Zum Sonntagabend gibt es meine semi-originellen Gedanken und semi-spannenden Erlebnisse aus der abgelaufenen Woche. Manchmal banal, häufig trivial, meistens egal.
05. Januar 2022 Berlin/Kopenhagen/Malmö/Stockholm
5 Uhr. Der Wecker klingelt. Endlich kann ich aufstehen. Aus Angst, den Wecker zu überhören, war ich bereits seit halb vier wach. Selbst ein erster Kaffee bringt mich kaum in einen menschenähnlichen Zustand. Beste Voraussetzungen für eine fünfzehnstündige Zugfahrt mit dreimal Umsteigen und so viel Gepäck, wie du nun mal benötigst, wenn du für ein halbes Jahr ins Ausland ziehst.
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Als Reisekleidung habe ich mich für Jogginghose, Kapuzenpulli und Laufschuhe entschieden. Ein Aufzug, der zwar einen prekären sozialen Status vermuten lässt und in dem ich keine Chance hätte, in einen Berliner Club zu kommen, der aber nach fast zwei Jahren Pandemie inzwischen doch irgendwie sozial akzeptiert ist. Um für die kühlen schwedischen Temperaturen gewappnet zu sein, muss ich mein sportiv anmutendes Outfit allerdings mit meiner langen Winterjacke kombinieren, wodurch ich tatsächlich den Eindruck erwecke, ich hätte die Kontrolle über mein Leben verloren. Ist mir aber egal. Wenn ich der Umwelt und dem Klima zuliebe den ganzen Tag im Zug hocken muss, möchte ich es wenigstens bequem haben.
Für Stockholm habe ich selbstverständlich auch noch ein Paar saubere Jeans und ordentliche Schuhe eingepackt. Schließlich möchte ich bei den Wohnungsbesichtigungen einen guten Eindruck bei den potenziellen Vermieterinnen machen und die Chancen der Tochter, ein Zimmer zu bekommen, nicht zunichtemachen. Vielleicht sollte ich noch einen Dreiteiler und eine gute Krawatte einpacken.
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Nach einer ereignislosen Fahrt in einem angenehm leeren ICE erreichen wir nach knapp zwei Stunden Hamburg. Bei der Einfahrt in die Stadt sehe ich auf einem Hochhaus eine Buchstabeninstallation: „Ich glaube nicht an Dinosaurier“. Hoffentlich handelt es sich um eine Spitze gegen realitätsverweigernde Corona-Schwurbler und nicht um eine Immobilie eines wohlhabenden Verschwörungstheoretikers, der sie nutzt, um für seine verqueren Ansichten größtmögliche Aufmerksamkeit zu erzeugen.
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Von Hamburg aus geht es in einem Zug der dänischen Staatsbahn Richtung Kopenhagen. Ein deutscher ICE ist normalerweise schon recht komfortabel, wird von seinem dänischen Kollegen aber deutlich in den Schatten gestellt. Die Sitze bieten so viel Beinfreiheit und sind so geräumig und bequem, dass sie eigentlich die Bezeichnung Sessel verdienen. Und pünktlich ist der Zug auch noch. Well done, dänische Staatsbahn, well done!
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Interessant sind die unterschiedlichen Gesichtsbedeckungen der Zugbegleiter:innen. Der Schaffner im ICE von Berlin nach Hamburg war mit einer FFP2-Maske ausgestattet, sein deutscher Kollege im Zug nach Dänemark hatte sich für eine medizinische Maske entschieden und die dänische Schaffnerin, die in Padborg zugestiegen ist, trägt einen dieser Plastikvisiere, deren Schutzwirkung kaum größer ist als die eines gehäkelten Topflappens.
In Schweden, wo die Corona-Maßnahmen im Vergleich zu den meisten europäischen Ländern eher locker sind, trägt das Zugpersonal dann bestimmt gar keine Maske. Und wahrscheinlich begrüßen sie jeden Fahrgast mit Küsschen links und Küsschen rechts.
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In Kopenhagen haben wir knapp anderthalb Stunden Aufenthalt. Es regnet so stark, dass wir nicht einmal kurz vor den Bahnhof treten können, um zu behaupten, wir wären richtig in Kopenhagen gewesen. Dafür wartet der Kopenhagener Bahnhof mit unfassbar schnellem LTE auf. Da öffnen sich die Webseiten schon, bevor du überhaupt weißt, dass du sie dir ansehen wolltest. Das ist fast genauso gut, wie sich den Bahnhofsvorplatz anzuschauen.
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Mit dem nächsten Zug geht es über die Öresundbrücke nach Malmö. Vor der schwedischen Grenze wird darauf hingewiesen, Ausweis und die Bescheinigung über den negativen Corona-Test bereitzuhalten. Die schwedischen Grenzbeamten kontrollieren jedoch keine Papiere, führen aber einen Hund mit sich. So meschugge wie ich nach fast zwei Jahren Pandemie bin, denke ich als erstes: „Krass, der schwedische Zoll hat Hunde, die Corona erschnüffeln können.“
Enttäuschenderweise schnuppert der Hund aber nur die großen Gepäckstücke nach Drogen ab. Noch enttäuschenderweise findet er nichts.
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Am Bahnhof in Malmö und in unserem nächsten Zug trägt tatsächlich niemand Maske. In Schweden gibt es keine Pflicht zum Tragen von Masken, sondern die schwedische Regierung empfiehlt dies lediglich in Situationen, in denen nicht genügend Abstand zu anderen Menschen eingehalten werden kann. Was „nicht genügend Abstand“ bedeutet, interpretieren die Reisenden anscheinend sehr großzügig.
Keine Maske zu tragen, fühlt sich befremdlich an und überhaupt nicht befreiend. Das liegt vielleicht auch daran, weil du dann merkst, wie muffig es in dem Waggon riecht. Nach nassem Tier oder so. Zum Glück öffnet ein Pärchen, das schräg vor uns sitzt, eine KFC-Tüte und schon bald hat der Duft von Hühnchen und Pommes den Wasserbüffel-Geruch vertrieben.
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Vor den Fenstern zieht in der Dunkelheit eine romantische Schneelandschaft an uns vorbei. Während in Deutschland häufig schon am 26. Dezember die Weihnachtsbäume entsorgt werden, sind hier in den meisten Vorgärten die Tannenbäume noch beleuchtet, an den Fensterrahmen sind Lichterketten angebracht und von den Zimmerdecken hängen große Herrnhuter Sterne. Für die perfekte Idylle fehlt nur noch, dass die Kinder aus Bullerbü den Weg entlang hopsen und Weihnachtslieder singen.
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Kurz nach halb zehn erreichen wir schließlich unser Hotel. Für das Einchecken habe ich mir den Satz „Hej, talar du engelska?” zurechtgedeeplet, denn ich fände es irgendwie unhöflich, sofort Englisch zu sprechen, auch wenn ich weiß, dass das Englisch der meisten Schwed:innen wahrscheinlich wesentlich besser als meines ist. Zum Glück – und wie erwartet – antwortet die junge Frau mit einem fröhlichen „Of course, I do”. Sonst wäre unsere Unterhaltung auch sehr schnell beendet gewesen.
Nachdem sie mir unsere Zimmer-Schlüsselkarten ausgehändigt hat, informiert mich die Frau noch über die Öffnungszeiten des Fitnessstudios und über das umfangreiche Spa-Angebot. Mit vorgetäuschtem Enthusiasmus sage ich zu allem „Excellent!“ und „Splendid!“, wobei ich jetzt schon weiß, dass ich eher von Carl XVI. Gustaf zum Kaffeetrinken eingeladen werde, als dass ich hier eine Trainingssession einlege oder mich einer Ganzkörpermassage unterziehe.
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Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Im September erscheint sein neues Buch “Papa braucht ein Fläschchen”. Ebenfalls mehr als zu empfehlen sind “Hilfe, ich werde Papa! Überlebenstipps für werdende Väter”, “Ein Vater greift zur Flasche. Sagenhaftes aus der Elternzeit” sowie “Wenn’s ein Junge wird, nennen wir ihn Judith”*. (*Affiliate-Links)