Ein Radfahrer schießt auf dem Bürgersteig an mir vorbei. Er schaut genervt, weil ich nicht mehr Platz mache, was mir schlicht unmöglich ist, da ich bereits mit einem Bein auf der Straße stehe. (Okay, ich könnte mich auch von einem Auto anstatt von ihm überfahren lassen.) Deswegen muss er minimal ausweichen, was er, wie mir seine Mimik signalisiert, nur äußerst widerwillig tut.
Ich bin kurz davor ihm hinterher zu rufen. „Geht das vielleicht auch ein wenig langsamer, junger Mann?“ Dann hat sich mein innerer Rentner wieder beruhigt und ich gehe wortlos weiter.
200 Meter später schnippt ein Mann seine Kippe knapp an mir vorbei an den Straßenrand. Ich schaue ihn irritiert an, er schaut maximal unirritiert zurück.
An der nächsten Ecke fährt eine ältere Dame auf einem E-Rolli mit beachtlichem Tempo um die Kurve und mich fast über den Haufen. Mit einem beherzten Sprung zur Seite bringe ich mich gerade noch in Sicherheit. Die Frau stört sich nicht weiter daran und rast kommentarlos von dannen.
Ich bin mir nicht sicher, ob diese Erlebnisse anekdotische Evidenz für die zunehmende Rücksichtslosigkeit und Verrohung der Gesellschaft sind. Vielleicht bin ich einfach nur unsichtbar geworden und die Menschen sehen mich schlicht nicht. Das wäre ganz schön, denn dann könnte ich dem nächsten Doofie unbemerkt eine Nackenschelle verpassen.
08. Juli 2023, Berlin
0.30 Uhr. Der Sohn ist zurück aus Paris. Heute früh saß er mit seinem Kurs pünktlich im TGV, doch der fuhr zwei Stunden lang nicht los. Dadurch verpassten sie ihren Anschlusszug in Karlsruhe um fünf Minuten. Warum der nicht warten konnte, blieb unklar. Möglicherweise haben die Passagier*innen darauf bestanden, weil sie kein Bock auf eine fünfstündige Fahrt mit einer 30-köpfigen Gruppe von Jugendlichen hatten.
Somit mussten sie einen anderen Zug nehmen, der eine Stunde später als geplant startete. Dank eines Böschungsbrandes auf der Strecke sowie eines Bundespolizei-Einsatzes in ihrem Zug verlängerte sich die Fahrzeit zusätzlich und sie kamen mit rund drei Stunden Verspätung am Berliner Hauptbahnhof an.
Trotz der späten Stunde erklärt sich der Sohn bereit, die Kursfahrt in knappen Worten für uns zusammenzufassen. Paris sei voll schön („Ganz viele alte Gebäude, alles in hellem Stein und die Straßen sind super breit.“), aber auch voll teuer. („8 Euro für ein kleines Baguette, von dem du nicht einmal satt wirst. Die spinnen doch.“)
Alle hätten sich gut verstanden, es hätte keinen Streit gegeben und sie hätten viel Spaß gehabt. Von Unruhen hätten sie nichts mitbekommen, aber es wäre ziemlich viel Polizei unterwegs gewesen.
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Das erhöhte Polizeiaufkommen wurde einem seiner Zimmernachbarn zum Verhängnis. Der meinte, am frühen Abend mit einem stattlichen Joint im Mund an einer Gruppe Polizisten vorbei gehen zu müssen. Warum er das für eine gute Idee hielt, blieb sein Geheimnis. Während ihn die ersten drei Polizisten nur befremdet anschauten, hielt ihn der vierte Kollege schließlich an.
Bei der unvermeidlich folgenden Leibesvisitation kam eine Menge an Gras zum Vorschein, die selbst mit sehr viel Wohlwollen nicht mehr als Eigenbedarf interpretiert werden konnte. (Wobei das natürlich eine subjektive Einschätzung ist und stark vom Ausmaß deines Haschkonsums abhängt. Wenn du beispielsweise Kette kiffst, können auch 12 Gramm durchaus als Eigenbedarf gelten.)
Der Sohn und zwei weitere Freunde erschienen den Polizisten verdächtig genug, um sie ebenfalls zu filzen. Da sie alle clean waren, blieb die Durchsuchung für sie folgenlos.
Eine ihrer Mitschülerinnen hielt die Szene von der anderen Straßenseite fotografisch fest, so dass nun ein Bild des Sohns existiert, wie er in Paris an einer Hauswand steht und von einem französischen Polizisten mit umgehängter Maschinenpistole abgetastet wird. Eine spätere Karriere als Bundeskanzler könnte damit schwierig werden.
Im Nachhinein ist diese Geschichte zwar recht amüsant. Aber es führt einem auch vor Augen, wie unterschiedlich der Kontakt mit der Polizei abläuft, wenn du ein weißer Jugendlicher aus Deutschland bist oder ein junger Mensch mit Migrationsgeschichte, der in einer der französischen Vorstädte lebt.
Für den kiffenden Mitschüler blieb die Geschichte nicht ohne Konsequenz. Gerade als er sich mit den Polizisten darauf geeinigt hatte, die Angelegenheit auf dem ganz kleinen Dienstweg beizulegen, indem er das Gras auf den Bürgersteig wirft und zertritt, meldete sich die Lehrerin, die vorher kontaktiert worden war.
Somit konnte der Vorfall nicht unter dem Deckmantel der Verschwiegenheit in Vergessenheit geraten, sondern wurde doch aktenkundig. Nicht bei der Pariser Polizei. Deren Interesse an einer strafrechtlichen Verfolgung eines Berliner Jugendlichen mit ein paar Gramm Haschisch zu viel liegt weit unter Normalnull. Aber dafür bei der Schule.
Der Schüler musste am nächsten Morgen nicht nur die Heimreise antreten, sondern auch den Rest der Woche zur Schule gehen und obendrein ein wenig angenehmes Gespräch mit dem Schulleiter führen. Am Ende der Ferien entscheidet die Schulkonferenz dann noch über etwaige disziplinarische Maßnahmen.
Seine Eltern waren von der Aktion ebenfalls wenig angetan. Sie strichen ihm den Spanienurlaub mit seinen Kumpels, für den er bereits bezahlt hat. Ich denke nicht, dass er in naher Zukunft sein I love Paris-Shirt tragen wird.
09. Juli 2023, Berlin
Eine junge Frau läuft an unserem Haus vorbei. Sie ist Anfang 30, hat Kopfhörer in den Ohren und wirkt unauffällig. Abgesehen davon, dass sie ziemlich laut singt.
Als sie an zwei Männern vorbeiläuft, schaltet sie allerdings in den Nicht-mehr ganz-so-unauffällig-Modus und beschimpft die beiden lautstark. Was sie genau sagt, verstehe ich nicht. Nur dass mehrmals das Wort „hässlich“ fällt. Dann geht sie weiter, als sei nichts geschehen.
Eine ihr entgegenkommende ältere Dame weicht mit besorgter Miene aus. „Sie müssen keine Angst vor mir haben“, beschwichtigt sie die Frau. „Ich bin nicht verrückt, ich spüre nur manchmal die Aura von anderen Menschen.“
Mir liegt es wirklich fern, unsensibel zu sein und jemanden als verrückt zu bezeichnen. Aber auf der Straße laut singen, andere Menschen grundlos anschreien und Auren spüren, gelten im sozialen Miteinander gemeinhin nicht als normale Verhaltensweisen. Selbst in Berlin nicht.
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Die Wochenschau verabschiedet sich mit diesem Beitrag in die Sommerpause, kommt Mitte August zurück und wünscht allen eine schöne Ferienzeit.
Damit die Wartezeit aber nicht zu lange wird, gibt es ab nächstem Mittwoch die “Irischen Tagebücher” über unseren kürzlichen Wanderurlaub.
Alle Beiträge der Wochenschau finden Sie hier.
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Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Im September erscheint sein neues Buch “Papa braucht ein Fläschchen”. Ebenfalls mehr als zu empfehlen sind “Hilfe, ich werde Papa! Überlebenstipps für werdende Väter”, “Ein Vater greift zur Flasche. Sagenhaftes aus der Elternzeit” sowie “Wenn’s ein Junge wird, nennen wir ihn Judith”*. (*Affiliate-Links)
Uhhh schön mit den Tagebüchern, deine Urlaubserinnerungen sind immer ein Fest!
Herzlichen Dank!
Ich wünsche einen tollen Urlaub und freue mich schon sehr auf das Wandertagebuch. Ich war schon ein bißchen traurig, von diesem Großereignis gar nichts gelesen zu haben :-)
Vielen Dank.
Die Urlaubs-Tagebücher schaffe ich immer erst mit einiger Verzögerung zu veröffentlichen. Sonst bleibt vom Urlaub nicht mehr so viel übrig und ich müsste darüber schreiben, wie ich schreibe. Das möchte ich niemandem zumuten.