Der Sohn und sein Freund liegen in den letzten Zügen der Vorbereitung ihrer morgigen Abi-Präsentationsprüfung. Das Thema: „Ritalin-Fluch oder Segen?“ Ob das ADHS-Medikament beim Lernen helfen kann, und was die biologischen, aber auch ethischen Probleme sind.
Die beiden hatten der Lehrerin vorgeschlagen, im Selbstversuch Ritalin zu nehmen, um aus erster Hand über die Wirkungen berichten zu können. Die meinte, das sei eine originelle Idee, für einen Abi-Vortrag aber nicht ganz angemessen. Was die freundliche Umschreibung ist für „Ihr habt wohl nicht alle Latten am Zaun.“.
Ich gehe mit den beiden ihre PowerPoint-Präsentation durch. Wir optimieren das Layout ein wenig, justieren Grafiken und feilen an Formulierungen. Zum Schluss hören wir im Internet nach, wie „Cochrane Developmental, Psychosocial & Learning Problems Group” korrekt ausgesprochen wird. Ein fürchterlicher Zungenbrecher in einem Vortrag. Genauso wie die Worte Phenylethylamine, Monoaminoxidasen, vesikulärer Monoamintransporter und Methylphenidat. Ich bin sehr froh, dass ich die Präsentation nicht halten muss.
Anschließend machen sich die Jungs erstmal einen Latte Macchiato – getreu dem Motto „First things first“ – dann schreiben sie ihre Vortragskarten, recherchieren noch ein paar Sachen nach, essen zwischendurch eine Kleinigkeit, arbeiten weiter an den Karten und sind um 23 Uhr schließlich so weit, einen Probedurchlauf vor meiner Frau und mir durchzuführen. Der läuft schon recht gut, mit leichten Abstrichen beim Fazit, das sie noch ein wenig freestylen, weil sie es sich gerade erst ausgedacht haben.
Danach nehmen die beiden kleinere Verbesserungen an den Folien vor, trinken ein paar weitere Latte, passen ihre Vortragsnotizen an, tragen sich ihre Teile noch ein paar Mal gegenseitig vor, bis sie schließlich gegen 2 Uhr ins Bett gehen. Wie so richtige Studenten vor einem Referat.
31. Mai 2024, Berlin
Tag der Präsentationsprüfungsentscheidung. Der Sohn und der Freund sind nun doch ein wenig aufgeregt. Vor allem als ihnen einfällt, dass sie noch keine Quellenübersicht vorbereitet haben. Hektisch kopieren sie Internetlinks zusammen und verteilen diese auf zwei Folien. Ich bin beeindruckt vom Umfang der von ihnen bearbeiteten Literatur. Allerdings nur so lange, bis die beiden freimütig erzählen, sie hätten sich das gar nicht alles angeschaut, aber das sähe gut aus, wenn da so viel stünde.
Ob das gut geht? Eigentlich sollte ihr Freund J. ihnen eine Warnung sein. Der hatte in seinem Quellenverzeichnis einen 300-Seiten-Schmöker aufgeführt, den er nur zur Hälfte kursorisch gelesen hatte. Im Gegensatz zu seinem Lehrer, der sich das Buch aus Interesse zulegte, durcharbeitete und J. im Prüfungsgespräch mit einigen spezifischen Detailfragen überraschte.
Der Sohn und der Freund bleiben von so etwas verschont. Sie tragen flüssig vor, gehen souverän mit kleinen Verhasplern um und das Fazit funktionierte auch einwandfrei. Sie argumentieren, dass die Frage, ob Ritalin Fluch oder Segen am eigentlichen Problem vorbeigehe, denn viel wichtiger wäre, sich mit den gesellschaftlichen Verhältnissen zu beschäftigen, die dazu führen, dass junge Menschen sich überhaupt gehirndopen wollen. Wie so richtige Wissenschaftler. Wenn du etwas nicht beantworten kannst, stellst du einfach eine neue Frage.
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Abends kommen ein paar Freunde des Sohns zu uns. Um ihre Prüfungen zu feiern und für eine spätere Party vorzuglühen. Wir haben Chili con carne gekocht und die Jungs dürfen Gin Tonic trinken. Von dem guten, was sie leicht überfordert.
N., einer der Freunde, erzählt von einer unangenehmen Begegnung mit seinem Deutschlehrer. Der hatte sich eine neue Brille zugelegt, durch die er nun große Ähnlichkeiten mit dem Serienmörder Jeffrey Dahmer aufweist. Was nicht weiter problematisch wäre, hätte er nicht gefragt, was N. von der Brille halte. Der redete sich ausweichen mit einem „Das ist mal etwas anderes.“ heraus. An Stelle des Lehrers hätte ich nach so einer Antwort die Brille unverzüglich weggeworfen.
01. Juni 2024, Berlin
Heute sind sowohl Internationaler Kindertag als auch Weltelterntag. Was die Frage, aufwirft, wer besoffen mit dem Bollerwagen durch die Lande ziehen darf.
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Komme in die Küche, als C. gerade einen leeren Milchkarton kleinstmöglich zusammenfaltet und in den Eimer mit dem Plastikmüll wirft. Wieder verspüre ich ein eigenartiges Gefühl der Befriedigung. Weil der Freund meiner Tochter Müll platzsparend entsorgt? Warum ist mir das wichtig? Wohnt in mir nicht nur ein 50-er-Jahre-Patriarch, sondern auch eine schwäbische Hausfrau?
02. Juni 2024, Berlin
Erneuter Polizeieinsatz vor unserem Haus. Über Lautsprecher fordert ein Streifenwagen einen Rollerfahrer knackend und krächzend auf, anzuhalten. Irgendetwas stimmt mit dem Nummernschild nicht. Die Angelegenheit wird diesmal ohne gezückte Waffen und Handschellen geklärt und der Mann darf weiterfahren. Somit ist meine Serienidee „Law and Order Moabit“ hinfällig. Schade
Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Im September erscheint sein neues Buch “Papa braucht ein Fläschchen”. Ebenfalls mehr als zu empfehlen sind “Hilfe, ich werde Papa! Überlebenstipps für werdende Väter”, “Ein Vater greift zur Flasche. Sagenhaftes aus der Elternzeit” sowie “Wenn’s ein Junge wird, nennen wir ihn Judith”*. (*Affiliate-Links)
Vielen Dank für die sonntägliche Unterhaltung, jede Wochenschau ist ein Genuss!
Vielen Dank meinerseits. Das freut mich sehr.
>>Was die freundliche Umschreibung ist für „Ihr habt wohl nicht alle Latten am Zaun.“.<<
Hi, Hi, an der Lehrerin ist eine Diplomatin verloren gegangen…….ich hätte das wohl gleich so gesagt. 😂😂
Gruß
Andi
Methylfenidat. Und direkt ein Ohrwurm von „Feliz navidad“
Im Juni!
Exzellenter Ohrwurm.