21. September 2023, Berlin
Ich bekomme eine Nachricht an meine Blog-E-Mail-Adresse. Ein Michael Meier schreibt: „Ich frage mich, ob Sie vielleicht an meiner Domain frag-mich-einfach.de interessiert sind.“ Ich glaube nicht, denn er fragt mich ja auch so einfach, da brauche ich nicht noch extra eine Website, die Menschen dazu auffordert.
Ohnehin fühle ich mich nicht kompetent, irgendwelche Fragen zu beantworten. Von daher wäre die Adresse ich-weiß-es-doch-auch-nicht.de für mich passender.
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Auf der Turmstraße kommt mir eine junge Frau entgegen. Sie hat Trisomie 21 und trägt ein blaues T-Shirt auf dem „I’m not a morning person!“ steht. Trotzdem lacht sie und macht auch sonst einen fröhlichen Eindruck. Es ist aber auch schon 16 Uhr.
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Meine Eltern haben mir eine Postkarte geschickt. Aus der Lombardei, wo sie letzte Woche auf einer fünftägigen Busreise unterwegs waren. Die Karte hat die Form einer Geige und ist aus einem Violinen-Museum, das sie in Cremona besichtigt haben. Außerdem waren sie im Geburtshaus von Giuseppe Verdi, haben gut gegessen und noch viel anderes gesehen.
Zum Beispiel in Mailand. Da waren sie in einer Eisdiele und hier wird der Postkartenbericht geradezu spektakulär. Meine Eltern aßen dort zwei Kugeln Eis – oder wie meine Mutter sie nennt: zwei Bällchen – und bezahlten dafür 16 Euro. 16 Euro!
Da gerät der Rentner in mir in Wallung. Das sind 32 Mark. 32 Mark für zwei Kugeln Eis! Dafür hätte man in der Eisdiele in Westerburg früher 64 Kugeln bekommen. 64!
Nun ist das Eis in einem italienischen Eiscafé sicherlich besser als damals in Westerburg. (Wobei unsere Eisdiele immerhin Venezia hieß. Wie auch sonst.) Aber wahrscheinlich nicht 16-Euro-für-2-Kugeln gut. Laut meiner Mutter war bei ihrem Eis auch ein wenig Deko dabei. Vielleicht hat die 13 Euro gekostet.
Im Venezia gab es damals ein Aktionsangebot für 24 Kugeln Eis. Wenn du alles aufgegessen hast, musstest du nichts bezahlen, blieb etwas übrig, war der volle Betrag zu entrichten, sprich zwölf D-Mark.
Aus meiner Taschengeld-Perspektive war das sehr viel Geld. Weil ich nicht wusste, ob ich tatsächlich 24 Kugeln Eis schaffe und die dann fälligen zwölf D-Mark so teuer fand, traute ich mich nicht, meine Eltern zu fragen, ob ich das bestellen darf. Möglicherweise hätte ich weniger Scheu gehabt, wenn ich gewusst hätte, dass meine Eltern 40 Jahre später bereitwillig 16 Euro für zwei Kugeln Eis ausgeben.
22. September 2023, Berlin
Vor Köftei, einem Döner-Laden neben Penny, sitzt ein volltätowierter Mann. Und wenn ich volltätowiert schreibe, meine ich volltätowiert. Seine Arme und Beine sind über und über mit Tattoos bedeckt. Da ist kein Quadratzentimeter tintenfreie Haut übrig.
Wie sich das wohl entwickelt hat? Vielleicht fing es mit einem kleinen Tattoo am Oberarm an – einer winzigen Blume zum Beispiel –, dann kam ein zweites Motiv dazu, dann ein drittes und irgendwann ist das ganze etwas aus dem Ruder gelaufen. Die vielen Tattoos sehen bei dem Mann aber durchaus gut aus. Mit Mustern, Linien, Symbolen und Bildern. Quasi wie ein Gesamtkunstwerk.
Auf den Waden trägt er zwei photorealistische Portraits. Eines von Elvis und das andere von jemandem, der für mich auch wie Elvis aussieht, aber wahrscheinlich jemand anderes Berühmtes ist, den ich nicht kenne.
Ich frage mich allerdings, warum er sich ausgerechnet diese Stelle für die Elvis-Bilder ausgesucht hat. Da hat er selbst doch gar nicht so viel davon. Du schaust ja eher selten auf deine eigenen Waden. Aber vielleicht sitzt der Mann sehr oft im Schneidersitz und erfreut sich an seinen Elvissen.
Ich selbst habe nie das Bedürfnis verspürt, mich tätowieren zu lassen. Das hat mehrere Gründe. Der zu erwartende Schmerz spricht für mich dagegen. Und mein Geiz. So ein Tattoo ist nicht ganz günstig. Ich möchte nicht mehrere hundert Euro ausgeben und mich dann stundenlang pieken lassen.
Vor allem bin ich für ein Tattoo aber zu spießig. Ich bin in einer Zeit und Gegend aufgewachsen, in der angenommen wurde, dass du nur Tattoos trägst, wenn du Mitglied einer kriminellen Vereinigung bist. Oder Matrose.
Die meisten Tätowierungen sahen damals auch nicht besonders gut aus. Eher so als seien sie im Knast gestochen worden. Mit Tintenpatrone und Stopfnadel. Von jemandem, der künstlerisch wenig begabt ist, und das noch nie gemacht hat.
Ich wüsste außerdem nicht, was ich so gut finde, um es dauerhaft auf meiner Haut zu verewigen. Wer möchte schon sein Leben lang irgendein abgeschmacktes Zitat mit sich rumtragen, nur weil man als junger Mensch „Der kleine Prinz“ gut fand.
Zudem habe ich wenig Vertrauen, was die Straffheit meines Bindegewebes im Alter angeht. Mit 30 steht oberhalb deiner linken Brust „Man sieht nur mit dem Herzen gut.“, mit Mitte 70 hängt der Spruch dann nur noch auf Bauchnabelhöhe und ist wegen deiner runzligen, welken Haut gar nicht mehr zu lesen. Was bei einem Der-Kleine-Prinz-Zitat gar nicht so schlimm wäre.
23. September 2023, Berlin
Heute ist Internationaler Tag des Hasen. Außerdem ist Tag der Bisexualität. Ein doppelter Freudentag für bisexuelle Hasen.
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Ich bin unterwegs zum Hauptbahnhof, um A. abzuholen. Morgen ist Marathon und Morgen wird unser Tag, denn Morgen werden wir den Lauf gemeinsam beenden. Hoffe ich.
Letzten Sonntag hatte ich mich nicht so gut gefühlt. Deswegen bin ich die Woche über nicht gelaufen. Ich wollte nicht riskieren, krank zu werden. Nach acht Wochen Vorbereitung, 35 Einheiten, fast 75 Stunden Training und mehr als 760 Kilometern wäre das sehr schade. Außerdem wäre dann die Startgebühr futsch. 163 Euro. Das wäre auch sehr schade.
In der Woche vor dem Marathon wird laut Plan ohnehin weniger lang und weniger hart trainiert. Um sich für die 42 Kilometer zu schonen. Ganz ohne Training kam ich mir trotzdem wie ein faules Schwein vor.
Wir streben aber keine besondere Zeit an, sondern wollen nur „gemütlich“ ankommen. Das klappt bestimmt auch ohne Training in den Tagen davor. Falls nicht, haben wir vielleicht Glück und die Letzte Generation blockiert irgendwo die Strecke. Dann können wir uns zwischendurch ein wenig ausruhen.
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Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Im September erscheint sein neues Buch “Papa braucht ein Fläschchen”. Ebenfalls mehr als zu empfehlen sind “Hilfe, ich werde Papa! Überlebenstipps für werdende Väter”, “Ein Vater greift zur Flasche. Sagenhaftes aus der Elternzeit” sowie “Wenn’s ein Junge wird, nennen wir ihn Judith”*. (*Affiliate-Links)