Die Stockholm Diaries (11. Juni): Tag 1

Die kompletten Folgen der Stockholm Diaries finden Sie hier.


Wir treffen uns mit den Kindern zum Frühstück in einem Espresso House in der Nähe unseres Hotels. Espresso House ist eine Art schwedisches Starbucks-Kette, wurde allerdings bereits 1996 gegründet, und es gibt so viele Espresso House-Filialen in Stockholm, dass Starbucks keine Chance hatte, sich jemals in der Stadt auszubreiten. Ich habe in ganz Stockholm lediglich am Hauptbahnhof einen Starbucks gesehen. Dafür gibt es im Durchschnitt alle 200 Meter ein Espresso House. Manchmal auch drei Filialen auf 200 Metern. Oder auf 100 Metern. Die Espresso House-Dichte in Stockholm ist so hoch, dass es mich nicht wundern würde, wenn in einem Espresso House eine weiteres Espresso House eröffnet würde.

Zum Frühstück essen wir, wie es sich für Schweden-Touristen gehört, Zimtschnecken. Die sind zimtig und fluffig und köstlich. Daran könnte ich mich gewöhnen: Mit einer Zimtschnecke in den Tag starten. Das würde meine Lebensqualität in Deutschland definitiv steigern. Nicht arbeiten müssen und um halb elf in einem Coffee House abhängen, würde ebenfalls zur Steigerung meiner Lebensqualität beitragen. Nicht nur in Deutschland, sondern überall.

Als Stockholm-Touristen frühstücken wir nicht nur Zimtschnecken, sondern besuchen auch den Skyview. Skyview hört sich an wie der Titel eines sehr langweiligen James-Bond-Films, bei dem 007 im Urlaub die höchsten Gebäude der Welt besichtigt, ist aber eine Art Aussichtsplattform auf der Avicii-Arena, dem größten kugelförmigen Gebäude der Welt. Dort fährt eine Gondel die Außenwand der Arena hoch und ganz oben gibt es dann auf 130 Metern Höhe einen 360-Grad-Blick über Stockholm.

Bevor wir die Gondel besteigen dürfen, gibt es erstmal ein Video mit Semi-Wissenswertem zur Arena, zu den anderen Veranstaltungsorten auf dem Areal und zu den Gondeln. Die meisten Informationen vergesse ich, kaum dass der Erzähler sie ausgesprochen hat. Ich merke mir lediglich, dass es 40 Jahre dauern würde, die Arena mit einem normalen Wasserschlauch mit Wasser volllaufen zu lassen. Keine Ahnung, warum das jemand machen wollen würde, aber es würde auf jeden Fall sehr, sehr lange dauern.

Das Video preist die Konstruktion der Kugel-Arena als weltweit einzigartig und als Ausdruck höchster Ingenieurs-Kunst an. Dazu wird ein Cartoon-Männchen gezeigt, das mit angestrengtem Gesichtsausdruck mit Schere, Papier und Kleber irgendetwas zusammenbaut. In meinen Augen nicht gerade eine vertrauensbildende Animation, um die Statik und Sicherheit des Gebäudes hervorzuheben.

Die Aussicht nach der circa fünfminütigen Fahrt ist aber wirklich recht sehenswert. Das Vergnügen ist nur ein klein wenig geschmälert, weil ich bei jeder Schraube und jeder Schweißnaht, die ich sehe, denke: „Krass, das haben echte Menschen wie du und ich gebaut.“ Besonders der Gedanke, ich wäre an dem Bau beteiligt gewesen, ist ziemlich besorgniserregend.

Und was ist, wenn jemand, der tatsächlich an der Arena mitgebaut hat, einen schlechten Tag hatte, weil sein Lieblingsverein am Vorabend aus dem Pokal ausgeschieden ist, er Streit mit seiner Frau hatte oder morgens die Cornflakes alle waren, die er seit 25 Jahren immer zum Frühstück isst, weswegen er mit seinen Gedanken woanders war und deswegen hat sich bei ihm eine gewisse Unachtsamkeit beim Schweißen und Schrauben eingeschlichen, was letztendlich dazu führt, dass die Gondel, in der ich mich gerade befinde, ausgerechnet am 11. Juni 2022, exakt um 13.20 Uhr, auseinanderbricht und wir über 100 Meter in die Tiefe stürzen und als Hackfleisch vor dem Eingang der Avicii-Arena landen? Wie Sie wahrscheinlich schon vermutet haben, haben sich meine Befürchtungen nicht bewahrheitet, denn sonst hätte ich diese Zeilen nicht schreiben können. Die Lieblingsvereine waren alle erfolgreich, die partnerschaftlichen Beziehungen durch Harmonie geprägt und für Cornflakes-Nachschub war auch gesorgt, so dass alle am Bau der Arena und der Gondeln beteiligten mit der gebotenen Sorgfalt arbeiteten und wir konnten heute wohlbehalten und in einem Stück vom Skyview zurückkehren.

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In der Shopping-Mall neben der Avicii-Arena überprüfen wir, ob sich ein schwedischer H+M von einem deutschen H+M unterscheidet. Was das Angebot angeht, eher nicht, wobei ich das nicht mit Gewissheit sagen kann, weil es schon länger her ist, dass ich in einem H+M war. Preislich aber schon, was ich allerdings ebenfalls nicht mit Gewissheit sagen kann, weil es ja schon länger her ist, das ich in einem H+M war, aber es wäre erstaunlich, wenn H+M-Klamotten die einzigen Produkte wären, die in Schweden billiger als in Deutschland sind.

Der Tochter und dem Sohn sind die preislichen Nachteile des schwedischen H+M egal – was damit zusammenhängen könnte, dass sie die Sachen nicht bezahlen müssen – und probieren ein paar Sachen an, meine Frau begleitet sie in die Umkleidekabinen. Da mein Input bei der Erörterung von Fragen modischer Art vom Rest der Familie als irrelevant betrachtet wird, hänge ich allein vor den Provrums ab, wobei ich mir wie ein lustmolchender Lüstling vorkomme. Um diesem Eindruck entgegenzuwirken, tue ich so, als interessierte ich mich für die Auslagen. Da ich mich in der Damenabteilung befinde, begutachte ich BHs, bauchfreie Tops und ultra kurze Hot Pants, so dass mich spätestens jetzt auch alle anderen Kund*innen und Verkäufer*innen für einen lustmolchenden Lüstling halten. Ich hätte größtes Verständnis, wenn die Filialleiterin von ihrem Hausrecht Gebrauch würde und mich des Ladens verwiese.

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Nachmittags flanieren wir durch die Stockholmer Altstadt, die den hübschen Namen Gamla Stan trägt, was ich mit meinem schlichten und leicht zu erheiternden Gemüt mit gammelige Stadt übersetze. Unter anderem kommen wir am königlichen Schloss vorbei. Die Leibgardisten, die dort vor den Eingängen postiert sind, sehen wie 15-jährige Milchbubis aus, die noch nie in ihrem Leben einen Rasierer benutzen mussten und sehnsüchtig auf ihren Stimmbruch warten. Da sie aber alle mit Gewehren und Bajonetten bewaffnet sind, beschließe ich, diese Beobachtung für mich zu behalten und keine Scherze darüber zu machen.

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Später laufen wir rüber zur Insel Skeppsholmen. Von da aus sehen wir Gröna Lund, Schwedens ältesten Vergnügungspark. Dort gibt es verschiedene furchteinflößende Achterbahnen, in denen du teilweise während der kompletten Fahrt kopfüber hängst, Berg- und Talbahnen und Frei-Fall-Türme. Das schlimmste Gerät scheint mir ein Ketten-Karussell zu sein, das auf eine Höhe von 120 Metern hochfährt, wo dann mit einer Geschwindigkeit von 70 km/h getestet wird, ob die Ketten, mit denen die Sitze mit dem Karussell verbunden sind, den Fliehkräften auch wirklich standhalten. So wie die Besucher*innen des Parks die ganze Zeit schreien und kreischen, haben sie entweder eine super gute oder eine super schreckliche Zeit. Wahrscheinlich beides.

Wir diskutieren, für wie viel Geld wir mit dem Gerät fahren würden, das wir am schlimmsten finden. Mein Preis liegt bei 100.000 Euro für das Kettenkarussell. Die Tochter findet, 100. 000 Euro seien wahrscheinlich zu wenig, aber für eine Million Euro würde sie wohl auf das Frei-Fall-Ding gehen. Meine Frau erklärt, sie würde nicht einmal für zehn Millionen Euro in irgendeins der Geräte steigen, denn was nütze ihr das Geld, wenn ihr Herz während der Fahrt stehen bliebe und sie stürbe. Ich werfe die Frage auf, ob in einem solchen Fall die Angehörigen das Geld bekämen, dann könne sie die Fahrt vielleicht doch in Betracht ziehen. Meine Frau schüttelt den Kopf. (Eine gute Beziehung hält es auch mal aus, wenn du nicht immer einer Meinung bist.)

Der Sohn erklärt, er würde auch ohne Bezahlung mit allen Sachen fahren, aber nur wenn jemand mitkäme, denn allein würde das ja keinen Spaß machen. Und wenn ihm dann noch jemand zehn Millionen Euro gäbe, würde er die natürlich nicht ablehnen. Möglicherweise spekuliert er darauf, dass er wenigstens die 525 Kronen für den Eintritt von uns bekommt. Da hat er sich aber geschnitten. Wenn er mir allerdings 100.000 Euro gibt, würde ich Kettenkarussell mit ihm fahren. Vielleicht.

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Zum Abendessen landen wir in einer Pizzeria, in der du dir die Speisekarte per QR-Code aufs Handy lädst und deine Bestellung und Bezahlung online vornimmst. Das reduziert den Kontakt zum Personal auf ein Minimum, denn das siehst du nur, wenn es dein Essen bringt. (Das benutzte Geschirr musst du selbst wegräumen.) Eigentlich müsste das Menschen wie uns entgegenkommen, die darum bemüht sind, soziale Interaktionen möglichst zu vermeiden, aber irgendwie fühlt sich das trotzdem komisch an. Dafür sind die Pizzen und Salate aber extrem lecker.

Etwas unangenehm wird es, als ich aufs Klo muss. Da die Pizzeria Teil eines Einkaufszentrums ist, hat sie keine eigenen Toiletten, sondern du musst die sanitären Anlagen in der Mall benutzen. Gleichzeitig mit mir steht am Nachbartisch eine Frau auf, die anscheinend ebenfalls zur Toilette will. Nun laufe ich ihr durch das um die späte Uhrzeit menschenleere Einkaufszentrum hinterher und komme mir schon wieder wie ein lustmolchender Lüstling vor.

Damit die Situation weniger unangenehm ist, gehe ich etwas langsamer, um den Abstand zwischen uns zu vergrößern. Das hat zur Folge, dass ich auf der Rolltreppe hoch zu den Toiletten mit meinem Kopf genau auf Höhe ihres Hinterns bin.

Die Frau scheint mich trotzdem nicht für einen lustmolchenden Lüstling zu halten, sondern wirkt ganz entspannt. Aber sie weiß ja auch nicht, dass ich heute Mittag im H+M vor den Umkleidekabinen rumgelungert bin und mir aufreizende Damenkleidung angeschaut habe.



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34 Kommentare zu “Die Stockholm Diaries (11. Juni): Tag 1

  1. Urgroßmutter auf Schwedisch: gammelmormor – ungelogen! Loģisch: mor=Mutter, mormor=Mutter der Mutter/Großmutter und eben …

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