08. April 2023, Berlin
Der Trainingsplan kennt keinen Karsamstag – und keine Gnade. Deswegen muss ich auch heute 35 Kilometer laufen, die letzten fünfzehn davon im angestrebten Marathontempo.
Ungefähr bei Kilometer 30 komme ich an den Punkt, wo die Oberschenkel immer stärker brennen, das Atmen längst in ein Schnaufen übergegangen ist und ich frage mich, warum ich das hier eigentlich mache. Natürlich gibt es darauf keine befriedigende Antwort. Es hat keinerlei kosmische Relevanz, ob ich durch den Schlosspark renne, im Bett liege oder auf dem Sofa sitze, Netflix schaue und dabei Kuchen in mich reinstopfe.
Genauso wenig macht es mich zu einem besseren Menschen, wenn ich 42 Kilometer in einer bestimmten Zeit laufe oder überhaupt einen Marathon renne. Das wird später nicht auf meinem Grabstein festgehalten. Meine Marathonlauferei sagt höchstens aus, dass ich vollkommen stumpf bin, so dass es mir egal ist, vollkommen sinnlos stundenlang zu laufen. (Das wird später aber auch nicht auf meinem Grabstein stehen. Hoffe ich zumindest.)
Dieses existenzielle Nachdenken ist bei den langen Läufen – und beim Marathon selbst – ein ganz heikler Moment. Wenn ohnehin alles egal ist, kann ich ja auch langsamer laufen. Oder gleich stehen bleiben. Das will ich aber nicht.
Stattdessen rufe ich mir die Worte von Richard Ringer ins Bewusstsein. Der wurde letztes Jahr sensationell Europameister im Marathon. Über seinen phänomenalen Schlussspurt sagte er später: „Es tat eh alles weh, da war es dann auch schon egal.“ Ein Satz, der zugegebenermaßen in einem Rückblick auf einen europäischen Triumphlauf heroischer klingt, als auf den drei letzten Trainingskilometern, wo auch alles weh tut, dir aber noch nicht alles egal ist.
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Nachmittags sauge ich gründlich das Wohnzimmer. Zumindest so gründlich, wie es mir nach dem Dreieinhalb-Stunden-Lauf möglich ist. Aber meine Frau und ich wollen später Schokohasen und Ostereier verstecken, da soll es dort dann wenigstens einigermaßen sauber sein. Wobei sich Wollmäuse eigentlich ganz gut eignen, um darin kleinere Schokoeier verschwinden zu lassen. Aber das würde nicht mal mehr unsere mittelmäßigen Reinlichkeits- und Ordnungsstandards erfüllen.
Ich bin mir nicht sicher, ob die Kinder überhaupt noch Wert auf das Ostereiersuchen legen oder ob wir das eher für uns machen. Als Erinnerung daran, wie es war, als die Kinder noch klein waren. Egal. Mit manchen Fragen solltest du dich besser nicht weiter beschäftigen. Zumindest sofern du verdrängen willst, dass deine Kinder groß sind und du folglich alt wirst.
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Die Kinder haben bei uns nur relativ wenige Haushaltspflichten. Das liegt zum einen an den eben erwähnten mittelmäßigen Reinlichkeits- und Ordnungsstandards. Da gibt es gar nicht so viel zu tun. Zum anderen erträgt es meine Frau nicht, wenn jemand anderes die Wäsche aufhängt und dabei nicht ihre farblich ausgeklügelte Wäscheklammer-Ordnung einhält, und ich bekomme ebenfalls leichtes Augenzucken, wenn mein in vielen Jahren perfektioniertes Spülmaschinen-Einräumsystem nicht befolgt wird.
Eine essenzielle Aufgabe haben die Tochter und der Sohn aber doch. Sie müssen am Karsamstag abends immer Osterhasen spielen und bei allen Kindern im Haus vor den Türen Schokohasen und Eier verteilen. Das hat bei uns in der Hausgemeinschaft Tradition. Da sind karsamstags sehr viele Osterhasen unterwegs und es wird so viel Schoki vor die Türen gestellt, dass du Schwierigkeiten hast, auf den Treppenabsätzen durchzukommen.
Obwohl meine Frau und ich einen recht liberalen Erziehungsstil pflegen, dulden wir es unter keinen Umständen, dass sich die Kinder vor diesen Osterhasenpflichten drücken. Sonst müssten wir das nämlich selbst machen. Und dafür hast du ja Kinder. Dass du denen Aufgaben aufdrücken kannst, auf die du keine Lust hast.
Der Sohn meint trotzdem, er könne diesmal nicht, er müsse bis 22 Uhr arbeiten. Ich erwidere, wenn er fünf Stunden lang hinter der Theke Bier verteilt hätte, wüsste er ja, wie das mit der Verteilerei geht und könne dann mit den Oster-Süßigkeiten weitermachen. Er findet, seine Schwester könne das allein machen, schließlich sei sie letztes Jahr an Nikolaus und an Ostern nicht da gewesen, so dass er ohne sie durchs ganze Haus laufen musste. So wie er das sagt, klingt es, als wäre er nicht nur zwei Stockwerke hochgegangen, sondern mehrere Tage auf einer Regenwald-Expedition gewesen und dabei nur knapp mit dem Leben davongekommen.
09. April 2023, Berlin
Vor das Oster-Frühstück hat der Laufplan den Erholungslauf gesetzt. Weil es nur noch zwei Wochen bis zum Marathon sind, jedoch keine 20 Kilometer mehr, sondern nur noch fünfzehn.
Ich beschäftige mich während des Trainings mit meiner Marathon-Playlist. Die ist ganz entscheidend für einen erfolgreichen Lauf. Die Musik darf auf keinen Fall zu langsam sein. Sonst tanzt du gedanklich Stehblues und schleichst in einem Tempo über die Strecke, mit dem du jegliche Bestzeithoffnungen ziemlich schnell begraben kannst. „My heart will go on“ oder „Candle in the wind“ scheiden deswegen aus. Der Beat darf allerdings auch nicht zu schnell sein. Damit du nicht in einer Geschwindigkeit losrennst, in der du zwar auf den ersten Metern dem Duracell-Hasen Konkurrenz machst, bei Kilometer 2 aber zur Reanimation ins Sauerstoffzelt getragen werden musst. Somit dürfen „Bumerang“ von Blümchen oder Speed Metal auch nicht auf die Liste.
Einen idealen Lauf-Song habe ich vor vielen Jahren mal zufällig gefunden. Die Kinder waren damals noch im Kita-Alter. Für längere Bahnreisen hatte ich auf meinem iPod – die Mittelalten erinnern sich – eine CD des Kinderliedermachers Fredrik Vahle gespeichert. Bei einem Lauf wurde mir dann unbeabsichtigt „Der Hase Augustin“ ins Ohr geshuffelt. Ein perfektes Lied für ein flottes aber nicht zu flottes Tempo. Und gute Laune machte es auch.
Allerdings reicht ein Lied nicht für einen Marathon. Ich möchte mir nicht 75-mal anhören, dass der Hase Augustin ein Naturtalent ist und mehrfacher Landesmeister im Zickzackdauerlauf wurde. Vor allem nicht, wenn ich mich die letzten Kilometer auf dem Zahnfleisch durch Hamburg schleppe.
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Vor das Oster-Frühstück haben die Ostereier-Verstecker das Ostereier-Suchen gesetzt. Die Kinder sind mäßig enthusiastisch bei der Sache. Ungefähr mit so viel Begeisterung wie ich gestern beim Saugen des Wohnzimmers.
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Wir verbringen den Nachmittag damit, alte Videos zu schauen. Von den Kindern im Babyalter. Anscheinend dachten wir, die Nachwelt könnte an Aufnahmen in Blair-Witch-Ästhetik interessiert sein, auf denen unsere Kinder zu sehen sind, wie sie auf dem Boden liegen und versuchen sich umzudrehen. Mehr passiert da nicht. Selbst das mit dem Umdrehen klappt nicht. Das Video hat eine Länge von 20 Minuten.
Unter anderem gibt es auch eine Aufnahme von mir, wie ich mit der Tochter auf dem Arm tanze. Zu „Staying Alive“ von den Bee Gees. Ein Video, das schleunigst wieder im Giftschrank verschwinden muss.
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Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Im September erscheint sein neues Buch “Papa braucht ein Fläschchen”. Ebenfalls mehr als zu empfehlen sind “Hilfe, ich werde Papa! Überlebenstipps für werdende Väter”, “Ein Vater greift zur Flasche. Sagenhaftes aus der Elternzeit” sowie “Wenn’s ein Junge wird, nennen wir ihn Judith”*. (*Affiliate-Links)