01. März 2023, Berlin
Laut Plan muss ich heute Intervallläufe machen. Sechs mal 1.000 Meter in circa 4:35, dazwischen immer 1.000 Meter Trabpause. Die Einheit klappt erstaunlich gut und das Tempo ist fast ein wenig zu langsam. Zumindest habe ich auf den letzten 300 bis 400 Metem nicht das Gefühl, dass mir die Beine abfallen, wie es die martialische Brachial-Prosa von Peter Greif prophezeit. Vielleicht werde ich in Hamburg doch die Kenianer herausfordern. Außer ich ziehe mir in den nächsten zwei Wochen doch den Kreuzbandriss zu.
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Mit seinen sechzehneinhalb Jahren hat der Sohn inzwischen ungefähr die gleiche Klamottengröße wie ich. Manchmal bedient er sich an meinem Kleiderschrank. Zum Beispiel zieht er gerne eine meiner Anzugshosen an. Die sei so schön bequem. (Hat der Junge noch nie eine Jogginghose getragen?)
Als ich mich heute früh für einen Kundentermin einkleiden möchte, sehe ich, dass der Sohn sich einen Pullover von mir geborgt hat. Das Problem: Ich besitze nur zwei Pullover. Einen schwarzen, eng geschnittenen, der gut sitzt, und einen dunkelblauen, eher labberigen, der aber trotzdem keine coolen Grunge-Vibes ausstrahlt.
Selbstverständlich hat sich der Sohn den guten Pullover genommen. Ich muss dagegen bei meinem Termin den dunkelblauen Strick-Sack tragen. Und auch noch zu einer schwarzen Hose. Dabei passen blau und schwarz nicht zusammen. Hat mir meine Frau mal erklärt. Mein Argument, dass der HSV früher blaue Trikots zu schwarzen Hosen trug, konnte sie nicht überzeugen. Hoffentlich verläuft mein Kundentermin erfolgreicher als es die letzten Jahre für den HSV waren.
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Meine Mutter ist nach ihrer Knie-OP wieder daheim. Sie trägt eine Schiene am Bein, weil sie ihr Knie nicht beugen darf. Das ist etwas problematisch, denn aufgrund von vielen steilen und engen Treppen ist das Haus meiner Eltern alles andere als praktisch, wenn du eine Gehbeeinträchtigung hast. Sogar äußerst unpraktisch, denn die Treppenstufen sind auch noch ziemlich glatt. Noch weniger barrierefrei wäre das Haus nur, wenn du dich mit einer Strickleiter in die obere Etage hangeln müsstest.
Mit Hilfe von nachbarschaftlicher und freundschaftlicher Hilfe gelangt meine Mutter aber in den 1. Stock, wo sie die nächste Zeit bleiben muss. Andere Freunde versorgen meine Eltern mit Essen, die Nachbarn sind wiederum behilflich, einen schnellen Termin beim Physiotherapeuten zu organisieren. Es hat schon seine Vorzüge, auf dem Land zu leben.
02. März 2023, Berlin
Ich wache morgens vollkommen gerädert auf. Das liegt daran, dass ich die halbe Nacht wach war. Das war dem Blumenkohl geschuldet, den ich gestern Abend gegessen hatte. Diesen vertrug ich anscheinend nicht sonderlich gut, was dann – um die Kausalitätskette abzuschließen – in Magenkrämpfen resultierten, die mich um den Schlaf brachten.
Dass ich von Magenkrämpfen geplagt wurde, ist für die einen wahrscheinlich eine an Irrelevanz nicht zu unterbietende Information, bei anderen ruft es Bilder im Kopf hervor, die sie gerne schnellstmöglich vergessen würden, die jedoch bis an ihr Lebensende in ihre Netzhaut eingebrannt sein werden. Da heute aber sonst nichts Spannendes passiert ist, muss ich nun mal darüber schreiben, was das Leben mir in mein imaginäres Notizheft diktiert. Beziehungsweise was der Blumenkohl in meine krampfende Magenwand ätzt.
03. März 2023, Berlin
Heute sieht der Trainingsplan einen Erholungslauf vor. Über 20 Kilometer. Erholung und 20 Kilometer scheinen mir nicht so recht zusammenzupassen. Da muss vielleicht noch ein bisschen am Wording gearbeitet werden.
Dafür ist das vorgeschriebene Tempo langsam. 6:20 pro Kilometer. Dadurch bin ich allerdings über zwei Stunden unterwegs. Das ist doch ein wenig anstrengend. Und ein wenig langweilig. Während du läufst, kannst du ja nichts anderes tun, als über irgendetwas nachzudenken. So viele Gedanken habe ich aber gar nicht, dass sie für zwei Stunden reichen.
Als ich loslaufe, sind es ungefähr null Grad. Das erhöht auch nicht gerade das Laufvergnügen. So wie ich an der Spree entlangstampfe, müssen sich die Kenianer doch nicht allzu sehr vor mir fürchten.
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Mittags gehe ich einkaufen. Vor mir an der Kasse räumt eine junge Frau ihre Lebensmittel ein. Dazu holt sie zunächst aus ihrem Rucksack ein Brot von unserem Stammbäcker raus. Beinahe sage ich: „Ach, da gehe ich gleich auch noch hin.“ Zum Glück fällt mir gerade noch rechtzeitig ein, dass ich nicht der Typ bin, der an der Kasse Small-Talk mit fremden Menschen betreibt. (Selbst bei mir bekannten Menschen vermeide ich tunlichst Small-Talk an Supermarktkassen.)
04. März 2023, Berlin
Der Trainingsplan schreibt heute den ersten 35-Kilometer-Lauf vor. Den gibt es jetzt jeden Samstag. Damit sich Körper und Geist auf die lange Marathonstrecke einstellen. Gnädigerweise darf er ganz langsam gelaufen werden. Beziehungsweise muss ganz langsam gelaufen werden. Um Gelenke und Bänder nicht zu sehr zu belasten, damit der Körper lernt, Energie aus den Fettdepots zu ziehen, und wegen anderer Stoffwechselprozesse, die ich noch weniger verstehe als das mit der Energie und den Fettdepots.
Zum Glück muss ich die Strecke nicht komplett allein laufen. Wenn meine Gedanken schon kaum für einen Zwei-Stunden-Lauf ausreichen, wie sollte das bei fast vier Stunden gehen? Ich treffe mich mit zwei Laufkameraden am Grunewald. Bis dorthin habe ich schon mal circa neun Kilometer absolviert, dann laufen wir 17 weitere gemeinsam und mit dem Rückweg komme ich auf die vorgeschriebene Distanz.
Nach knapp vier Stunden bin ich wieder zuhause. Meine Frau begrüßt mich mit den Worten: „Richtig fit siehst du nicht aus.“ Nach mehr als 25 Jahren Beziehung zählt das als Kompliment.
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Der große Vorteil eines 35-Kilometer-Laufs besteht darin, dass du danach einen halben Liter Apfelsaft – oder irgendeinen anderen Fruchtsaft – trinken darfst. Beziehungsweise musst. Um deinen nach dem Lauf entleerten Kohlehydratspeicher wieder aufzufüllen. Das soll die Regeneration verbessern. Sagt Peter Greif. Und wenn Peter Greif das sagt, mache ich das natürlich.
Der Apfelsaft ist köstlich. Er ist erfrischend, fruchtig und süß. Ich schwärme meiner Frau vor, dass nach den 35 Kilometern der Apfelsaft eines der leckersten Getränke sei, dass ich jemals getrunken hätte. Meine Frau zieht eine Augenbraue hoch und meint, sie müsse keine 35 Kilometer laufen, damit Apfelsaft lecker schmeckt.
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Der große Nachteil eines 35-Kilometer-Laufs besteht – außer dass er 35 Kilometer lang ist –, darin, dass dir für den Rest des Tages jegliche Energie für jedwede Tätigkeit fehlt. Zum Beispiel fürs Staubsaugen oder Bettenbeziehen. Zwei Aufgaben, die mir obliegen, weil meine Frau schon Bad und Küche putzt. Ich muss mich also aufraffen und meinen Teil der Hausarbeit erledigen. Schließlich kann ich die nächsten acht Wochen schlecht jeden Samstag zu ihr sagen, sie sei allein für den Wochenendputz zuständig. Für die daraus resultierende Diskussion würde mir die Energie fehlen.
05. März 2023, Berlin
Die erste Vorbereitungswoche endet mit einem Regenerationslauf. 20 Kilometer in ganz langsamem Tempo. Die ersten acht laufe ich gemeinsam mit meiner Frau. Im Tiergarten sehen wir einen Läufer, der neben einem Kinderwagen steht. Er redet irgendetwas und ich denke zunächst er telefoniert über seine Kopfhörer. Auf gleicher Höhe stellt sich aber heraus, dass er nicht redet, sondern ein Schlaflied singt. Er wirkt ein bisschen verzweifelt. Das Baby schaut in unbeeindruckt mit großen Augen an. Daher wahrscheinlich die Verzweiflung des Vaters.
Die restlichen zwölf Kilometer laufe ich allein. Es sind die anstrengendsten Kilometer der ganzen Woche. Und die langsamsten. Ich fühle mich schlapp und mir ist ein bisschen langweilig. Außerdem ist es kalt, der Wind kommt immer von vorne und irgendwann fängt es an zu schneien und der Schnee grieselt unangenehm ins Gesicht. Peter Greif würde das bestimmt gefallen. Nur so bekommst du die notwendige Härte, um vielleicht nicht gegen die Kenianer aber wenigstens gegen dich selbst zu bestehen.
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Der Sohn hat seit einer Woche einen Job in einem kleinen Brauhaus. Auf 520-Euro-Basis. Zusätzlich zu seinem Lohn darf er sich nach dem Ende seiner Schicht immer ein Essen von der Speisekarte aussuchen. Ich glaube, der Sohn wird in nächster Zeit sehr viel Schnitzel essen.
Bei der Arbeit muss der Sohn ein graues Hemd mit dem Logo des Brauhauses und eine schwarze Schürze anziehen. Dazu trägt er meine Anzugshose. Die bequeme.
Hauptsächlich arbeitet der Sohn hinter der Theke. Für die Bestellungen der Kellner*innen zapft er Bier und schenkt Getränke aus. Ab und an räumt er Tische ab und schleppt Kisten aus dem Lager. Manchmal muss er auch im Lager putzen. Vielleicht eignet er sich dabei ein paar wichtige Kernkompetenzen für zuhause an. Wahrscheinlich möchte er die aber nur auf 520-Euro-Basis einsetzen.
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Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Im September erscheint sein neues Buch “Papa braucht ein Fläschchen”. Ebenfalls mehr als zu empfehlen sind “Hilfe, ich werde Papa! Überlebenstipps für werdende Väter”, “Ein Vater greift zur Flasche. Sagenhaftes aus der Elternzeit” sowie “Wenn’s ein Junge wird, nennen wir ihn Judith”*. (*Affiliate-Links)