9. 30 Uhr. Es geht los. Zunächst für die Eliteläufer*innen, zu denen ich offensichtlich nicht zähle. Ein paar Minuten später setzt sich unser Block in Bewegung.
Für meine Wunschzeit von dreieinhalb Stunden muss ich die Kilometer im Schnitt in 4:59 Minuten laufen. Für einen kleinen Puffer habe ich meine Laufuhr auf 3:29 Stunden programmiert. Das entspricht einem Kilometerschnitt von 4:57. Beim Marathon besteht aber die Gefahr in der Anfangseuphorie zu schnell loszulaufen, so dass dir am Ende die Puste ausgeht. Habe mir daher für die ersten zehn Kilometer eine Kilometerzeit von nur fünf Minuten vorgegeben, um später nach und nach etwas schneller zu werden.
Um nichts dem Zufall zu überlassen, habe ich meine Laufplaylist entsprechend gestaltet. Die ersten Lieder sind rhythmisch etwas langsamer und nach hinten raus nimmt der Beat immer weiter zu. Der Lauf startet für mich mit „Vergiftet“ von Jan Delay, geht weiter mit P.R. Kantate und „Görli Görli“, gefolgt wieder von Jan Delay mit „Irgendwie, Irgendwo, Irgendwann“, der dann von den Beginner mit „Gustav Gans“ abgelöst wird.
Das hat zwar eine Menge Hamburger Lokalkolorit – mit Ausnahme von P.R. Kantate –, aber auf den ersten Kilometern deucht mir, dass sich Deutsch-Rap mit leichten Reggae-Einflüssen eher zum Kiffen und weniger als musikalische Untermalung eines Marathons eignet.
Hänge mich an einen Typ, der vor mir unterwegs ist und wie ein Uhrwerk ein 5er-Tempo abspult. So komme ich trotz des chilligen Auftaktmedleys auf meine vorgenommene Durchschnittszeit. Nach ungefähr fünf Kilometern verliere ich meinen Vordermann allerdings aus den Augen.
Inzwischen singen Wanda darüber, dass Tante Ceccarelli in Bologna Amore gemacht hat. Der Rhythmus ist etwas flotter als die Hamburger Deutsch-Rap-Kiffer-Mucke. Dadurch schaffe ich es auch alleine, meine Geschwindigkeit zu halten.
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Kilometer 6. Trinke mein erstes Energie-Gel. Mit Orangen-Flavour. Geschmacklich durchaus verbesserungswürdig, aber ein Marathon ist ja keine Gourmet-Veranstaltung. (Außer der Medoc-Marathon. Da gibt es an den Verpflegungsstationen Austern und Rotwein.)
Der erste Punkt meiner To-Do-Liste ist damit erledigt. Auf der Liste steht, ungefähr alle sechs Kilometer ein Gel zu trinken, und außerdem bei Kilometer 12, 21 und 30 eine Getränkeflasche von meiner Frau entgegenzunehmen. Wenn du dreieinhalb Stunden unterwegs bist, ist es gut, wenn du etwas zu tun hast. Dann wird dir nicht langweilig.
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Habe inzwischen acht Kilometer hinter mir. Meine Laufuhr zeigt die Kilometer allerdings jedes Mal etwas vor den offiziellen Markierungen an. Bin genervt, dass die Uhr nicht präziser misst. Das liegt möglicherweise daran, dass hier Tausende Menschen mit GPS-Trackern unterwegs sind, die sich gegenseitig stören. Keine Ahnung, ob das technisch und physikalisch Sinn ergibt. Wahrscheinlich nicht.
Habe plötzlich eine Erleuchtung. Die Differenz ist gar nicht auf Messungenauigkeiten meiner Uhr zurückzuführen, sondern darauf, dass ich nicht exakt die Ideallinie laufe. Auf der sind immer schon andere Läufer*innen unterwegs. Ich bewege mich mal etwas weiter links und mal etwas weiter rechts von der blauen Linie und habe somit in Kurven einen etwas größeren Radius. Die Uhr misst also durchaus exakt, aber ich laufe tatsächlich jeden Kilometerabschnitt eine etwas weitere Strecke.
(Das ist heute ungefähr mein 25. Volkslauf, an dem ich teilnehme, und es ist das erste Mal, dass ich verstehe, woher die vermeintliche Messabweichungen meiner Uhr herkommen. Es hat schon seinen Grund, dass ich ein geistes- und kein naturwissenschaftliches Studium absolviert habe.)
Die längere Distanz, die ich im Vergleich zur offiziellen Strecke zurücklege, bedeutet, dass ich geringfügig schneller als geplant laufen muss, um die zusätzlichen Meter zeitlich zu kompensieren und auch offiziell unter dreieinhalb Stunden zu bleiben.
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Hannes Wittmer singt zwar „Vorwärts ist keine Richtung“, aber ich glaube, heute schon.
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War heute schon gefühlt 134-mal und tatsächlich neunmal auf Toilette. Trotzdem meldet sich meine Blase bei Kilometer 10. Sie merkt zaghaft an, sie hätte nichts dagegen, demnächst mal geleert zu werden. Das fände sie sogar ausgesprochen gut.
Da das hier keine basisdemokratische Veranstaltung ist, entscheide ich aber, frühestens nach 21 Kilometern zu pinkeln. Noch besser erst bei Kilometer 25. Meine Blase murrt ein wenig, fügt sich aber ihrem Schicksal.
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Kilometer 11. Ein Viertel ist geschafft. Trinke das nächste Energie-Gel. Etwas früher als vorgesehen, aber mir fiel gerade noch rechtzeitig ein, dass mir bei Kilometer 12 meine Frau die neue Getränkeflasche übergibt und das wird etwas schwierig, wenn ich gleichzeitig mit dem Gel-Beutel rumhantiere.
Geschmacklich ist das Orangen-Gel immer noch nicht haute-cuisine-verdächtig. Dafür ist der nächsten Punkt auf der To-Do-Liste erledigt.
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Kommen an der Elbphilharmonie vorbei. Die sehe ich aber nicht, da ich nach meiner Frau Ausschau halte. Der Flaschenaustausch verläuft sehr geschmeidig. Als hätten wir es vorher geübt.
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Kilometer 14. Klatsche mit ein paar Kinder am Straßenrand ab. Die freuen sich darüber und ich habe ja sonst auch nichts zu tun. Außer zu laufen.
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Theodor Shitstorm singen derweil vom „Getriebeschaden in der Slowakei“. Hauptsache nicht in Hamburg.
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Wir durchqueren den Wallringtunnel. Einige Läufer*innen pfeifen und johlen. Für den Echo-Effekt. Dann klatschen sie rhythmisch. Anscheinend laufen sie noch nicht am Limit und haben zu viel Energie.
Meine Uhr findet das Unterirdische nicht so gut. Sie hat keinen Empfang. Als wir den Tunnel wieder verlassen, zeigt sie an, der letzte Kilometer sei sechs Sekunden langsamer als geplant gewesen. Mir kam das gar nicht so vor. Aber wer bin ich, dass ich mir anmaße, die Angaben eines Hightech-Präzisionschronometers anzuzweifeln.
Vielleicht geht mir schon die Kraft aus? Wäre ein bisschen früh. Laufe den nächsten Kilometer sechs Sekunden schneller und hoffe, dass sich das später nicht rächt.
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Überhole bei Kilometer 16 den 3:45-Pacemaker. (Bei größeren Marathon-Veranstaltungen gibt es so genannte Zielläufer für bestimmte Zeiten. Wenn du neben denen herläufst, erreichst du in deiner gewünschten Zeit das Ziel. Sofern der Zielläufer nicht schlapp macht.)
Überlege, wie lange ich noch brauche, um den 3:30-Läufer einzuholen. Nach reichlich viel Kopfrechnerei komme ich auf die Lösung: Nie!
Da er – oder sie – ungefähr fünf, sechs Minuten vor mir gestartet ist und mehr oder weniger genauso schnell läuft wie ich, werde ich ihn natürlich nie erreichen. (Wie gesagt, es hat schon seinen Grund, dass ich mich damals für ein geisteswissenschaftliches Studium entschied.)
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Kilometer 18. Pfeife mir das nächste Gel rein. Check!
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Kapelle Petra singt „An irgendeinem Tag wird die Welt untergehen“. Hoffentlich nicht heute.
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Uhlenhorst. Ein Mann schiebt sein Rad quer über die Laufstrecke und behindert ein paar Läufer*innen. Diese äußern gut vernehmlich ihren Unmut. Den dicksten Anschiss kassiert er aber von einem alkoholisierten Obdachlosen. Der brüllt ihn an, was mit ihm nicht stimme, sein Rad hier einfach so durchzuschieben. Recht hat er.
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Nach 20 Kilometern liegt meine Abweichung zur offiziellen Strecke bei ungefähr 200 Metern. Das ist circa eine Minute. Gleichzeitig bin ich 30 Sekunden schneller als mein Plan, der ja auch schon einen Ein-Minuten-Puffer hat. Könnte doch mit der Wunschzeit klappen. Falls ich mich nicht verrechnet habe.
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Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Im September erscheint sein neues Buch “Papa braucht ein Fläschchen”. Ebenfalls mehr als zu empfehlen sind “Hilfe, ich werde Papa! Überlebenstipps für werdende Väter”, “Ein Vater greift zur Flasche. Sagenhaftes aus der Elternzeit” sowie “Wenn’s ein Junge wird, nennen wir ihn Judith”*. (*Affiliate-Links)