Die Stockholm Diaries (13. Juni): Tag 3

Die kompletten Folgen der Stockholm Diaries finden Sie hier.


Um kurz nach sieben schicken wir eine kurze Nachricht an den Sohn, um zu kontrollieren ob er aufgestanden ist und rechtzeitig zur Schule geht. Allerdings darf der Text nicht wie eine Kontrollnachricht rüberkommen. Schließlich sind wir moderne, entspannte Eltern, die ihre Kinder zur Selbstständigkeit erziehen – sie sollen ja irgendwann ausziehen –, und da gehören Kontrolle, Misstrauen oder gar Zwang selbstverständlich nicht zu unserem pädagogischen Instrumentarium.

Wir fragen ihn stattdessen kurz, ob er gut geschlafen habe, und wünschen ihm einen guten Tag in der Schule. Der Sohn antwortet mit einem „Daumen hoch“-Emoji. Das heißt zwar nicht zwangsläufig, dass er er pünktlich zum Unterricht erscheinen wird, aber wenigstens ist er wach. Oder er hat einen Bot programmiert, der unsere Nachrichten automatisch beantwortet. Das ist nicht unrealistisch, denn der Sohn schickt auf meine Fragen bei WhatsApp meistens ein „Daumen hoch“-Emoji. Ganz egal, wie die Frage lautet.

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Mit der Tochter treffen wir uns heute erst etwas später. Vorher wollen wir uns touristisch betätigen und ins Wasa-Museum gehen. Da war die Tochter schon zwei Mal mit Freundinnen und sie hat uns zwar gerne, jedoch nicht so gerne, dass sie ein drittes Mal dort hingehen will.

Vor die Kultur hat der Urlaubsgott aber erstmal das Frühstück gesetzt. (Gelobt sei der Herr!) Wir verlassen heute aber die gewohnten Pfade und gehen nicht ins Espresso House, sondern zu Fabrique, einer Stockholmer Bäckerei-Kette, die auf traditionelles Backhandwerk und natürliche Zutaten setzt und in unserem Reiseführer in den höchsten Tönen angepriesen wurde. Fabrique ist besonders für sein im Holzofen gebackenes Sauerteig-Brot bekannt. Damit halten wir uns aber nicht auf, sondern nehmen Zimtschnecken. Allzu weit wollen wir die gewohnten Pfade dann doch nicht verlassen.

Im Vergleich zum Espresso House haben die Zimtschnecken bei Fabrique eine etwas festere Konsistenz, ähnlich den Föhrer Campingwecken. Außerdem sind sie etwas zimtiger und entwickeln im Abgang eine für meinen Geschmack etwas zu aufdringliche Kardamom-Note, die bei mir noch fast den ganzen Tag beim gelegentlichen Aufstoßen nachklingen wird. (Eine Information, auf die Sie bestimmt gerne verzichtet hätten.)

Aber bevor ich wie ein verdammter Backwaren-Connaisseur klinge: Es ist immer noch eine super leckere Zimtschnecke, die größtenteils aus Kohlenhydraten und Fett besteht, direkt das neuronale Belohnungszentrum anspricht und eine ähnliche Wirkung wie Heroin erzielt.

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Zimtschneckengestärkt machen wir uns auf den Weg zum Wasa-Museum. Als erstes laufen wir zur Insel Skeppsholmen. Von dort aus haben wir am Samstag das Museum gesehen und da musst du dann nur noch ein Stück nach links gehen, irgendwann kommt dann eine Brücke und dann bist du fast schon da. Dachten wir zumindest. Und weil wir das dachten, hielten wir es nicht für nötig, uns den Weg auf Google Maps nochmal genauer anzuschauen. Das wäre klug gewesen. Als wir nämlich eine Weile „ein Stück nach links” gegangen sind, kommen wir plötzlich wieder bei der Brücke raus, über die wir kurz zuvor auf die Insel gelangt sind. Was mir erst auffällt, nachdem meine Frau mich darauf aufmerksam macht. (Service-Tipp: Falls Sie sich mal verlaufen und dann auf mich treffen, gehen Sie auf jeden Fall weiter, bis sie eine andere Person finden, die sie nach dem Weg fragen können.)

Wir haben also völlig umsonst Skeppsholmen umrundet, dafür haben wir um 11.30 Uhr fast schon unser 10.000-Schritte-Tagesziel erreicht.

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Nach einer kurzen Google-Maps-Konsultation und einem weiteren 30-minütigen Fußmarsch kommen wir beim Wasa-Museum an, wo das gleichnamige Schiff ausgestellt wird. (Damit keine Missverständnisse aufkommen: Das Schiff heißt Wasa, nicht Wasa-Museum. Sonst hieße das Museum ja Wasa-Museum-Museum.)

Die Eintrittspreisgestaltung des Museums ist recht interessant. Bis einschließlich 18 Jahre musst du nichts bezahlen, ab 19 Jahre sind stolze 190 Kronen fällig. Ich überlege, ob wir zumindest meine Frau als 18-jährige reinschleusen können. Realistischer wäre es wahrscheinlich, für mich den Senioren-Rabatt zu erschwindeln. Da es den aber nicht gibt, zahlen wir die 380 Kronen Eintritt und tun einfach so, als ginge das uns – und vor allem unser Konto – nichts an.

Die Wasa wurde in den 1620ern gebaut, hatte eine Länge von ungefähr 60 und eine Höhe von rund 50 Metern und war damals eines der größten und am stärksten bewaffneten Kriegsschiffe der Welt. Und anscheinend eines der am schlechtesten konstruierten. Bei seiner allerersten Fahrt im August 1628 hatte es kaum den Hafen verlassen, als es durch einen Windstoß in Schieflage geriet, mit Wasser volllief und innerhalb von 20 Minuten sank. Dagegen kann die Jungfernfahrt der Titanic als ein voller Erfolg gelten.

Das alles war kein Ruhmesblatt für die schwedische königliche Marine und wahrlich kein Grund, zum Gedenken an die Wasa ein Museum zu errichten. Aber 333 Jahre nach ihrem Untergang konnte das Schiff geborgen und in einem jahrzehntelangen Prozess unter Verwendung von 98 Prozent der Originalbauteile restauriert werden. Heute gilt die Wasa als das am besten erhaltene Schiff des 17. Jahrhunderts. Da lohnt sich ein eigenes Museum schon.

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Später starte ich den Selbstversuch, ob Zimtschnecken auch ein leckeres Mittagessen sind, und nachdem ich diese Frage mit „Ja“ beantworten kann, fahren wir nach Farsta im Süden von Stockholm, wo die Tochter wohnt. „Noch“ wohnt, um genau zu sein, denn sie reist am Mittwoch zurück nach Deutschland.

Daher hat sie uns gebeten, ob wir morgen ein paar Sachen für sie mitnehmen können, weil sie sonst Schwierigkeiten mit dem Gepäck auf der Heimfahrt bekäme. Als liebende und treusorgende Eltern machen wir das selbstverständlich gerne. Wir haben dafür sogar extra einen großen Koffer mitgebracht. Wobei ich mich schon gefragt habe, was die Tochter in sechs Monaten alles gekauft hat, dass sie jetzt einen dritten Koffer benötigt. Die Antwort lautet Bücher. Sehr viele Bücher. Deswegen dürfen wir morgen einen Kubikmeter Bücher von Stockholm nach Berlin mitschleppen (mit Umstiegen in Kopenhagen und Hamburg).

Freimütig erzählt die Tochter, dass sie noch nicht alle der Bücher lesen konnte, was bei mir die Frage aufwirft, ob sie sich nicht immer erst ein neues Buch hätte kaufen können, nachdem sie eins gelesen hat. Das sage ich aber nicht laut, denn da stehe ich beim weiblichen Teil der Familie auf verlorenem Posten. Meine Frau hat auf ihrem Nachttisch einen Stapel ungelesener Bücher, der so hoch ist, dass sie bald eine Trittleiter benötigt, um an das oberste Buch ranzukommen. Das Gebilde hat die Stabilität eines Jenga-Turms und wird irgendwann nachts einstürzen und uns erschlagen.

Bei einigen der Büchern, die die Tochter gekauft hat, handelt es sich um schwedische Harry-Potter-Ausgaben. Die konnte sie auch nicht lesen, weil ein halbes Jahr in Stockholm nicht ausreicht, um so viel Schwedisch zu lernen, dass du 500-Seiten-Schwarten lesen kannst. Das ist aber nicht schlimm, denn wir haben zu Hause bereits alle Harry-Potter-Bücher. In Deutsch und in Englisch. Für mich persönlich wäre das ein Grund, mir keine weiteren Ausgaben zuzulegen und vor allem nicht in Sprachen, die ich nicht beherrsche. Aber die Tochter fand die Cover so schön gestaltet, dass sie die Bücher einfach kaufen musste. Meine Idee, aus Gründen der Gewichtsreduzierung, die Cover abzutrennen und die schwedischen Seiten wegzuwerfen, äußere ich lieber nicht, als ich sehe, wie meine Frau die Bücher ganz verliebt anschaut und versonnen über die Einbände streichelt.

Nun gut, andere Menschen im Alter der Tochter geben ihr Geld für Drogen aus, sie für Bücher. Das ist ja eigentlich ganz schön. Wie schön das für meinen Rücken ist, werden wir dann morgen sehen.

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Wir bringen zuerst den Bücherkoffer in unser Hotel und gehen dann noch kurz in den Supermarkt. In unserem Einkaufskorb liegen kleine Zimtschnecken, Chips, Nüsse und Schokokekse. Sieht aus als würden wir für einen Kindergeburtstag einkaufen, ist aber der Proviant für unsere morgige Heimfahrt. Um genau zu sein, für den ersten Teil unserer Heimfahrt von Stockholm nach Kopenhagen. Dort kommen wir um halb zwei an und haben zwei Stunden Aufenthalt. Genug Zeit für ein Mittagessen und um unseren Proviant für die Weiterfahrt nach Hamburg und dann Berlin aufzustocken.

Meine Frau legt noch ein Päckchen Cherry-Tomaten in den Einkaufskorb. Vielleicht hat sie Angst, dass wir auf der Heimfahrt Skorbut bekommen. Ich ziehe die Augenbrauen nach oben, was so viel heißt wie „Ist das dein Ernst?” (Nach 25 Jahren Beziehung kannst du mit wenigen Worten und mit viel Mimik und Gesten kommunizieren.) Meine Frau erklärt, die Tomaten seien lecker und erfrischend und sie würde die total gerne essen. Ich habe da meine Zweifel, belasse es aber bei einem Achselzucken. (Nach 25 Jahren Beziehung weißt du, worüber es sich lohnt zu diskutieren und worüber nicht.)

Spoiler Alert: Meine Frau wird die Tomaten morgen um circa 21 Uhr kurz nach Hamburg auspacken und knapp die Hälfte davon essen.

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Nach dem Abendessen gehen wir durch die Altstadt Richtung Slussen. Die Tochter erzählt uns, in Stockholm seien früher die Steuern anhand der Anzahl der Fenster berechnet worden. Deswegen gäbe es in den Seitenstraßen einige Häuser mit sehr wenigen Fenstern. Um aber nicht als geizig – oder arm – zu gelten, wären die Fenster einfach aufgemalt worden. Dadurch hast du wahrscheinlich signalisiert, dass du so reich bist, dass du jemanden bezahlen kannst, der dir ein Fenster malt.

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Am Samstag war mir bei H+M ein Paar Flip-Flops aufgefallen, die aussahen, als seien sie aus Marshmallows hergestellt worden, und bei denen ich dachte: „Meine Güte, sind die hässlich, die kauft bestimmt kein Mensch!“

Anscheinend doch, denn gerade läuft eine Frau an mir vorbei, die genau diese Schuhe trägt. Nun gut, Geschmäcker sind verschieden. Und wahrscheinlich ist der Geschmack der Frau in modischen Fragen besser als meiner.

Vielleicht bieten die Schuhe aber auch so einen außergewöhnlichen Tragekomfort, dass ihr Aussehen irrelevant ist, weil du in ihnen wie auf Wolken läufst. Das werde ich allerdings nie erfahren. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Frau sonderlich erfreut wäre, wenn irgendein Touri sie von der Seite anlabert und wissen will, ob ihre Schuhe so bequem sind, dass es egal ist, dass sie potthässlich sind.

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Zum Abschluss geht die Tochter mit uns in eine Studentenkneipe, in der sie häufiger war. Das ist ja ganz schön, wenn du einen Eindruck bekommst, wie dein Kind seine Freizeit verbracht hat. Außerdem waren meine Frau und ich schon ewig nicht mehr in einer Studentenkneipe und können in nostalgisch verklärten Erinnerungen schwelgen.

Das einzige Problem: Wir sind keine Studenten mehr. Ich lasse mich erstmal darüber aus, dass der Boden schon ziemlich klebrig sei und dass es interessant sei, wie viele Handabdrücke auf den Spiegeln zu sehen seien, und stelle fest, dass sie wohl nicht allzu häufig geputzt würden. Meine Frau hält sich gar nicht erst mit dem Theorisieren über die Sauberkeitsstandards der Kneipe auf und holt aus ihrer Tasche ein Desinfektionstuch, mit dem sie erstmal den Tisch abwischt.

Die Tochter stirbt unterdessen innerlich und bereut wahrscheinlich, dass sie uns mitgenommen hat.


Alle Beiträge der Stockholm-Diaries finden Sie hier.




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42 Kommentare zu “Die Stockholm Diaries (13. Juni): Tag 3

  1. ganz ehrlich, ich würde mir gedanken machen:

    “Daher hat sie uns gebeten, ob wir morgen ein paar Sachen für sie mitnehmen können, weil sie sonst Schwierigkeiten mit dem Gepäck auf der Heimfahrt bekäme. ”

    wenn sie schwierigkeiten mit der mitnahme ihres gepäcks hat, ihr dann nicht?
    man soll doch nie etwas, auch nicht aus gefälligkeit, etwas mitnehmen.
    war eduard zimmermann umsonst gestorben?
    oder moderner “border patrol columbia”,

    ich bin wohl zu vorsichtig.

    schöne heimreise.

  2. Herrlich, ich lache über das Tisch abwischen in der Studentenkneipe. Tolle Reise und wieder mal ein einzigartiger und schöner Text.
    VG

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