11. August 2023, Berlin
Ich stehe an ungefähr fünfzehnter Stelle in der Warteschlange bei Penny. Der Mann hinter mir ist ungeduldig. Er ist etwas jünger als ich und trägt vier Dosen Bier in den Händen. Seine leicht ins Rot-Lila spielende Nase deutet darauf hin, dass er in seinem Leben schon recht viel Alkohol getrunken hat.
Weil ihm das alles zu lange dauert, geht er zum Kassierer und fordert in mäßig freundlichem Ton, dass eine zweite Kasse geöffnet wird. Der Kassier murmelt etwas in sein Mikro und dann passiert erstmal nichts.
Drei Minuten später geht der Bierdosen-Mann wieder zum Kassierer und sagt in noch weniger freundlichem Ton, es sei eine Frechheit, wie die Kunden hier behandelt würden, und es solle jetzt unverzüglich eine weitere Kasse aufgemacht werden. Kurz danach erscheint tatsächlich eine Penny-Mitarbeiterin und setzt sich an eine der anderen Kassen.
Als der Bierdosen-Mann an der Reihe ist, hat er sich immer noch nicht beruhigt und schimpft, der Umgang mit den Kunden hier sei eine Unart. Die Kassiererin ignoriert den Mann und sagt gar nichts. Das macht ihn noch ungehaltener und er sagt, er würde heute Abend beim Filialleiter anrufen und sich über ihr unverschämtes Benehmen beschweren.
Ich frage mich, ob der Mann sich heute Abend tatsächlich die Mühe macht, bei Penny anzurufen, sich so lange durchstellen lässt, bis er bei dem Filialleiter landet, und sich dann bei diesem über die unhaltbaren Zustände in seinem Laden beklagt.
Unterdessen wird es einer Kundin in der Nachbarschlange zu bunt. „Mein Gott, jetzt lassen sie die Frau in Ruhe. Die will nur ihre Arbeit machen“, weist sie ihn zurecht. Wenig überraschend passt dem Mann das nicht.
„Ich lass´ mir von Ihnen gar nichts vorschreiben. Ich rede, wann ich will. Meinungsfreiheit, verstehn ´se?“
„Und es ist meine Meinungsfreiheit, zu sagen, dass sie die Frau in Ruhe lassen sollen.“
„Wissen Sie überhaupt wie man Meinungsfreiheit schreibt?“
„Das werd´ ich Ihnen nicht buchstabieren. Das können Sie schön selbst nachschlagen.“
Ich bin fasziniert von diesem Schlagabtausch. Zum einen, weil sich die beiden siezen. Zum anderen ist das Gespräch zwar scharf im Ton, gleichzeitig auch irgendwie sachlich. Also, vielleicht kein herrschaftsfreier Diskurs im Habermasschen Sinne, bei dem nur das bessere Argument zählt. Aber die Atmosphäre ist auch nicht übermäßig aggressiv und die beiden sind nicht kurz davor, sich an die Gurgel zu gehen.
Möglicherweise lebe ich allerdings einfach schon zu lange in Berlin, dass ich das für eine halbwegs normale Unterhaltung halte.
12. August 2023, Berlin
Ich gehe heute das Projekt Erdbeermarmelade kochen an. Dazu sind wir dieses Jahr noch nicht gekommen. Meine Frau wollte das noch kurz vor unserem Urlaub erledigen. Ich meinte aber, das könnten wir machen, wenn wir zurückkommen, im August gäbe es auf jeden Fall noch Erdbeeren. Meine Frau schaute skeptisch, ich nickte zuversichtlich und damit war die Sache erstmal erledigt. Um ehrlich zu sein, war ich von meiner Einschätzung selbst nicht vollkommen überzeugt, aber ich hatte keine Lust, parallel zum Kofferpacken Marmelade zu kochen.
Zu meiner eigenen Überraschung – und Erleichterung – lag ich mit meiner Erdbeer-Verkaufssaison-Prognose richtig. Vor der Heilandskirche, dem Erdbeer-Verkaufs-Hotspot in unserem Kiez, steht immer noch eines der markanten Erdbeerhäuschen von Karl’s Erdbeerhof. Es gibt sogar ein Sonderangebot. 500 Gramm kosten 5,45 Euro, das Kilo nur 8,90 Euro. Das ist zwar immer noch ein stattlicher Kilopreis für Erdbeeren, aber ich spare damit zwei Euro und das überzeugt den Sparfuchs in mir.
Ich entscheide mich für vier Kilo, damit ich einen großen Marmeladen-Vorrat kochen kann. Noch lieber würde ich acht Kilo nehmen, dann wären wir fast bis zum Beginn der nächsten Erdbeer-Saison versorgt, aber ich möchte nicht maßlos erscheinen. (Stattdessen werde ich in den nächsten Tagen nochmal kommen und die restlichen vier Kilo besorgen.)
Die junge Verkäuferin tippt auf dem Taschenrechner rum. „Das macht 26,70 Euro.“
Ich war nie besonders gut in höherer Mathematik. Also, falls Algebra und Analysis zu höherer Mathematik gehören. Falls nicht, war ich schon in mittlerer Mathematik nicht besonders gut. Dafür kann ich okay Kopfrechnen. (Zumindest im Zahlenraum bis 100.) Somit merke ich sofort, dass 26,70 Euro für vier Kilo Erdbeeren zu wenig sind.
Kurz überlege ich, nichts zu sagen. Dann hätte ich nicht nur zwei Euro pro Kilo gespart, sondern mehr als vier. Ich habe jedoch Skrupel. Nicht wegen Karl‘s Erdbeerhof. Bei deren Preisen können die einen Verlust von knapp zehn Euro verkraften. (Meine Moral ist flexibel genug, dass sie bei Wirtschaftsunternehmen endet.)
Aber vielleicht müsste die Verkäuferin ihren Fehler persönlich ausbaden und der Fehlbetrag würde von ihrem Lohn abgezogen. Das würde mir leidtun und wäre auch nicht gut für mein Karma. Dann verschimmelt mir die Erdbeermarmelade innerhalb von drei Tagen und darüber hinaus werde ich im nächsten Leben als Kellerassel wiedergeboren.
Also weise ich die junge Frau auf den zu niedrigen Betrag hin. Damit ich nicht zu mansplainig rüberkomme, sage ich: „Ich glaube, das ist zu wenig.“ Anstatt sich zu freuen, dass ich sie vor einem Lohnabzug bewahre, schüttelt sie den Kopf. „Das stimmt so.“ Sie hält mir den Taschenrechner hin, auf dessen Display 26,70 steht.
Nun könnte ich mir sagen: „Ich hab‘s versucht, dann will sie es nicht anders.“ und mich über meinen zusätzlichen Rabatt freuen. Noch lieber möchte ich meinem Kellerassel-Schicksal entgehen.
„Aber das Kilo kostet fast neun Euro, dann müssen das bei vier Kilo knapp 36 Euro sein“, insistiere ich und bin mir bewusst, dass das nun durchaus mansplainig rüberkommen könnte. Aber ich habe erstens recht und tue das zweitens für die Verkäuferin.
Die junge Frau gibt jedoch nicht klein bei. „Aber hier steht 26,70.“ Sie hält mir wieder den Taschenrechner vors Gesicht. Diskutiere ich hier wirklich mit der Erdbeerverkäuferin, damit ich zehn Euro mehr bezahle? Meine innere Kellerassel nickt.
„Vielleicht geben sie das nochmal neu ein“, schlage ich vor. „Vier mal 8,90“, ergänze ich zur Sicherheit. Die Frau verzieht unmerklich das Gesicht, als sei das ein vollkommen hirnrissiger Vorschlag, weil sowieso wieder das gleiche rauskommen wird. Trotzdem tippt sie auf ihrem Taschenrechner rum.
Im Gegensatz zu mir überrascht sie das Ergebnis. „Sie haben recht”, sagt sie. „Es sind 35,60 Euro.“ Ich verkneife mir ein: „Sehen Sie“ und gebe ihr 40 Euro.
„Da hätten sie fast ein Sonder-Sonderangebot bekommen“, sagt sie, als sie das Rückgeld abzählt. Ja, habe ich aber nicht. Weil ich nicht als Kellerassel leben will. Stattdessen erwarte ich, im nächsten Leben als irgendeine Gottheit wiedergeboren zu werden. Oder wenigstens als Chris Hemsworth.
13. August 2023, Berlin
Der Sohn fährt heute für eine Woche ins Judo-Trainingslager. Dafür kommen meine Frau und die Tochter heute Abend zurück. Selbstverständlich freue ich mich darüber. Wobei ein, zwei Tage später wäre auch nicht schlimm. Morgen kommt auf 3Sat nämlich die Doku „Dampfende Züge, dampfende Küche in der Toskana“.
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Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Im September erscheint sein neues Buch “Papa braucht ein Fläschchen”. Ebenfalls mehr als zu empfehlen sind “Hilfe, ich werde Papa! Überlebenstipps für werdende Väter”, “Ein Vater greift zur Flasche. Sagenhaftes aus der Elternzeit” sowie “Wenn’s ein Junge wird, nennen wir ihn Judith”*. (*Affiliate-Links)
ich feiere es gerade derbe an. danke.
jens