Zum Sonntagabend gibt es meine semi-originellen Gedanken und semi-spannenden Erlebnisse aus der abgelaufenen Woche. Manchmal banal, häufig trivial, meistens egal.
17. Juni 2024, Berlin
Meine Eltern haben Hochzeitstag. 60-jährigen. In Worten sechzigjährigen. Diamantene Hochzeit also.
Anlässlich dieses Jubiläums erhalten sie unter anderem ein Glückwunschschreiben der rheinland-pfälzischen Ministerpräsidentin. Zwei Tage später erklärt Malu Dreyer ihren Rücktritt. Weil ihre Kraft und Energie nicht mehr für die Ausübung des Amtes ausreichen. Ich gehe aber nicht davon aus, dass ihr diese Erkenntnis kam, als sie den Brief an meine Eltern unterschrieb.
Nicht nur die EM, sondern auch unser familieninternes Tippspiel ist im vollen Gange. Bei uns geht es nicht um einen silbernen Pokal und acht Millionen Euro Erfolgsprämie, sondern um etwas viel Besseres: ein Spaghettieis für den ersten Platz. Und noch wichtiger: Als besondere Demütigung bekommen alle anderen eine einzelne Kugel Eis. In einer dieser räudigen Waffeln, deren Konsistenz an Styropor erinnert. (Genauso wie der Geschmack.)
Ich bin Titelverteidiger, da ich unser Tippspiel zur EURO 2021 knapp für mich entschieden hatte. (Die WM in Katar hatten wir ausgelassen, damit alle wissen, dass wir auf der moralisch richtigen Seite stehen, und um es den katarischen Machthabern und vor allem der FIFA so richtig zu zeigen. Die war dann auch ganz zerknirscht und entschied, erst 2034 die WM nach Saudi-Arabien zu vergeben.)
Der heutige Tipp-Spieltag ist für uns fast schon desaströs. Wir haben zwar alle auf einen Sieg Frankreichs gegen Österreich gesetzt, aber niemand auf ein 1:O. Bei allen anderen Partien lagen wir vollkommen daneben. Wer kann schon ahnen, dass Rumänien 3:O gegen die Ukraine gewinnt und die Slowakei Belgien schlägt? (Außer dem Typ, der das Check 24-Tippspiel anführt und seit Beginn der EM mit traumwandlerischer Sicherheit nicht nur die Sieger sondern meistens auch die exakten Ergebnisse vorhersagt.)
18. Juni 2024, Berlin
Während des Abendspiels – Portugal gegen Tschechien – diskutieren der Sohn und ich, ob wir bei der EM eher als Stürmer ein Tor schießen oder als Torwart zu Null spielen könnten. Der Sohn denkt, das mit dem Tor könnte klappen. Mit etwas Glück müsste man am richtigen Ort stehen und dann einfach abstauben. Ich bin da skeptisch. Ich glaube, wenn ich im Strafraum auftauchte, würde Pepe mich wahrscheinlich mit Schmackes bis auf die Haupttribüne checken.
Dagegen könnte ich mir vorstellen, als Torwart keinen reinzulassen. Vorausgesetzt die Abwehr sorgt dafür, dass kein einziger Schuss auf mein Tor kommt.
Zugegebenermaßen sind beide Szenarien sehr, sehr unwahrscheinlich. Noch unwahrscheinlicher ist nur, dass irgendjemand auf die Idee kommt, mich überhaupt aufzustellen. Zumindest kann ich mir nur schwerlich vorstellen, in zweieinhalb Wochen einen Anruf von Julian Nagelsmann zu bekommen, der mir erklärt: „Für das Finale morgen habe ich eine Spitzenidee. Du darfst mitspielen. Ob im Tor oder Sturm kannst du dir aussuchen.“
###
Das Tippspiel bleibt unerfreulich. Insbesondere für mich. Weil meine Mitspieler*innen – beziehungsweise Konkurrent*innen, wie ich sie nenne – mit exakten Ergebnissen oder wenigstens richtigen Tordifferenzen aufwarten, falle ich auf den letzten Platz zurück mit und liege sechs Punkte hinter der führenden Tochter. Um es positiv zu sehen: Das sind zwölf Punkte weniger Rückstand als Bayern München auf Bayer Leverkusen am Ende der Saison hatte.
19. Juni 2024, Berlin
Deutschland gewinnt 2:0 gegen Ungarn. So wie Neuer gehalten hat, glaube ich nicht mehr, dass ich auch zu Null spielen könnte.
Das Tippspiel ist weiterhin zäh. Nun sind es schon sieben Punkte auf Platz 1.
20. Juni 2024, Berlin
Der Sohn hat einen Termin im Krankenhaus zur Wundkontrolle. Da er noch nicht volljährig ist, muss ich ihn begleiten.
Hinweg: zwölfeinhalb Kilometer, Fahrtzeit auf dem Rad: 40 Minuten, Wartezeit auf Station: 30 Minuten. Dann dürfen wir ins Behandlungszimmer. Eine junge Krankenpflegerin schaut sich die Wunde an, ist begeistert, dass sie „tippi-toppi“ aussieht, findet, da müsse die Ärztin gar nicht drauf schauen, klebt ein neues Pflaster auf und verabschiedet sich gut gelaunt. Dauer: 90 Sekunden.
Rückweg: zwölf Kilometer, Fahrtzeit: 38 Minuten.
###
Tippspiel: Nur noch vier Punkte Rückstand auf die Tochter.
21. Juni 2024, Berlin
Der Sohn bekommt in der Schule seine Abinoten ausgehändigt. Um es kurz zu machen: Ich habe weiterhin und auch zukünftig und bis auf alle Zeiten das beste Abi der Familie. Deswegen schuldet mir der Sohn nun fünf Tafeln Schokolade. (Warum er mir schließlich sechs Tafeln überreicht, bleibt sein Geheimnis.)
###
Erfreuliche Tippspiel-Wende. Ich liege bei Ukraine gegen Slowenien richtig und bei Österreich gegen Polen mit der Tordifferenz und übernehme die Führung.
###
Abends Fahrt mit dem Nachtzug. Beziehungsweise Warten am Bahnsteig, denn der Zug hat Verspätung.
Der Sohn deutet auf einen volltätowierten Hünen neben uns und erklärt, das sei ein bekannter Rapper. Gzuz. Den Namen habe ich schon mal gehört. Wenn ich mich richtig erinnere, hatte er sich mal einen Shitstorm eingehandelt, weil er einen Schwan geohrfeigt und als Hurensohn verhöhnt hat. Dafür zeigte ihn PETA an. Nur für die Ohrfeige, nicht wegen der Hurensohn-Beleidigung. Glaube ich zumindest, bin mir bei PETA aber nicht sicher.
Der Sohn fragt Gzuz, ob er ein Selfie mit ihm machen darf, was dieser gnädig gewährt. Auf dem Foto ist der Sohn wesentlich besser getroffen als der Rapper. Der sieht total breit aus. Ist er wahrscheinlich auch. Oder er konzentriert sich gerade sehr, sehr stark, weil er im Kopf die Zahl Pi bis auf die 138. Stelle aufsagt. Ich behalte das aber für mich. Schließlich möchte ich mir keine Schelle einfangen und als Hurensohn beschimpft werden.
22. Juni 2024, Illhaeusern
Familientreffen im Elsass. In Ilhaeusern. Das liegt in der Nähe von Colmar. Das liegt in der Nähe von Straßburg. Das liegt in der Nähe von Freiburg.
In dem 700-Seelen-Dorf gibt es ein sehr gutes Restaurant, in das mein Bruder und ich unsere Eltern anlässlich ihrer Diamantenen Hochzeit einladen. „Sehr gutes Restaurant“ trifft es nicht ganz. Das ist so, als würde ich sagen, Roger Federer ist ein ganz guter Tennisspieler. Oder Taylor Swift ein recht erfolgreicher Popstar. Das Restaurant ist mit zwei Michelin-Sternen ausgezeichnet.
Zur Silbernen Hochzeit meiner Eltern waren wir schon einmal dort. Eigentlich hatten meine Eltern das als Trip zu zweit geplant, aber mein Bruder und ich haben uns da reingewanzt. Wahrscheinlich dachten wir, die beiden können sich nichts Schöneres vorstellen, als ihr 25-jähriges Ehejubiläum gemeinsam mit ihren Söhnen in einem Gourmet-Tempel zu verbringen. Das war quasi unser Geschenk an sie.
Zur Goldenen Hochzeit revanchierten mein Bruder und ich uns und luden die Eltern dorthin ein. Inzwischen hatten wir selbst Familien. Die Tochter war damals zehn, der Sohn sieben. Weil ihnen die französische Sterneküche nicht zusagte, nahmen sie die Käseplatte. Zur Vorspeise, als Zwischengang und zur Hauptspeise. Zum Nachtisch wählten sie dann mit Schokolade.
Am meisten beeindruckt war der Sohn seinerzeit von den Toiletten und den beheizten Klobrillen. Und dass, jedes Mal wenn ihm ein Löffel oder eine Gabel runterfiel, sofort ein Kellner neues Besteck brachte. (Ich glaube, irgendwann wurde ein Mitarbeiter exklusiv für diese Aufgabe abgestellt.)
Nun, zehn Jahre später, machen wir erneut ein Elsass-Revival. Mittlerweile sind die Kinder gastronomisch experimentierfreudiger und ihr kulinarischer Horizont hat sich über den Käsetellerrand hinaus erweitert. Der Sohn fotografiert fleißig alle Gänge. Ich bin mir nicht sicher, ob das für ein Restaurant dieser Klasse angemessen ist, aber wenigstens muss ich das dann nicht machen.
Der Kellner – oder wie er hier heißt: Maître – erklärt uns bei jedem Gang geflissentlich, was wir da auf unseren Tellern haben, und ich vergesse es sofort wieder, sobald die Worte seinen Mund verlassen haben. Was auch daran liegt, dass mir Begriffe wie Salat-Emulsion, soufflierte Farce oder Concasse von Tomaten nichts sagen.
Trotzdem – wahrscheinlich genau deswegen – ist alles fantastisch. Obwohl ich viele der Zutaten niemals selbst verwenden beziehungsweise sogar vermeiden würde. Aber von einem Meisterkoch zubereiteter Fenchel, Sellerie oder Artischocken-Herzen schmecken gar nicht wie Fenchel, Sellerie oder Artischocken sondern köstlich. (Ich denke dieses Urteil von mir wird den Küchenchef mindestens so viel bedeuten wie seine beiden Michelin-Sterne.)
In zehn Jahren zur Gnadenhochzeit meiner Eltern werden wir wieder kommen. Vielleicht auch schon in fünf zur Eisernen.
Alle Beiträge der Wochenschau finden Sie hier.
Sie möchten informiert werden, damit Sie nie wieder, aber auch wirklich nie wieder einen Familienbetrieb-Beitrag verpassen?
Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Im September erscheint sein neues Buch “Papa braucht ein Fläschchen”. Ebenfalls mehr als zu empfehlen sind “Hilfe, ich werde Papa! Überlebenstipps für werdende Väter”, “Ein Vater greift zur Flasche. Sagenhaftes aus der Elternzeit” sowie “Wenn’s ein Junge wird, nennen wir ihn Judith”*. (*Affiliate-Links)