Eine kleine Wochenschau | KW29-2024 (Teil 2)

Teil 1


18. Juli 2024, Berlin

Die Nächte auf dem Sofa sind erholsamer als gedacht. Ich stehe morgens ausgeruht auf, topfit für den Tag und überlege, eine Runde mit dem Rad zu drehen. Der Corona-Test ist anderer Meinung. Er zeigt einen sehr dünnen, aber nicht zu leugnenden zweiten Strich an.

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Die Tochter übernimmt den Einkauf. Nach anderthalb Stunden kommt sie stöhnend und fluchend zurück. Sie hatte keinen Euro für den Einkaufs-wagen und musste einen Korb nehmen. In den passte nicht alles von der Einkaufsliste rein und weil es ihr zu peinlich war, nach dem Bezahlen nochmal zu Penny reinzugehen, zog sie weiter zu Rewe, um dort die restlichen Sachen zu besorgen.

Auf dem Heimweg stellte sie dann fest, dass sie extrem ungünstig gepackt hat. Die leichten Sachen in den Rucksack, die schweren in die Tragetasche, die sie mühsam nach Hause schleppen musste.

„Einkaufen ist voll anstrengend“, fasst die Tochter ihren Trip zu den Supermärkten zusammen. Eine der Erkenntnisse, die du nicht in der Schule oder an der Uni gewinnst, sondern nur im „Real Life“. Oder wie es die Philosophin Barbara Bleich im Interview mit dem Spiegel ausdrückt: „Das Leben lässt sich (…) nicht in der Schule lernen, das Leben muss erfahren werden.“

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Meine Frau nutzt ihre Corona erzwungene Bettlägerigkeit produktiv und schaut Netflix-Serien, für die sie bisher keine Zeit hatte. Zum Beispiel zieht sie sich innerhalb von zweieinhalb Tagen die drei Staffeln Bridgerton rein.

Als ich ins Schlafzimmer komme, um mich nach ihrem Wohlbefinden zu erkundigen, teilt sie mir mit: „Die haben gerade Sex. Auf dem Schreibtisch.“ Eine Information, von der ich nicht weiß, was ich mit ihr anfangen soll, und die kommunikativ nur bedingt anschlussfähig ist. Zumindest schließe ich aber daraus, dass es meiner Frau einigermaßen gut geht.

19. Juli 2024, Berlin

Fühle mich morgens wieder topfit, der blasse zweite Streifen ist trotzdem weiterhin auf dem Corona-Test zu sehen.

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In unserer Straße lebt seit ein paar Monaten ein obdachloser, drogensüchtiger Punk. Groß und hager, mit Undercut und leuchtend rotem Oberhaar. Wie alt er ist, kann ich nicht schätzen. Der Alkohol, die harten Drogen und das Leben auf der Straße haben ihn zu sehr gezeichnet. Zwischen 25 und 55 ist alles möglich.

Auf einem kleinen überdachten Platz, der zu dem türkischen Supermarkt am Anfang der Straße gehört, baut er abends immer seine Schlafstätte auf. Mit Feldbett, Stuhl, Einkaufswagen, Gaskocher und wechselnden Deko-Elementen. (Vor kurzem ein stark verschmutztes Stofftier, das an eine Giraffe erinnert, und eine ramponierte Plastik-Blume.)

Für gewöhnlich ist der Straßen-Punk harmlos. Spricht niemanden an, bettelt nicht und pöbelt nicht rum. Ab und an steht er auf dem Bürgersteig und schnappt in der Luft nach Dingen, die nur er sieht. Aber egal wie zugedröhnt, betrunken und fertig er abends auf seinem Bett liegt, am nächsten Morgen baut er das Lager ab, verstaut seine Habseligkeiten ordentlich in dem Einkaufswagen, fegt seinen Müll zusammen und hinterlässt den Platz picobello. (Manchmal ordentlicher als er vorher war.)

Seit ein paar Wochen teilt er sich den Schlafplatz mit ein, zwei andere Obdachlosen. Wahrscheinlich ist das für alle eine Schutzmaßnahme und reduziert ihr Risiko, verdroschen zu werden. Trotzdem habe ich den Eindruck, dass sich die Drei nicht guttun. Zumindest nicht dem Punk. Seit er mit den anderen abhängt, hat er körperlich, gesundheitlich und geistig stark abgebaut.

Heute Vormittag haben die Männer ihr Camp weiter in die Straße hinein verlegt. Schräg gegenüber von uns, circa 20 Meter links neben der Klosterkirche, vor den Eingang der Caritas. Zuwachs haben sie auch bekommen. Zu viert oder fünft breiten sie sich auf einer Fläche aus, die eigentlich für Motor- und Fahrräder vorgesehen ist.

Die Obdachlosen belästigen zwar keine Passant*innen, sind aber nervig laut. Einer von ihnen ruft eine halbe Stunde lang irgendetwas, das sich wie Mama anhört. „Mama, Mama, Mama, Mama.“ Ununterbrochen. „Mama, Mama, Mama, Mama.“ Pausenlos. „Mama, Mama, Mama, Mama.“ Nach zehn Minuten hoffe ich, dass tatsächlich seine Mutter vorbeikommt und ihm einen Einlauf verpasst, weil er so einen Lärm veranstaltet.

Innerhalb der Gruppe ist der Ton rau. Mit fortschreitender Tagesdauer, zunehmender Hitze und vor allem steigendem Alkoholkonsum wird die Stimmung hitziger und hitziger. Immer wieder kommt es zu lautstarken Auseinandersetzungen, die Männer streiten, brüllen sich an, bedenken sich mit Schimpfwörtern. Irgendwann ist ihr Pegel so hoch, dass sie nur noch im Vollrausch auf ihren Betten, Matten und Matratzen vor sich hinvegetieren. Endlich kehrt Ruhe ein.

20. Juli 2024, Berlin

9 Uhr. Die Glocken der Klosterkirche läuten mit voller Lautstärke, die Obdachlosen rufen Halleluja. Guten Morgen, Moabit.

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Heute ist der Sohn mit Einkaufen an der Reihe. Zwischendurch ruft er zweimal an und schickt ein Foto, um sich zu vergewissern, dass er das richtige holt. Das spricht zwar nicht für sein Wissen über die Produkte, die wir täglich benutzen, aber immerhin für Problembewusstsein und lösungsorientiertes Denken.

Das hätte ich mir auch gewünscht, als wir den Sohn kürzlich baten, auf dem Heimweg zwei Flaschen Sekt mitzubringen, und er dann zwei Flaschen Rotkäppchen Halbtrocken anschleppte. Obwohl er bald volljährig wird, scheint mir seine Erziehung doch noch nicht vollumfänglich abgeschlossen zu sein. Zumindest was die Dos und vor allem Don ‘ts bei der Auswahl von Schaumwein angeht. (Goldene Regel: Finger weg von allem Halbtrockenem.

21. Juli 2024, Berlin

Mein gefühlter Gesundheitszustand ist immer noch 1a, der zweite Teststreifen wird dafür Tag für Tag deutlicher. Ich glaube, der Corona-Test mobbt mich.

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Die Obdachlosen sind zurück an ihren alten Platz am Supermarkt gezogen. Ich bin froh und schäme mich ein wenig dafür. Anscheinend ist mein tolerantes Gutmenschentum sehr begrenzt und ich habe nur so lange nichts gegen Obdachlose, so lange sie nicht in meiner Nähe sind. (Aber sie waren auch wirklich nervig laut.)


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