kommen auf lediglich 62 Wiederholungen. Die Rahmenbedingungen sind etwas gewöhnungsbedürftig. Das Wasser ist tiefer als auf Sardinien, der Wellengang etwas höher und der Steinboden etwas unebener, was die Standfestigkeit erschwert. Außerdem scheint mir der Sohn etwas unaufmerksam zu sein. Er konzentriert sich weniger auf den Ball, sondern mehr auf eine Gruppe von Teenagerinnen, die hinter mir ins Wasser steigt. Da wird es dann schwer mit dem neuen Dauerpritschen-Weltrekord.

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Beim abendlichen Kniffeln sind uns die Würfel gewogen. Die Tochter erzielt 263 Punkte, was aber nur zum vierten Platz reicht. Meine Frau kommt mit 310 nur auf den dritten Platz. Der Sohn wirft zwei Kniffel, womit er zwar 389 Punkte erreicht, aber trotzdem nicht gewinnt, weil ich ebenfalls zwei Kniffel und dazu – im Gegensatz zu ihm – auch die Große Straße werfe. Das bedeutet insgesamt 424 Punkte und den Tagessieg.

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Mond über Cassis

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Cassis 2022 – Tag 03 (11.07.): Wer hoch läuft, muss noch höher laufen. Und dann noch höher.

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6.30 Uhr. Ich wache auf. Für den Urlaub ein wenig früh. Aber immerhin eine halbe Stunde später, als der Wecker in Berlin geklingelt hat. (Ich habe bewusst nicht die Formulierung „eine halbe Stunde später, als der Wecker normalerweise in Berlin klingelt“ gewählt. Freitagmorgen habe ich nämlich vergessen, den Wecker auszustellen. Das heißt, er ist heute früh um 6 Uhr losgegangen. Und das wird er auch die nächsten zwei Wochen tun.)

Das frühe Aufwachen hat aber sein Gutes: Ich will heute das erste Mal laufen gehen. Bei den Temperaturen hier ist es besser, früher als später zu starten. Aber auch nicht zu früh. Im Urlaub um halb sieben zu joggen, hat so etwas unsympathisch Überambitionier­tes. Als wärst du deine eigene Eiskunstlauf-Mutter, die dich zu Höchstleistungen quält. Ich mache mir erstmal einen Kaffee.

Heute läuft es mit der Kaffeemaschine und mir tadellos. Ich stelle ihr Strom, Wasser und Kapseln zur Verfügung, sie gibt mir Kaffee. Bin mir allerdings nicht sicher, ob ich jetzt tatsächlich weiß, wie die Maschine funktioniert. Wahrscheinlich denkt die sich, bevor der Typ wieder kurz vorm Melt-Down steht, gebe ich ihm einfach Kaffee und dann kann er glauben, er wüsste, wie ich zu bedienen bin. (*zwinkizwonki*) Um ehrlich zu sein, ist mir das egal. Hauptsache ich habe Kaffee!

Ich gehe auf den Balkon und bringe meiner Frau einen Kaffee mit. (Kleine Aufmerksamkeiten erhalten bekanntlich die Ehe.) Sie kann ihn gut gebrauchen, sie ist schon seit 5 Uhr wach. (Stammleserinnen wissen, dass meine Frau viel älter ist als ich. In ihrem Alter brauchst du nicht mehr so viel Schlaf und wachst früh auf. Meine Frau wird das natürlich alles abstreiten. Sie wissen schon, der Altersstarrsinn!)

Wir schweigen ein wenig gemeinsam, genießen den Ausblick, trinken unseren Kaffee und lesen zwischendurch ein bisschen Internet.

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Cassis 2022 – Tag 02 (10.07.): Der mit der Kaffeemaschine tanzt. Oder sie mit ihm. (Teil 2)

Teil 1


Wie zu erwarten war, gestaltet sich der Rückweg zur Ferienwohnung erheblich anstrengender als der Hinweg. Denn wie heißt es so schön: Wer runter geht, muss auch wieder hoch gehen. „Hoch gehen“ trifft es eigentlich nicht richtig, denn es ist eher ein „steil gehen“. (Fragwürdige Wortspiele wie diese sind der Grund, warum der Blog kostenlos ist.)

Falls Sie regelmäßig Tour de France schauen, kennen Sie vielleicht den Mont Ventoux. Der hat eine Steigung von bis zu 13,3 Prozent und die Fahrer müssen bei der Überquerung fast 1.600 Höhenmeter absolvieren. Das ist der Berg, den Lance Armstrong immer in einem Höllentempo hochgerast ist, als wäre er bis in die Haarspitzen mit Epo vollgepumpt gewesen. (Oh, wait!?!)

Der Anstieg zu unserer Ferienwohnung ist quasi der Mont Ventoux der kleinen Urlaubenden. Er fängt steil an, dann wird es steiler, anschließend noch steiler und zum Schluss gibt es eine Treppe mit fast 100 Stufen. Und wir müssen die Strecke ohne Epo absolvieren. Dafür haben wir Baguettes und Croissants. Die dürfen wir aber erst zum Frühstück essen. (Mental note: Morgen Weg-Croissant kaufen.)

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Nach dem Frühstück bereiten wir uns auf ersten Strandbesuch vor. Direkt in Cassis gibt es zwei Strände. Der eine ist in der Nähe des Hafens und wird größtenteils von Familien frequentiert, der andere ist etwas weiter weg und dort baden vermehrt jüngere Menschen. Da es keinen Senior*innenstrand gibt, sehe ich mich demographisch eher am Familienstrand.

Strand. Noch leer.

Beide Strände sind Steinstrände. Wir haben noch nie an einem Steinstrand Urlaub gemacht und waren skeptisch, ob das nicht total unbequem ist. Das ist glücklicherweise nicht der Fall. Du liegst da sogar ausgesprochen gut. Und das schreibe ich nicht nur, um mir das schönzureden beziehungsweise schönzuschreiben. Es wäre natürlich ein riesiger Bockmist, 1.500 Kilometer zu verreisen, um dann am Strand wie auf einem beschissenen Nagelbrett zu liegen.

Der unschätzbare Vorteil eines Steinstrandes liegt darin, dass nicht überall an dir – und in dir – Sand klebt. Den schleppst du abends mit in deine Unterkunft, wo er sich kürzester Zeit bis in jeden letzten Winkel ausbreitet, so dass du recht bald einen eigenen Indoor-Strand hast. Der große Nachteil des Steinstrandes besteht allerdings darin, dass du keine Sandburgen bauen kannst. Da unsere Kinder dem Sandburgenbauen-Alter entwachsen sind, kümmert uns das nicht.

Als wir den Strand kurz nach zwölf erreichen, ist der schon ziemlich gut gefüllt. Aber kein Vergleich zu Sardinien vor vier Jahren. Da waren wir Anfang August, wenn ganz Italien Urlaub hat und ganz Italien ans Meer fährt und ganz Italien am Strand liegt. Handtuch an Handtuch an Handtuch an Handtuch.

So voll ist es hier am Strand bei weitem nicht. Es gibt schon noch das ein oder andere Fleckchen, wo wir uns gut hinlegen können. Zumindest nach italienischen Maßstäben. Französ*innen mögen es dagegen vielleicht nicht so gerne, wenn Wildfremde ihre Handtücher zweieinhalb Zentimetern neben ihnen ausbreiten. Auf Sardinien war das durchaus üblich und sozial vollkommen akzeptiert.

Die Kinder durchlaufen am Strand eine erstaunliche Metamorphose. Mit 18 und fast 16 sind sie für ausgelassene Strandaktivitäten eigentlich zu alt. Kaum erblicken sie aber das Meer, verwandeln sie sich in junge Hunde, die ins Wasser und herumtollen und Ball spielen wollen. Ungünstigerweise erwarten sie von ihrem Herrchen beziehungsweise Vater, dass er mitspielt.

Das passt nicht ganz zu meiner eigenen Strandmetamorphose. Sobald mein Körper das Strandtuch berührt, werden Botenstoffe an mein Gehirn gesandt, die signalisieren, meinen Stoffwechsel runterzufahren, bis nur noch die lebenswichtigen Organe im Sparbetrieb laufen. Der Rest meines Körpers befindet sich dann in einer Art Stase und ist nur noch eine träge, amorphe Masse. Ein Zellklumpen, der vor sich hinvegetiert, aber sich nicht in der Lage fühlt, ins Wasser zu gehen oder gar Ball zu spielen. Schließlich bin ich im Urlaub!

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Ich gewinne das abendliche Kniffelspiel mit einem Punkt Vorsprung vor dem Sohn. Damit bleibt er in der Gesamtwertung Erster und ich Dritter. Der Tochter gelingt das Kunststück exakt die gleiche Punktzahl wie gestern zu erzielen. Das ist aber kein Grund zur übermäßigen Freude, denn es sind nur 193.


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Cassis 2022 – Tag 02 (10.07.): Der mit der Kaffeemaschine tanzt. Oder sie mit ihm.

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„Fuck, fuck, fuck! Was ist das für eine verfickte Scheiße?“

Für einen ersten Morgen in der Ferienwohnung ein unangemessen unentspannter und geradezu aggressiver Ausbruch meinerseits. Das hat aber einen guten Grund. Seit fast einer Viertelstunde versuche ich, der Nespressomaschine einen Kaffee zu entlocken. Sie verweigert sich beharrlich.

Okay, beim ersten Mal war der Wassertank leer. Da konnte dann selbstverständlich kein Kaffee gekocht werden. Das war mein Fehler, das nehme ich auf meine Kappe. Die Nespressomaschine trifft da keine Schuld. Allerdings hätte sie mich auch freundlich darauf hinweisen können, anstatt nur unmotiviert mit ihrem An-/Aus-Knopf rumzufunzeln.

Auch nachdem ich Wasser nachgefüllt hatte, lief jedoch kein Kaffee. Aus der vorgesehenen Öffnung kam nur Wasser. Das wies nicht einmal den Hauch einer bräunlichen Färbung auf, so dass du es selbst mit gutem Willen nicht als Kaffeegetränk bezeichnen konntest.

Auch der zweite bis vierte Versuch führte zu dem gleichen Ergebnis: Ich drückte auf den Kaffeeknopf, heraus kam klares, durchsichtiges Wasser. Inzwischen war ich überzeugt, dass sich ein Dämon in Nespressomaschinen-Gestalt zum Ziel gesetzt hat, mich in den Wahnsinn zu treiben. Da kann es dann auch im Urlaub mal zu einer kleinen Verbaleruption kommen.

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Cassis 2022 – Tag 01 (09.07.): Sightseeing in Marseilles. Oder: So weit die Füße tragen.

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„Wollen Sie noch Frühstück dazu nehmen?“

Das hatte mich gestern Abend der Portier beim Einchecken gefragt. Wollte ich eigentlich nicht. Deswegen hatte ich das ursprünglich nicht mitgebucht. Weil ich dachte, das bekommen wir in einem Café bestimmt günstiger und das freut die Urlaubskasse.

„Kostet nur zehn Euro pro Person“, schob der Portier als Argument für das Frühstück hinterher. Also willigte ich ein. Schließlich wollte ich weder vor ihm noch vor dem Rest der Familie wie ein knauseriger Pfennigfuchser dastehen und das muss dann auch die Urlaubskasse verstehen.

Nun stehen wir im Essensraum und verschaffen uns einen Überblick. Die Tische stehen eng an eng. So können beim Frühstück möglichst viele Gäste gleichzeitig abgefrühstückt werden. (Wortspiele wie dieses sind der Grund, warum die Beiträge hier kostenlos sind.)

Das Buffet ist nicht übermäßig lang, aber reichlich bestückt. Mit Baguettes, Croissants, Brioches, Cornflakes, Müsli, Käse- und Wurstaufschnitt, verschiedenen Marmeladen, Honig, Karamell- und Schoko-Cremes, mehreren Joghurtsorten, Bechern mit geschnittenem Obst und diversen Kaffeespezialitäten aus dem Vollautomaten sowie A- und O-Saft. Auf einem Extratisch in der Ecke stehen etwas verschämt auch noch Rührei, gebratener Schinken und Würstchen.

Bei dieser Auswahl können wir uns die zehn Euro locker zurückholen. Zumindest in der Theorie. In der Praxis scheitert dieses Vorhaben bei mir kläglich. Direkt neben uns sitzen drei Männer und weil unsere Tische so dicht beieinanderstehen, muss ich ihnen beim Aufstehen entweder meinen Hintern oder meinen Penis ins Gesicht drücken. Da ich ihnen nicht das Frühstück und den restlichen Tag vermiesen möchte, hole ich mir lediglich einmal etwas am Buffet nach.

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Cassis 2022 – Tag 01 (09.07.): Sightseeing in Marseilles. Oder: So weit die Füße tragen. (Teil 2)

Teil 1


In der Stadt gibt es relativ wenige Shops von internationalen Marken oder Modeketten, sondern viele lokale und französische Geschäfte. Finde ich ganz gut, wenn Innenstädte nicht überall gleich aussehen. So einheitlich und genormt. Sonst müsste ich nicht nach Frankreich fahren, sondern könnte auch durch Wanne-Eickel, Bitterfeld oder Bromskirchen flanieren.

Bei einigen Geschäften kann ich nicht mit Sicherheit sagen, ob dort Parfüms und Seifen oder erlesene Pralinen und exquisites Gebäck verkauft werden. Oder beides. Hauptsache es schmeckt.

Ich möchte mit den Brioches Brüdern befreundet sein.

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Zum Abschluss und nicht zur uneingeschränkten Begeisterung des Sohns laufen wir zu einer weiteren Kirche, zur Cathédrale de la Major. Er verzichtet darauf, mit uns reinzugehen, sondern besichtigt in seinem Smartphone lieber die neuesten TikTok-Videos und Instagram-Storys.

Als wir die Kathedrale wieder verlassen, rutscht gerade eine ältere, leicht dickliche Italienerin am Ende der Treppe aus und sitzt nun auf ihrem Allerwertesten. Zum Glück ist ihr nichts Schlimmes passiert. Ihre größte Pein ist die Verwandtschaft, die in heller Aufregung, wild schnatternd um sie herumsteht und ihr aufhelfen will. Der Frau missfällt das um sie gemachte Aufheben und sie reagiert auf die Hilfsangebote recht unwirsch. Sie will in Ruhe gelassen werden und allein aufstehen. Vielleicht will sie auch in Ruhe gelassen werden und sitzen bleiben. Ist ja schließlich Urlaub.

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Gegen 16 Uhr fahren wir mit dem Regionalzug nach Cassis. Vom Bahnhof zu unserer Ferienwohnung ist es ein kleiner Fußmarsch. Aber nur gut 1.000 Meter. Also, alles im Rahmen des Machbaren. Selbst mit schwerem Rucksack und großen Koffern.

Dachten wir zumindest. Als meine Frau Google Maps für die Route konsultiert, wird die Entfernung plötzlich mit 2.500 Metern angegeben. Obwohl der Sohn im Laufe des Tages bereits tausende von Schritten durch Marseille gegangen ist und 2.500 Meter das monatliche Bewegungspensums eines Teenagers ist, hat er seine Gesichtszüge unter Kontrolle und nimmt die Nachricht regungslos entgegen. Oder bei den Worten „2.500 Meter“ ist irgendetwas in ihm gestorben und ihm fehlt der Lebenswillen, sein Gesicht zu verziehen.

Es stellt sich schnell heraus, dass nicht nur die zweieinhalb Kilometer Wegstrecke problematisch sind. Auch die Rahmenbedingungen sind alles andere als optimal. Es gibt größtenteils keine geteerten Bürgersteige und wir müssen unsere Koffer über staubige Stein- und Sandwege hinter uns herziehen. Um präzise zu sein, müssen meine Frau und der Sohn das tun. Ich dagegen trage unseren schweren Trekkingrucksack auf dem Rücken und einen weiteren vollgestopften kleineren Rucksack seitlich auf der Schulter. So wie sich meine Frau und der Sohn mit den Koffern abmühen, habe ich den Eindruck, trotzdem das bessere Los gezogen zu haben. In der Situation halte ich es aber nicht für hilfreich, ihnen dies mitzuteilen. Vor allem weil die beiden der Ansicht sind, dass ich mich am meisten abmühen muss.

Ab und an gibt es gar keinen Fußgängerweg, sondern nur einen kleinen abgesetzten Streifen an der Straße. Das hat den Vorteil, dass der Boden geteert ist, aber den Nachteil, dass die Autos recht nah an dir vorbeifahren.

Die Temperatur liegt bei über 30 Grad und es gibt nicht übermäßig viele Bäume, die Schatten spenden. Mit jedem Schritt werden die Koffer und Rucksäcke schwerer, die Rücken- und Armmuskulatur wird schwächer und die gute Laune und Urlaubsfreude machen sich irgendwo zwischen Kilometer 1 und 1,5 klammheimlich aus dem Staub.

Nach knapp 30 Minuten kommt es beinahe zu einem ehelichen Eklat. Meine Frau erklärt, die Tochter, die erst heute Abend nachkommt, könne diesen Weg unmöglich allein gehen. Am besten solle sie sich in Marseille ein Taxi nehmen. Nun ist Marseille mehr als 30 Kilometer von Cassis entfernt, was diesen Vorschlag in meinen Augen ein wenig abwegig erscheinen lässt. Dennoch möchte ich rückblickend zugeben, dass meine Reaktion nicht zu Unrecht als wenig konstruktiv und lösungsorientiert aufgefasst werden könnte.

„MIT DEM TAXI? VON MARSEILLE?“, frage ich. Die Lautstärke meiner Fragen entspricht nicht gänzlich den sozial akzeptierten Konversationsnormen. Dabei habe ich meine Gesichtszüge weit weniger gut unter Kontrolle als der Sohn eben am Bahnhof.

Meine Frau würdigt meine Fragen, die ohnehin mehr rhetorischer und noch mehr provokativer Natur waren, nicht mit einer Antwort. Sie erklärt, wir sollten schon mal vorgehen, sie benötige etwas Abstand. Und wahrscheinlich etwas Zeit, um zu recherchieren, was ein Taxi von Marseille nach Cassis kostet.

Nach fast 40 Minuten Fußmarsch finden wir den Ferienwohnungskomplex und nach weiteren fünf Minuten den Eingang zu unserem Appartement.

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Später schreibe ich der Tochter, sie solle sich am Bahnhof in Cassis ein Taxi nehmen. Ein schöner Kompromiss, wie ich finde. Friedensstiftend und geldsparend. Die Tochter fährt Taxi, aber keine 30 Kilometer. Falls sie keines mehr bekäme, solle sie mir Bescheid geben, schreibe ich weiter. Dann würde ich sie abholen und ihr mit dem Koffer helfen.

Als die Tochter die Nachricht liest, ist sie fast schon den kompletten Weg zur Ferienwohnung gelaufen und ich muss ihr nur noch knapp 200 Meter entgegengehen. Sie ist zwar etwas rot im Gesicht, aber dennoch frohgemut. Scheinbar hat sie unterwegs unsere gute Laune und Urlaubsfreude wiedergefunden und mitgebracht.

Cassis bei Abendrot

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Auch ausgedehnte Sightseeing-Spaziergänge, beschwerliche Wege vom Bahnhof und der Anflug von Zwietracht entbinden die Familie nicht, am ersten Urlaubstag das traditionelle Urlaubskniffel-Turnier zu starten. Der Sohn ist dieses Jahr Pokalverteidiger. Und wenn ich Pokal schreibe, meine ich auch Pokal. Im ersten Corona-Lockdown hatte ich in einem Anflug von Lagerkoller einen Champions-League-würdige Trophäe gekauft – nur von der Größe Champions-League-würdig, nicht vom Materialwert -, in deren Sockel seitdem die Gewinner*innen unserer Kniffel-Wettbewerbe graviert werden.

Neben der Verewigung auf dem Pokal geht es um ein Spaghetti-Eis aus der Waffel von der Eisdiele bei uns um die Ecke. Die Zweit- bis Viertplatzierten dürfen sich eine einzige Kugel Eis aussuchen. Das ist noch demütigender als gar kein Eis zu bekommen.

Der Sohn gewinnt das erste Spiel des Urlaubs, aber alle liegen noch nah beieinander. Da ist noch nichts passiert und alles offen.


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Cassis 2022 – Anreise (08.07.): Nur Amateure erreichen ihre Anschlusszüge sofort (Teil 2)

Teil 1


Endlich können wir unsere Plätze im TGV einnehmen. Allmählich setzt so etwas wie Urlaubsentspannung ein. Jetzt, wo wir im richtigen Zug sitzen, kann nicht mehr viel passieren. Eine naiv vorschnelle Einschätzung, die sich leider bereits ab der nächsten Station als unfassbar falsch erweisen wird.

In Karlsruhe steigt eine größere Gruppe von Mittzwanziger*innen ein, die ihren Alkoholpegel bereits in beachtliche Höhen getrunken haben. Ihr Gebaren stellt mein für gewöhnlich naiv-positives Menschenbild auf eine harte Probe. Vor allem die Männer der Gruppe benehmen sich, als würden sie sich als „Manta, Manta“-Komparsen bewerben, aber nicht genommen werden, weil sie ihre Performance zu sehr übertreiben. Sie sind laut, rücksichtslos, unfreundlich, dreist, ordinär, und latent aggressiv. Dabei saufen sie Wodka-Lemon, Jägermeister, Berliner Luft, Whisky-Cola und Bier in Mengen, denen mein 18-jähriges Ich möglicherweise Respekt gezollt hätte, aber mein 46-jähriges Ich hofft insgeheim auf eine Alkoholvergiftung. Natürlich keine komatöse, aber schlimm genug ist, sie ihre Zugreise abbrechen müssen.

Mit zunehmenden Alkoholkonsum wird die Gruppe noch lauter, noch rücksichtsloser, noch unfreundlicher, noch dreister, noch ordinärer und weniger latent aggressiv. Meine In-Ear-Kopfhörer laufen mittlerweile auf voller Lautstärke. Wahrscheinlich fragt sich mein Trommelfell, ob ich nicht mehr alle Tassen im Schrank habe. Trotzdem höre ich kaum etwas von meiner Musik, sondern vor allem das Gegröle und die dummen Sprüche der Prolos vor uns. Vielleicht wäre es doch nicht so schlecht gewesen, wenn wir den TGV nicht mehr bekommen hätten.

Für einen kurzen, aber schrecklichen Moment habe ich die Horrorvorstellung, die Assis on Tour fahren ebenfalls nach Cassis und haben alle Ferienwohnungen neben unserer gemietet. Glücklicherweise steigt die Gruppe in Lyon aus. Es wäre keine schlechte Idee, wenn das Goethe-Institut im Sinne der deutsch-französischen Völkerverständigung in den nächsten Tagen einige feingeistige Kulturveranstaltungen in der Region zwischen Strasbourg und Lyon organisieren würde. Am besten mit freiem Eintritt. Wäre für die Imagepflege Deutschlands in Frankreich keine schlechte Maßnahme.

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Die eingekehrte himmlische Ruhe nutze ich, um mich in unserem Reiseführer über Marseille zu informieren. Mit 2.600 Jahren ist es die älteste Stadt Frankreichs und laut der Autorin ein „Schmelztiegel der Nationen“. Mit seinen über 100 Vierteln sei Marseilles chaotisch, voller Widersprüche, aber auch voller Poesie. (Was immer das heißen soll.) Die Gegensätze der Stadt zeigten sich darin, dass Marseille, seit es 2013 europäische Kulturhauptstadt war, über ein neu gestaltetes Hafenviertel, neue Museen und zahlreiche Meisterwerke der zeitgenössischen Architektur verfügt. Gleichzeitig fänden in den nördlichen Armenvierteln mörderische Kriege rivalisierender Drogenbanden statt.

Am Bahnhof Marseille-St-Charles angekommen, lassen wir uns von Google Maps den Weg zum Hotel weisen. Das Smartphone findet, es sei eine gute Idee, uns durch enge, finstere und heruntergekommene Gassen zu schicken. Die sehen aus, als belegten sie die vorderen Plätze der Top-Ten-Liste „Orte, die du in Marseille unbedingt meiden solltest“. Mit unseren Rucksäcken, Koffern und Handys in den Händen sind wir als so leichte Touri-Beute zu identifizieren, da hätten wir uns auch gleich Zettel mit der Aufschrift „Raubt uns aus!” an den Rücken heften können. Ich frage mich, ob unser Hotel wohl im Norden der Stadt liegt und gleich die Drogengangs ihre tödlichen Auseinandersetzungen anfangen.

Entgegen meiner Befürchtung erreichen wir unbehelligt unser Hotel. Ich habe ein B+B-Hotel gebucht, weil ich keine Experimente eingehen wollte. In Deutschland haben B+B-Hotels zwar diesen genormten, seelenlosen Charakter, den alle Business-Hotels haben. Dafür bieten sie aber einen okayen Standard zu okayen Preisen und du bekommst eigentlich immer das, was du erwarten kannst.

Als Reiselogistik-Beauftragter muss ich den Check-In übernehmen. Ich frage den freundlichen Nachtportier, ob er Englisch spräche, was er bejaht. Er erkundigt sich, ob wir eine gute Anreise hatten. In einer Art Übersprungshandlung antworte ich: „Si!” Von unserem unfreiwilligen Umstieg in Mannheim, den nervigen Proll-Assis im TGV und unserem furchteinflößenden Weg vom Bahnhof zum Hotel erzähle ich nichts. So gut Englisch spricht der junge Mann doch nicht. Und ich um diese Uhrzeit auch nicht.

Stattdessen erkläre ich ihm, ich hätte ein Zimmer unter meinem Namen reserviert. Das ist für den Portier möglicherweise ein Problem. Bei meinem Doppelnamen beginnen beide Nachnamen mit H und die meisten Französ*innen haben es ja meistens nicht so mit dem Buchstaben H. Der Portier stört sich daran aber nicht. Nachdem er meine Reservierung im Computer gefunden hat, überreicht er mit die Zimmerschlüsselkarten mit den Worten: „Here you are, Mr. Anne-Erkommer“.

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Mit dem kleinsten Aufzug, den ich jemals gesehen habe, fahre ich in den dritten Stock. Angeblich ist er für zwei Personen ausgelegt. Aber nur für zwei Personen mit einem Body-Mass-Index im einstelligen Bereich. Außerdem sollten sie besser in einer körperlich intimen Paarbeziehung leben. Da macht es ihnen nichts aus, wenn sie sich in einer Gesichtsentfernung von circa zweieinhalb Zentimetern gegenüberzustehen. Ich passe mit meinem Trekkingrucksack gerade so in die Kabine und bin heilfroh, dass ich nach einer ruckeligen Fahrt auf unserer Etage ankomme. Meine Frau und der Sohn entscheiden sich für die Treppe.

Unser Zimmer ist etwas heruntergekommen. Die Möbel sind aus dunklem Holz mit der ein oder anderen Macke, die Wände könnten mal wieder einen Anstrich vertragen und der Teppich ist abgetreten. Im Bad gibt es ein extrem grelles Licht, das die Unzulänglichkeiten des eigenen Körpers und des Raumes gleichermaßen unvorteilhaft in Szene setzt. Etwas eng ist es in dem Zimmer auch, da noch ein Beistellbett für den Sohn hinzugestellt wurde. Zu seiner leichten Enttäuschung, die er nicht verbalisierte, die aber für den Bruchteil einer Sekunde seiner Mimik zu entnehmen war, hat er nämlich kein eigenes Zimmer bekommen.

Alles in allem ist das Zimmer aber okay. Ist ja nur für eine Nacht. Es hat vielleicht nicht ganz den Standard eines deutschen B+B-Hotels, aber auch keinen seelenlos genormten Charakter. Welchen Charakter es stattdessen hat, weiß ich auch nicht. Für shabby-chic ist es zwar shabby genug, aber nicht ausreichend chic. Damit passt es eigentlich ganz gut zu mir.


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