15. September 2023, Berlin
Heute steht auf dem Trainingsplan eine lockere 20-Kilometer-Einheit vor. Wie jeden Freitag. Die absolviere ich immer am Hohenzollernkanal und mache vorher einen kleinen Schlenker durch den Volkspark Rehberge, um auf die vorgegebenen Kilometer zu kommen.
In dem Park stehen an einer Stelle ein paar metallene Fitnessgeräte. Früher wäre das ein Trimm-dich-Pfad gewesen. Das klingt aber zu sehr nach uncoolem Turnvater-Jahn-Muff. Deswegen heißt das heute inzwischen Street-Workout-Anlage und die Gerätschaften sind nicht aus Holz, sondern Metall.
Bei einem Gerät stellst du dich mit beiden Füßen hinein und schwingst deine Beine jeweils in die entgegengesetzte Richtung. Jedes Mal, wenn ich dort vorbeikomme, benutzt der gleiche Mann das Gerät. Schwarze Schuhe, schwarze Hose, schwarzes T-Shirt und kurz geschnittener weißer Haarkranz. Ich frage mich, ob er jeden Freitag um kurz nach 8 dort trainiert und immer nur an diesem Gerät. Oder jeden Tag um kurz nach 8. Oder 24/7 das ganze Jahr lang.
Auf einer Bank am Kanal sitzt ein asiatisches Paar, zwischen ihnen ein Spitz mit braunem fluffigem Fell. Der Mann trägt ein Chicago-Bulls-Shirt, hat sich zurückgelehnt, die Arme über die Lehne ausgebreitet und genießt mit geschlossenen Augen die morgendliche Sonne. Die Frau schmiert sich ein Toastbrot mit Schokocreme, dann beißt sie hinein, ebenfalls mit geschlossenen Augen.
Möglicherweise haben die beiden die bessere Entscheidung getroffen, den schönen Spätsommermorgen nicht zum Laufen, sondern zum Frühstücken im Freien zu nutzen.
Am Ufer steht ein Reiher und tut so, als würde er mich nicht sehen. Etwas später sehe ich am Wegesrand ein Eichhörnchen. Es hält eine Eichel in seinen Pfötchen und schaut hektisch nach links und rechts. Wahrscheinlich checkt es seine Fluchtmöglichkeiten, sollte ich versuchen, ihm die Nuss streitig zu machen.
Bei Kilometer 10 will ich umdrehen und zurück nach Hause laufen, um genau auf meine 20 Kilometer zu kommen. Allerdings kommt mir genau an diesem Punkt eine Joggerin entgegen. Wenn ich jetzt kehrt mache, könnte der Eindruck entstehen, ich will sie verfolgen. Deswegen laufe ich 200 Meter weiter und drehe dann erst um.
Das hat mein Problem aber nicht gelöst, sondern nur aufschoben. Die junge Frau ist minimal langsamer als ich, so dass ich ihr allmählich immer näherkomme. Schließlich laufe ich in einem quälend langen Überholprozess an ihr vorbei. Wie ein Laster, der sich auf der Autobahn im Schildkrötentempo an einem anderen LKW vorbeischiebt.
Ich könnte einen kleinen Zwischenspurt einlegen, um schneller an ihr vorbeizukommen. Das wäre auch peinlich. Dann denkt sie womöglich, meine Männlichkeit ist so fragil, dass ich ihr zeigen muss, dass ich viel schneller bin als sie.
Es gibt für mich keinen vorteilhaften Ausweg aus dieser Situation. Entweder fühlt sich die Frau von mir belästigt oder sie hält mich für einen Idioten.
Ich behalte mein langsames Tempo bei. Erst später fällt mir auf, dass sie sich dadurch wahrscheinlich von mir belästigt gefühlt und mich für einen Idioten gehalten hat.
16. September 2023, Berlin
6.30 Uhr. Sitze im Wohnzimmer auf dem Sofa und versuche mittels Kaffee die Lebensgeister zu wecken. Plötzlich dringen durch die geöffnete Balkontür von draußen klackende Geräusche hinein. Klack, klack, klack. Es klingt, als würde jemand mit Kieselsteinen auf Autos werfen. Klack, klack, klack.
Da ich ein neugieriger Mensch bin, gehe ich auf den Balkon, um nachzuschauen, was da los ist. Klack, klack, klack.
Unter der Eiche gegenüber steht ein Auto. In der Baumkrone turnt ein Eichhörnchen rum, wodurch Eicheln auf den PKW regnen. Klack, klack, klack.
Ich schätze, das Eichhörnchen ist auf der Suche nach Nahrung. Oder es drückt mit diesem Akt des Vandalismus seine Abneigung gegen den motorisierten Individualverkehr aus. Die letzte Generation gibt es anscheinend auch im Tierreich.
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Heute steht der letzte 35-Kilometer-Lauf vor dem Marathon nächsten Sonntag an. Diesmal ohne Endbeschleunigung oder irgendwelche Sperenzchen. Einfach entspannt und gemütlich laufen. 35 Kilometer lang.
Nach ungefähr einer dreiviertel Stunde kommt mir auf dem Spreeweg hinter dem Schlosspark Charlottenburg ein anderer Läufer entgegen. 1,90 groß, athletisch gebaut in einem weißen ärmellosen Shirt. (Hätte ich solche Oberarme, würde ich auch im Muscle Shirt laufen. Oder ganz ohne Shirt.)
Als wir aneinander vorbeilaufen, hebt der Mann seinen Zeigefinger. Ich tue es ihm gleich, strecke aber nicht nur meinen Zeigefinger in die Höhe, sondern spreize auch noch den Daumen im 90 Grad Winkel ab. Als würde ich mit einer pantomimischen Pistole in die Luft schießen. Oder das internationale Zeichen für Loser machen.
Beides lässt mich in keinem guten Licht dastehen. Entweder hält er mich für einen Idioten oder einen sehr unverschämten Menschen. Wahrscheinlich für beides. Da hat er was mit der Joggerin von gestern gemeinsam.
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Was nach dem langen Lauf sehr nervt, ist der zu erledigende Wochenendputz. Der nervt selbstverständlich immer, aber wenn du dreieinhalb Stunden gelaufen bist, ganz besonders.
Heute werde ich jedoch fürs Staubsaugen belohnt. Nicht damit, dass die Wohnung anschließend in einem sozial akzeptierten sauberen Zustand ist, sondern ich entdecke im Wohnzimmer hinter einem Bild ein Schokoei, das an Ostern nicht gefunden wurde. Ich esse es auf und hoffe, dass es nicht von Ostern 2019 ist. Die Schokolade macht mir sofort gute Laune und der Zucker gibt mir Energie, um den Rest der Wohnung zu saugen.
Ich finde, meine Frau und ich sollten uns künftig jeden Samstag als Anreiz und Belohnung fürs Aufräumen, Saugen und Putzen gegenseitig Süßigkeiten verstecken.
17. September 2023, Berlin
Meine Frau und ich gehen spazieren. Ein Mann und eine Frau kommen uns entgegen. Sie sind Mitte 30 und tragen Partner-T-Shirts. In Schwarz, auf Brusthöhe steht „Fuck off“. Unter dem „off” ist jeweils ein kleiner Farbklecks hinterlegt. Bei der Frau in neonpink, bei dem Mann in neongelb.
Ich stelle mir vor, wie die beiden heute früh vor dem Kleiderschrank folgende Unterhaltung hatten.
„Schatz, sollen wir unsere T-Shirts vom Kirchentag in Dortmund 2019 anziehen?“
„Die sind noch in der Wäsche.“
„Ach, wie schade.“
„Aber unsere „Fuck off“-Shirts sind frisch gewaschen.“
„Toll!“
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Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Im September erscheint sein neues Buch “Papa braucht ein Fläschchen”. Ebenfalls mehr als zu empfehlen sind “Hilfe, ich werde Papa! Überlebenstipps für werdende Väter”, “Ein Vater greift zur Flasche. Sagenhaftes aus der Elternzeit” sowie “Wenn’s ein Junge wird, nennen wir ihn Judith”*. (*Affiliate-Links)