26. Mai 2023, Berlin
Für unseren Irland-Wander-Trip muss ich noch ein paar Besorgungen machen. Dafür stehe ich nun im dm vor einem Regal mit einem unübersichtlichen Angebot an Erste-Hilfe-Utensilien.
Es gibt Verbandszeug in unterschiedlicher Länge und Materialbeschaffenheit, Wundsalben, Desinfektionsspray, Bandagen und Tapes sowie eine verwirrend große Auswahl an Pflastern. Kleine, große, zugeschnittene, nicht zugeschnittene, sensitive, unsensitive, teure, billige, Kinderpflaster mit lustigen Tiermotiven und Erwachsenenpflaster in ödem Braun, bei deren Anblick dir sofort dieser spezielle Geruch aus der Kindheit in die Nase steigt, wenn dir Mama ein Pflaster auf das aufgeschlagene Knie geklebt hat.
Ganz unten im Regal stehen ein paar Tuben mit der Aufschrift „Pferdesalbe“. Für Begriffsstutzige ist ein Pferd auf den Etiketten abgebildet. Ich frage mich, für was die Salben gut sind. Werden sie von Pferden mit rissigen und schrundigen Hufen benutzt? Dann stünden sie wohl eher in der Tierhandlung und nicht in der Drogerie.
Oder wird bei der Herstellung der Salbe Pferd verwendet? Kann ich mir nicht vorstellen. Und falls doch, würde das bestimmt nicht extra auf die Tube geschrieben. Bei der Tiefkühl-Pferdelasagne wurde seinerzeit ja auch nicht an die große Glocke gehängt, dass sie keine Rinderbolo, sondern Fury-Hack enthält.
Durch eine kurze Internet-Recherche erfahre ich, dass die Salbe ursprünglich tatsächlich bei Pferden eingesetzt wurde. Zum Eincremen schmerzender Beine. Irgendwann hat sich dann anscheinend ein Mensch gedacht, was für Black Beauty gut ist, wird mir auch nicht schaden und hat sich das Zeug auf die Haxen gekleistert.
Neben dem Erste-Hilfe-Regal werden Kondome angeboten. Die brauchen wir aber nicht für unsere Wander-Tour. Außerdem könnten wir sie auch vor Ort erwerben. Rezeptfrei gibt’s die in Irlandt allerdings erst seit 1985 und bis Anfang der 1990er Jahre nur in ausgewählten Apotheken und so genannten Familien-Planungs-Zentren. (Wahrscheinlich erst nach längeren Diskussionen, ob Enthaltsamkeit nicht die bessere Verhütung ist, und einem Vortrag über die Vorzüge, 18 Kinder zu haben.)
Interessanterweise steht bei den Kondomen auch Läuse-Shampoo. (Für den Kopf, nicht für untenrum.) Vielleicht als Warnhinweis: Ohne Kondome bekommst du Kinder und zwei, drei Jahre später liest du am Schwarzen Brett in der Kita einen Aushang mit der Aufschrift „Achtung! Wir haben Läuse!!!” (Um den ernst der Lage zu betonen, immer mit drei Ausrufezeichen. Was vollkommen unnötig ist, denn wenn in einer Kita das Wort „Läuse“ fällt, schrillen sowieso bei allen die Alarmglocken.)
Herpespflaster gibt es ebenfalls bei den Kondomen. Das ist unlogisch. Mit einem fetten Lippenherpes brauchst du keine Präservative. Der verhindert mit hundertprozentiger Erfolgsquote die Anbahnung jedweder sexuellen Aktivität und damit ungewollte Kinder oder Geschlechtskrankheiten.
Die Blasenpflaster, die auf meiner Liste stehen, finde ich wiederum nicht bei den Erste-Hilfe-Utensilien. Bei den Verhütungsmitteln ebenfalls nicht. Nach längerem Suchen entdecke ich sie bei den Strumpfhosen und Fußpflegeprodukten. Wie soll sich da ein Mensch zurechtfinden?
27. Mai 2023, Berlin
Wir wohnen in einer ziemlich engen Straße. Wenn die Autos links und rechts nicht ganz exakt in den vorgesehenen Flächen geparkt sind, wird es für entgegenkommende Autos schwierig, aneinander vorbeizufahren. Die Autos links und rechts sind recht häufig nicht ganz exakt in den vorgesehenen Flächen geparkt.
So auch heute Vormittag. Deswegen stehen sich ein weißer Lieferwagen und ein roter Kombi gegenüber. Einer der Fahrer müsste ein wenig zurücksetzen, um etwas Platz zu schaffen. Das passiert selbstverständlich nicht. Sobald sich Menschen in einen PKW setzen, vergessen die meisten Tugenden wie Nachsicht, Entgegenkommen oder Rücksichtnahme.
Hinter den beiden Autos warten drei bis vier weitere Fahrzeuge, die aufgrund der Lieferwagen-Kombi-Pattsituation auch nicht weiterkommen. Ein Fahrer hupt wütend. Lang und laut. Wahrscheinlich denkt er, die Schallwellen wirbeln den Weg frei. Tun sie jedoch nicht.
Der Fahrer des Lieferwagens und des Kombis haben inzwischen ihre Fensterscheiben runtergekurbelt. Sie diskutieren, wer zurücksetzen soll. Im Prinzip sind sie einer Meinung: Der andere soll Platz machen.
Was bemerkenswert ist: Die Männer reden vollkommen ruhig miteinander. Vielleicht ein klein wenig aufgebracht, aber sie schreien sich nicht an und bedenken sich auch nicht mit allerlei Unflätigkeiten. Für Berlin ist das sehr ungewöhnlich. Noch ungewöhnlicher, als wenn einer der beiden freiwillig zurückfahren würde.
Das Verkehrsaufkommen in der Straße nimmt weiter zu.
Aus dem Kombi steigt eine Frau aus und fotografiert das Kennzeichen des Lieferwagens. Keine Ahnung warum. Vielleicht ist sie eine Art Trainspotterin aber für Nummernschilder. Immer wenn sie eins sieht, macht sie ein Foto davon. (Ein sehr zeitaufwändiges Hobby.)
Die beiden Männer verlassen ihre Autos ebenfalls. Aber nicht um ihre Unterhaltung durch einen Faustkampf fortzusetzen, sondern um sich gegenseitig zu zeigen, wie wenig der andere nur zurückfahren müsste, um die Situation aufzulösen. Dabei reden sie weiterhin vollkommen sachlich und besonnen. Die beiden führen quasi einen herrschaftsfreien Diskurs, bei dem Habermas vor Rührung feuchte Augen bekäme. Vielleicht befinde ich mich nicht mehr in Berlin, sondern in einem Paralleluniversum. Das bessere Argument setzt sich trotzdem nicht durch. Die Autos werden keinen Millimeter bewegt.
Der Verkehr auf beiden Seiten staut sich mittlerweile bis nach Brandenburg.
Nach gut fünfzehn Minuten finden die Männer doch einen Kompromiss. Sie quetschen sich einfach gleichzeitig vorwärts aneinander vorbei. Lieber fahren sie sich eine Schramme ins Auto, als auch nur ein µ nachzugeben. Sehr schön. Das ist Berlin, wie ich es kenne.
28. Mai 2023, Berlin
Die Leichtathletik-Abteilung des TSV GutsMuths schickt mir eine Mail. Am 3./4. Juni findet das jährlich Sportfest statt, zu dem ich herzlich eingeladen werde.
Das Sportfest besteht aus den Disziplinen 100 Meter, Weitsprung, Kugelstoßen und 800 oder 1.500 Meter. Was das mit Fest zu tun haben soll, erschließt sich mir nicht. Der TSV GutsMuths und ich scheinen sehr unterschiedliche Auffassungen davon zu haben, was ein Fest zu einem Fest macht.
Das mit den 800 oder 1.500 Metern bekäme ich hin. Wenn ich aber 100 Meter renne, versuche, beim Weitsprung nicht vor der Sandgrube zu landen, und mich beim Kugelstoßen bemühe, dass mir die Eisenkugel nicht auf die Füße fällt, verstoße ich wahrscheinlich gegen Artikel 1 des Grundgesetzes („Die Würde des Menschen ist unantastbar.“) Daher verzichte ich auf die Sportfest-Teilnahme und verschiebe die Mail in den virtuellen Papierkorb.
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Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Im September erscheint sein neues Buch “Papa braucht ein Fläschchen”. Ebenfalls mehr als zu empfehlen sind “Hilfe, ich werde Papa! Überlebenstipps für werdende Väter”, “Ein Vater greift zur Flasche. Sagenhaftes aus der Elternzeit” sowie “Wenn’s ein Junge wird, nennen wir ihn Judith”*. (*Affiliate-Links)