31. Januar 2024, Berlin
Heute ist Rückwärts-Tag. Müsste der nicht Gat-Sträwckür heißen?
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Als ich von meiner morgendlichen Laufrunde zurückkomme, sehe ich in der Ferne den Sohn gerade das Haus verlassen. Er winkt mir zu und geht dann in die andere Richtung zur U-Bahn, um zur Schule zu fahren.
Von Weitem erkenne ich, dass er keinen Rucksack trägt. Auch keine Tasche, keinen Beutel und auch sonst nichts, in dem er seine Schulsachen aufbewahren könnte. Bald ist er schullos und jetzt schon rucksack-, taschen- und beutellos.
Mich verwirrt das. Ist ein Schultag ohne Schulsachen überhaupt ein Schultag? Wie zählt so ein Tag in den Schul-Countdown, den der Sohn so akribisch ausgerechnet hat? Und wie will er ohne Block mitschreiben? Die Antwort ist recht naheliegend: Wahrscheinlich gar nicht.
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Im Briefkasten ist ein Schreiben der Hausverwaltung. Das bedeutet nie Gutes zu. Ich habe noch nie einen Brief von der Hausverwaltung bekommen, in dem stand: „Sie bekommen 5.000 Euro aus den Nebenkosten zurückerstattet.“ Oder: „Sie müssen die nächsten fünf Jahre keine Miete bezahlen.“
Diesmal auch nicht. Im Gegenteil. Es gibt eine Mieterhöhung. Plus fünfzehn Prozent. Sehr unschön. Ist das die Strafe für meine mangelnde Empathie mit den Millionären, die aus ihren Luxusvillen vertrieben werden? Muss ich wohl auch Kuchen essen. Habe aber keinen da. Das macht die Mieterhöhung noch unschöner.
01. Februar 2024, Berlin
Wichtiger Termin im Familienkalender: Zeugnisessen. Also, wir essen kein Zeugnis, sondern gehen essen, um das Halbjahreszeugnis des Sohnes zu begehen.
Der Sohn hat sein Zeugnis schon vor über zwei Wochen bekommen, aber da hatte er keine Zeit. Letzte Woche wollten meine Frau und ich beim Fasten wiederum nur ungern dem Sohn dabei zusehen, wie er Burger und Pommes verdrückt, während wir an einem Kräutertee nippen.
Früher sind wir nach dem Zeugnisessen immer noch in einen Buchladen gegangen und die Kinder durften sich Lesestoff aussuchen. Der Sohn winkt ab. Mit seiner Schullektüre sei sein Lesebedarf gedeckt. Das kann ich durchaus nachvollziehen. Zurzeit muss er für Philosophie „Der Mythos des Sisyphos“ von Albert Camus durcharbeiten. Da würde ich auch kein anderes Buch mehr anfassen.
02. Februar 2024, Berlin
Heute ist Welttag der Feuchtgebiete. Erotischer wird’s nicht.
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Weil ein Ehren-/Gedenk-/Feiertag nicht reicht, ist heute zusätzlich Maria Lichtmess. Ein kirchlicher Feiertag, von dem ich keine Ahnung habe, was er bedeutet. Außer dass er wohl irgendetwas mit einer Maria zu tun hat. Wäre ja merkwürdig, es ginge um den Heiligen Otto, aber der Tag wird nach Maria benannt. Wobei mir unklar ist, welche Maria gemeint ist. Die Gottesmutter oder das Fräulein Magdalena, das wahlweise als Number-1-Fan von Jesus oder seine Geliebte gilt? Vielleicht auch irgendeine andere Bibel-Mary, deren Existenz mir unbekannt ist.
Über Maria Lichtmess habe ich sonst nur das Inselwissen, dass traditionsbewusste Katholiken erst an diesem Tag den Weihnachtsbaum abschmücken. Ich weiß gar nicht, wie das so spät funktionieren soll. Wir haben dieses Jahr unseren Baum erst am 17. Januar entsorgt. Was im Bundesdurchschnitt wahrscheinlich sehr spät war. (Zumindest im unkatholischen Bundesdurchschnitt.)
Das war auch höchste Zeit für den Baum, denn er schon sehr stark genadelt. Wenn du ihn angefasst hast, oder ihm zu nahekamst oder ihn schief angeschaut hast, rieselten die Nadeln, wie die Schuppen bei meinem Kunstlehrer in der sechsten Klasse. Hätten wir mit dem Abschmücken drei Wochen länger gewartet, wäre es nur noch ein nadelloses Baumgerippe mit Weihnachtskugeln und Lichterkette gewesen.
Nachdem wir die Kugeln, die Holzfigürchen und die Kerzen entfernt und den Baum runter an die Straße gebracht hatten, lagen auf dem Boden im Wohnzimmer, Flur und Treppenhaus mehr Nadeln als in einem lauschigen Tannenwäldchen. Auch nach Wochen tauchen immer wieder vereinzelte Tannennadeln in der Wohnung auf und das wird sich bis in den Dezember fortsetzen.
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Die Schule fällt heute aus. Weil ver.di zum BVG-Streik ausgerufen hat, wissen die Lehrer- und Schüler*innen nicht, wie sie zur Schule kommen sollen. Das macht die Gewerkschaft bei den Schüler*innen ziemlich populär. Vielleicht geht es bei dem Streik gar nicht um bessere Arbeitsbedingungen für ÖPNV-Angestellte, sondern es ist eine geschickte Imagekampagne für potenzielle Junior-Gewerkschaftler*innen.
Der Sohn erklärt, er hätte heute ohnehin nur eine Stunde gehabt hätte. Da wäre er wahrscheinlich sowieso nicht hingegangen. Weil sich der Aufwand nicht lohnt, wenn der Anfahrts- und Abfahrtsweg länger als die Schulstunde dauert. Vor allem wäre es nur Philo gewesen.
Einerseits finde ich es schön, dass der Sohn ein so vertrauensvolles Verhältnis zu uns hat und freimütig erzählt, dass er schwänzen wollte. Andererseits frage ich mich, ob da ein mahnendes elterliches Wort vonnöten ist. Schließlich sind wir seine Erziehungsberechtigten. Zumindest formal. Denn um ehrlich zu sein, betrachte ich seine Erziehung als weitestgehend abgeschlossen. Wir haben uns redlich Mühe gegeben, unsere Bemühungen waren nicht vollkommen fruchtlos und was wir in den ersten siebzehneinhalb Jahren pädagogisch nicht auf die Reihe bekommen haben, würde uns auf der Zielgeraden zur Volljährigkeit auch nicht mehr gelingen.
Außerdem ist der Sohn nicht mehr schulpflichtig und geht freiwillig zur Schule. Meistens. Manchmal auch nicht. Er muss dann mit den Konsequenzen leben. Und machen wir uns nichts vor, die wären bei einer unentschuldigten Philo-Fehlstunde nicht allzu dramatisch. Aber ver.di sei Dank, kommt es gar nicht dazu.
03. Februar 2024, Berlin
Heute ist Tag der männlichen Körperpflege. Ich hoffe, diese findet nicht nur am 03. Februar statt, sondern täglich. Meine gelegentlichen Fahrten im Berliner ÖPNV lassen mich anderes vermuten.
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Nachmittags „Wir sind die Brandmauer“-Demo am Reichstag. Ob das etwas hilft? Keine Ahnung. Ich hoffe es. Außerdem lassen wir den Samstagsputz ausfallen. Damit haben wir uns auf jeden Fall geholfen.
04. Februar 2024, Berlin
Heute ist Danke-einem-Briefträger-Tag. Sonntags könnte das schwierig werden.
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In einer Mail wird mir die URL „auchganzschoen.de“ zum Kauf angeboten. Finde ich gut. „Auch ganz schön.“ Das ist so erfrischend ambitionslos. Kein „höher, schneller, weiter“, kein „schaffe, schaffe Häusle bauen“ und auch kein „du musst das Eisen schmieden, so lange es heiß ist“-Aktionismus. Stattdessen ein ganz entspannt-entschleunigtes „auch ganz schön“. Vielleicht lass’ ich mir das auf eine Kaffeetasse drucken.
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Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Im September erscheint sein neues Buch “Papa braucht ein Fläschchen”. Ebenfalls mehr als zu empfehlen sind “Hilfe, ich werde Papa! Überlebenstipps für werdende Väter”, “Ein Vater greift zur Flasche. Sagenhaftes aus der Elternzeit” sowie “Wenn’s ein Junge wird, nennen wir ihn Judith”*. (*Affiliate-Links)
Dein “auch ganz schön” fasst meine Tageserkenntnis perfekt zusammen. Ich brauche dazu noch Shirt und Postkarten, wenn du die Tasse bestellst, einfach melden. 😎