12. Juli 2024, Berlin
Tumult vor unserem Haus. Diesmal tagsüber. Vom Balkon aus sehe ich, wie sich der Prediger mit zwei Jugendlichen streitet. Der Prediger ist kein Geistlicher, sondern ein Mann von schätzungsweise Anfang 30, der immer mal wieder durch die Nachbarschaft zieht und dabei irgendetwas vor sich hinbrabbelt. Am Kloster gegenüber bleibt er regelmäßig stehen und ergeht sich in emotionalen Suaden gegen die katholische Kirche. (Anscheinend ist die Klosterkirche ein Magnet für Menschen mit psychischen Problemen.)
Ich weiß nicht, wie seine Auseinandersetzung mit den beiden Jungs anfing und höre nur, wie er sie anschnarrt: „Ihr habt keinen Respekt. Wie alt seid ihr denn? 15, 16?“ Die Knaben sagen nichts. „Ihr seid noch Kinder. Mit euch kämpfe ich nicht“, fährt er fort. „Aber wenn ihr 21 seid, kämpfen wir. Ich trainiere die nächsten sechs Jahre und dann treffen wir uns wieder zum Kampf.“
Ich fände es lustig, wenn der Prediger sich in den nächsten sechs Jahren zum Shaolin-Kung-Fu-Meister ausbilden ließe und dann am 12. Juli 2030 vor unserem Haus auf die Jungs wartet, um ihnen den Arsch zu versohlen.
Währenddessen schießt der Prediger mit seiner Schimpferei aber ein wenig übers Ziel hinaus. Er kündigt an, er werde sie beide töten und ihre Familien würden um sie weinen. Das ist doch etwas zu heftig für normalen Trash Talk.
Ich habe ohnehin den Eindruck, dass es dem Prediger zurzeit nicht so gut geht. Dass er sich mit Passant*innen anlegt, kam immer mal wieder vor, aber in letzter Zeit häufen sich diese Episoden. Vielleicht nimmt er gerade zu viele Drogen. Oder zu wenige. Oder zu schlechte. Seit ein paar Wochen sehe ich ihn öfter, wie er barfuß durchs Viertel läuft und mit zorngefalteter Stirn rumbrummelt. Oder er pöbelt auf der Turmstraße Autofahrer an, die zu nahe an ihm vorbeifahren, was aber daran liegt, dass er mitten auf der Straße steht.
Hoffentlich geht es ihm bald wieder besser. Denn eigentlich bewundere ich ihn ein bisschen für seine Leidenschaft, mit der er seine Schimpftiraden vorträgt. Und ein bisschen fürchte ich mich vor ihm, weil ich Angst habe, zur Zielscheibe seines Unmuts zu werden.
13. Juli 2024, Berlin
Besuch der Dark-Matter-Ausstellung in Lichtenberg. In sieben Räumen sind Licht-Klang-Raum-Installationen errichtet, die, wie es auf der Website heißt, „die Grenzen zwischen realer und digitaler Welt verschwimmen“ lassen.
In einer Halle gibt es ein Lagerfeuer, bei dem Leuchtkörper zu flackernden Holzscheiten aufgeschichtet sind. Im Hintergrund zirpen Grillen vom Band, an der Decke simulieren LED-Lämpchen einen Sternenhimmel. Wahrscheinlich haben alle im Raum gerade Erinnerungen an ihre Kindheit, wie sie mit Freunden an echten Lagerfeuern hockten, jemand klampfte auf der Gitarre und gemeinsam wurden Lieder aus dem „Bettelmusikant“ und der „Mundorgel“ gesungen. Faszinierend und gleichzeitig ein wenig von der Natur entfremdet.
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Anschließend weiter zu einem Hoffest in Köpenick. Es ist fast 25 Jahre her, dass ich das letzte Mal in Köpenick war. Auf dem Fest werden ein Geburtstag, ein paar bestandene Brandmeister-Prüfungen und das Leben an sich gefeiert. Das Wetter ist toll, das Essen lecker, die Getränke auch, der DJ macht einen guten Job und die Gäste sind wunderbar divers. Und ein wenig skurril.
Meine Highlights:
- Die ehemalige Industrie-Kletterin, die meinen festen Händedruck lobt, worüber ich mich als alter People-Pleaser unnormal doll freue. Ihr Kreuz ist so breit, dass ich mir sicher bin, sie könnte es mit jedem auf dem Fest aufnehmen. Wahrscheinlich sogar mit allen gleichzeitig.
- Der mittevierzigjährige Profi-Skater, der mir ausführlich erläutert, was das Wichtigste bei der Kindererziehung ist. Irgendwann stellt sich raus, dass er selbst gar keine Kinder hat.
- Der Berufssoldat, mit dem ich über Wehr- und Zivildienst, seine Ablehnung von Krieg und „Eine Frage der Ehre“ mit Tom Cruise und Jack Nicholson rede.
- Die junge Frau mit den rotummalten Augen, die bei uns um die Ecke im Büro einer Modelagentur gearbeitet hat und daher den Prediger kennt. Genau wie ich, mochte sie ihn und fürchtete sich gleichzeitig ein wenig vor ihm.
- Der älterer Ost-Hippie, der häufiger in Moabit ist, weil dort die Praxis seiner Heilerin liegt. Ich denke zuerst, er macht einen Spaß, aber er lacht nicht. Später behauptet er, der Karneval in Düsseldorf sei besser als der in Köln. Da ist mir klar, dass er ein bisschen verrückt ist.
14. Juli 2024, Berlin
Heute ist Nationaler Tag der Nacktheit. Ich gehe trotzdem bekleidet joggen.
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Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Im September erscheint sein neues Buch “Papa braucht ein Fläschchen”. Ebenfalls mehr als zu empfehlen sind “Hilfe, ich werde Papa! Überlebenstipps für werdende Väter”, “Ein Vater greift zur Flasche. Sagenhaftes aus der Elternzeit” sowie “Wenn’s ein Junge wird, nennen wir ihn Judith”*. (*Affiliate-Links)