Eine kleine Wochenschau | KW05-2023 (Teil 2)

Teil 1


Der zweite Gegner des Sohns kommt aus Holthusen. Ich kann im Internet keine Informationen über große sportliche Erfolge finden. Aber er hat sich für die Nordost-Deutschen-Meisterschaften qualifiziert und hier auch schon einen Kampf gewonnen. Das heißt, er ist kein „Fallobst“, das du einfach so wegklatschst. Der Sohn hat ihn aber ganz gut im Griff und gewinnt nach zwei Minuten. Sehr gut. So hat er Kraft gespart und ich auch.

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Halbfinale. Wenn der Sohn gewinnt, hätte er die Qualifi für die Deutschen Meisterschaften sicher. Allerdings ist sein Gegner ein baumlanger Typ aus Potsdam und die Potsdamer Judoka sind dafür bekannt, ziemliche Kampfmaschinen zu sein. Außerdem war sein Gegner letztes Jahr 5. bei den Deutschen Meisterschaften. Also eine eher schwierige Aufgabe.

In seinem ersten Kampf sah der Potsdamer aber nicht allzu gut aus. Vielleicht hat der Sohn vielleicht doch eine kleine Chance, denke ich, als es losgeht. Um es kurz zu machen: Hat er nicht. Er sieht kein Land, bis er schließlich nach zwei Minuten abgewürgt wird. (Sein Gegner gewinnt dann auch das Finale ziemlich souverän.)

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Nun geht es um Platz 3. Gewinnt der Sohn, ist er bei den Deutschen dabei, wenn nicht, dann nicht. Sein Gegner ist der Mecklenburg-Vorpommern Meister. Das ist erstmal nicht besonders aussagekräftig, denn in Mecklenburg-Vorpommern leben ja nicht besonders viele Menschen. Dafür hat er letztes Jahr ein internationales Turnier in Schweden gewonnen. Das ist schon beeindruckender.

Schon beim Betreten der Matte sehen der Sohn und sein Gegner ziemlich platt aus. Es entwickelt sich nicht gerade der schönste Kampf, den die Judohistorie jemals gesehen hat, aber dafür ein sehr intensiver. Keiner der beiden hat so richtig die Oberhand, aber der Sohn zermürbt den anderen mit zunehmender Kampfdauer, weil er partout keinen richtigen Wurfansatz zulässt.

Ich fiebere derweil am Bildschirm mit, wie ich es das letzte Mal beim WM-Finale 2014 tat. Damals kniete ich in der letzten Minute, als Messi sich den Ball für einen Freistoß aus aussichtsreicher Position zurechtlegte, vor dem Fernseher und hoffte, dass der Ball irgendwo nur nicht im Tor landet. Diesmal rutsche ich nicht auf den Knien vor meinem Computermonitor rum, würde es aber dennoch begrüßen, wenn mich niemand dabei beobachtet, wie ich durchs Zimmer laufe, die Fäuste balle und den Bildschirm anbrülle.

Fünfzehn Sekunden vor Schluss gelingt es dem Sohn schließlich seinen Gegner durch eine Art Wurf zu Fall zu bringen und er bekommt eine Wertung dafür. (Nach dem Kampf weiß der Sohn nicht, wie er das gemacht hat und was es für ein Wurf war.) Er bringt den Vorsprung über die Zeit und gewinnt die Bronzemedaille. Sein Gegner ist wenig amüsiert und schlägt beim Gratulieren fast die Hand des Sohns weg. Das bringt ihm einen sehr bösen Blick des Kampfrichters ein. Und von mir. Dem Sohn ist es egal. Aber er hat ja auch gewonnen.

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Nun könnte ich den restlichen Nachmittag nutzen, um Bad und Küche zu putzen. Dafür bin ich aber viel zu erschöpft und aufgewühlt. Wenn dein Körper gerade hektorliterweise Adrenalin ausgeschüttet hat, bist du nicht in der Lage, mit Sprühflasche und Putztuch herumzuhantieren. Aber damit tue ich ihr eigentlich einen Gefallen. So steht sie wenigstens nicht in meiner Schuld, dass ich ihre Haushaltsaufgabe übernommen habe.

05. Februar 2023, Berlin

Als wir letztes Jahr das Zimmer der Tochter in mein Arbeitszimmer umgewandelt haben, haben wir einige Bücher aussortiert. Im Sinne der ressourcenschonenden lokalen Tausch- und Verschenkökonomie stellten wir sie erstmal in den Hausflur, in der Hoffnung, dass sich einige der anderen Hausbewohner*innen dafür interessieren. Da wäre es ja schade, die Bücher einfach wegzuwerfen.

Das fällt mir ohnehin schwer. Wenn ich mal ein Buch in der Papiertonne entsorge, was wirklich sehr, sehr selten passiert, habe ich immer Bilder von Bücherverbrennungen im Kopf. Außerdem fühle ich mich illoyal gegenüber anderen Autor*innen. Die haben Zeit, Energie und Phantasie aufgewendet, um Seite für Seite zu füllen und die Leser*innen zu informieren oder zu unterhalten – im Idealfall sogar beides. Da komme ich mir dann sehr schäbig vor, ein Buch sprichwörtlich in die Tonne zu kloppen. Schließlich möchte ich auch nicht, dass das mit meinen Büchern passiert. (Wobei, falls sich die Leute dann ein neues Exemplar kaufen, soll es mir recht sein.)

Unser flohmarkteskes Hausflur-Bücherangebot wurde bei den Kinderbüchern und Jugendromanen sehr gut angenommen. Die waren in wenigen Stunden alle weg. Das Interesse an unseren ausrangierten Uni-Büchern war nicht ganz so groß. Wahrscheinlich studieren die jungen Leute aus den Studi-WGs im Haus etwas anderes. Ansonsten kann ich mir nicht erklären, warum sich niemand für soziologische Fachliteratur aus den späten 1990ern interessiert.

Daher landete doch noch das ein oder andere Buch in der blauen Tonne. Dabei war mein schlechtes Gewissen gegenüber den Autor*innen nicht ganz so groß. Dafür war der Unterhaltungswert der meisten Werke zu gering. Und der Informationsgehalt häufig auch.

Vor ein paar Wochen habe ich noch meine Propyläen Weltgeschichte in zwölf Bänden auf die Fensterbank im Treppenaufgang gestellt. Die hatte ich mir Anfang des Studiums zugelegt beziehungsweise mir von meinen Eltern schenken lassen. Damals dachte ich, wenn ich mir die Bände alle reinziehen, bin ich gebildet. (Und hoffte darauf, dann als Wer-wird-Millionär-Kandidat die Millionenfrage beantworten zu können.) Ob ich mit dieser Vermutung richtig lag, weiß ich nicht. Dazu hätte ich die Bücher tatsächlich lesen müssen.

Seit Anfang Dezember steht die Propyläen Weltgeschichte auf der Fensterbank. Ein, zwei Tage später hatte sich jemand den ersten Band mitgenommen. (Thema: „Vorgeschichte, frühe Hochkultur“) Wie jemand, der erstmal in die erste Staffel einer Serie reinschnuppert, um zu sehen, ob sie etwas für ihn ist. War es aber anscheinend nicht, denn die anderen Bände blieben stehen.

Irgendwann war der Band 7 weg. (Thema „Reformation und Revolution“) Ich fand das merkwürdig. Wer nimmt sich aus einer mehrbändigen Reihe einfach mittendrin ein Buch raus? Wobei das inhaltlich kein Problem ist, denn die Bände bauen nicht wirklich aufeinander auf. Du kannst problemlos etwas über das 19. Jahrhundert lesen (Band 8), selbst wenn du das Thema „Griechenland – Die hellenistische Welt“ ausgelassen hast. (Band 3). Das ist wie bei Fargo. Da kannst du die Staffeln auch durcheinander schauen, weil sie jeweils inhaltlich abgeschlossen sind. (Wobei Fargo wesentlich unterhaltsamer als die Propyläen Weltgeschichte ist.)

Diese Woche hatte jemand genug von den Büchern auf der Fensterbank und hat sie weggeworfen. Mir ist das ganz recht, so muss ich das nicht machen. Allerdings werde ich nun nie wissen, ob ich gebildet wäre, wenn ich die Bücher doch noch gelesen hätte. Vielleicht hätte ich dann auch bei Günter Jauch die Millionenfrage beantworten können. So lange sie nicht zur frühen Hochkultur oder zu Reformation und Revolution wäre.


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