Eine kleine Wochenschau | KW39-2022

Zum Sonntagabend gibt es meine semi-originellen Gedanken und semi-spannenden Erlebnisse aus der abgelaufenen Woche. Manchmal banal, häufig trivial, meistens egal.


02. Oktober 2022, Köln

Marathontag. Ich befinde mich bei Kilometer 35 und quäle mich eine nicht enden wollende Gerade entlang. In den letzten gut dreieinhalb Stunden habe ich genug Belege und Indizien gesammelt, um sagen zu können: Das Rennen ist bisher ein mittelgroßes Desaster. Bei Kilometer 30 musste mein Freund Arne aussteigen – Körper und Kreislauf rebellierten zu sehr. Seitdem laufe ich allein und grüble, wie viel Spaß das macht. Spoiler Alert: Nicht besonders viel.

Schon seit einigen Kilometern ringe ich mit mir, ob ich nicht eine Gehpause einlegen soll. Nun entscheide ich, dass es nichts schaden kann, mal ein paar Schritte zu gehen. Global betrachtet, stimmt diese Aussage natürlich. Nur weil ich gehe, statt zu laufen, entstehen keine neuen Kriege, die Klimakatastrophe wird dadurch nicht beschleunigt und die Energiepreise steigen deswegen auch nicht. Auf der persönlichen Ebene möchte ich allerdings nicht ausschließen, dass das Gehen doch schädlich sein könnte. Für die Motivation, die Moral und mein Bestreben, das Ziel vor dem Besenwagen zu erreichen. Außerdem weiß ich nicht, wie ich es gleich – oder irgendwann – schaffen soll, wieder in einen Laufschritt zu verfallen.

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Rückblickend betrachtet verlief der Marathon von Anfang an suboptimal. Kaum durfte unsere Gruppe starten, mussten wir schon wieder anhalten. Die Strecke war zu eng und es drängten sich zu viele Menschen auf zu wenig Raum. 100 Meter später wiederholte sich das Ganze ein weiteres Mal. Erst dann konnten wir richtig loslaufen.

Arne und ich orientierten uns zunächst an der Pacemakerin mit der 4-Stunden-Fahne. Wenn wir mit ihr bis ins Ziel laufen, würden wir unsere angepeilte Zeit schaffen. Zumindest wenn die Frau weiß, was sie tut. Aber sie wird schon wissen, wie sie das Rennen einteilen muss, dachte ich mir. Es ist eher unwahrscheinlich, dass sie heute ihren ersten Marathon läuft. Oder ihre Bestzeit bei 5:30 Stunden liegt.

Vor mir sah ich einen Mann mit einem schwarzen Shirt. Auf seinem Rücken steht in großen Buchstaben: „I run because I really like chocolate.“ Das beschreibt meine eigene Laufmotivation auch recht gut.

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Wir passierten das Drei-Kilometer-Schild. Ich fand es etwas kühl und bereute, dass ich nicht doch das langärmlige Laufshirt angezogen hatte. Im Gegensatz zu den Temperaturen fühle ich mich nicht so richtig frisch und auch nicht nach „Ich laufe heute locker-flockig 42 Kilometer.“ Aber vielleicht kommt das noch, versuchte ich mir einzureden. Wenn ich erstmal richtig ins Rollen komme. Im Laufe des Vormittags wird es bestimmt auch etwas wärmer.

Bei Kilometer 5 stand eine junge Frau mit Gummistiefeln. Sie war anscheinend pessimistischer als ich, was die Wetteraussichten angeht. In ihrer rechten trug sie ein Schild, auf das sie „When you smile you run faster“ geschrieben hatte. Ich lächelte. Ob ich dadurch schneller wurde, weiß ich nicht. Aber es fühlte sich gut an.

Tatsächlich waren wir etwas zu flott unterwegs. Nicht dramatisch zu schnell, aber unser bisheriger Kilometerschnitt lag ein paar Sekunden unter dem, was wir eigentlich geplant hatten. Die 4-Stunden-Frau hatten wir schon hinter uns gelassen. Sicherheitshalber drosselten Arne und ich unser Tempo ein wenig, um uns am Anfang nicht zu übernehmen und dann nach 35 Kilometern einzubrechen. Wie naiv wir doch waren!

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Ungefähr bei Kilometer 8 kam uns auf der Gegengeraden ein älterer Mann entgegen. Auf seinem Kopf saß eine Art Federschmuck, sein Gesicht und seinen nackten Oberkörper hatte er mit einer blau-roten Kriegsbemalung bepinselt und um seine Hüften trug er einen Lendenschurz aus braunem, grob gewebtem Stoff. Auf seinen Rücken hatte er „Lasst Winnetou leben“ geschrieben. Beziehungsweise schreiben lassen. Ich fühlte mich nicht angesprochen. Schließlich hatte ich nicht vor, Winnetou zu töten.

Mir wären ohnehin ungefähr 300 Botschaften eingefallen, die ich wichtiger fände, um sie bei so einem Laufevent zu kommunizieren. Aber das kann ja jeder halten, wie er will. Ist ja schließlich ein freies Land. Und das schließt die Freiheit ein, dich zum Horst zu machen, wenn du das möchtest.

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Mittlerweile waren zehn Kilometer rum. Wir waren weiterhin etwas zu schnell. Richtig frisch fühlte ich mich immer noch nicht. Und die Temperaturen hatten sich bisher auch nicht so entwickelt, wie ich mir das erhofft hatte.

Ich beschloss, mit ein paar Kinder abzuklatschen, die am Straßenrand zum Anfeuern standen. Vielleicht würde mir davon wärmer. Außerdem freuen sich die Kinder bestimmt darüber. Hoffte ich zumindest.

Kilometer dreizehn. Mein rechter hinterer Oberschenkel zwickte ein wenig. Nicht wirklich schmerzhaft, so dass ich mich wie ein italienischer Fußballer auf dem Boden wälzen müsste, aber doch ein wenig unangenehm. Und definitiv zu früh im Rennen. Egal, da muss ich halt durch, dachte ich.

Nach ungefähr 16 Kilometern fiel mir auf, dass Arne und ich weniger Blödsinn laberten, als wir das sonst tun. Für die Mitläufer*innen war das womöglich ganz angenehm, für mich aber ein weiteres Zeichen, dass es nicht ganz rund läuft. Dafür rannten wir inzwischen unsere vorgesehene Durchschnittsgeschwindigkeit.

Kilometer 17. Die Gummistiefel-Frau mit dem Smile-Schild steht wieder am Streckenrand. Mein Lächeln fiel etwas bemühter aus.

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Bei Kilometer 19 zeigte meine Laufuhr an, dass der letzte Kilometer ungefähr 25 Sekunden langsamer als geplant war. Vielleicht ein Messfehler, redete ich mir ein. Es ging gerade ja auch ein wenig bergauf. Einen Kilometer später verkündet die Uhr das gleiche Tempo. Nicht das technische, sondern das menschliche Material war anscheinend fehlerhaft.

Ich schaute zu Arne rüber. Er sah aus, wie ich mich fühlte. Nicht richtig gut. Wenigsten hatten wir inzwischen die Hälfte hinter uns gebracht. Nur noch 21 Kilometer, dachte ich. Dabei war es noch viel zu früh, um jetzt schon Kilometer runterzuzählen.

Ich klatschte wieder mit ein paar Kindern ab. Vielleicht würde das einen kleinen Energieschub bringen. Zumindest unmittelbar konnte ich keinen Effekt erkennen.

Kurz nach Kilometer 22 lief die 4-Stunden-Frau an uns vorbei. Den aberwitzigen Gedanken, wir könnten uns an sie ranhängen, verwarf ich sehr schnell wieder. Gut, zu einer realistischen Selbsteinschätzung schien ich noch in der Lage zu sein.

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Ungefähr bei Kilometer 25 liefen wir an einer der Wechselzonen für die Teamstaffeln vorbei, die heute auch am Start waren. Vor uns bog ein Läufer mit futuristischer Beinprothese auf die Strecke. Wir schafften es nicht, an ihm dranzubleiben, er war zu schnell für uns. Das war auch nicht gerade ein Moral-Booster.

Kilometer 27. Arne schnaufte stark und sein Schritt wurde immer schwerer. Ich fühlte mich minimal besser, aber auch nicht wie ein junges Reh, das leichtfüßig über die Strecke hüpft. Arne signalisierte mir, dass er nicht mehr kann, indem er sagte: „Ich kann nicht mehr.“ Ich ließ das erstmal so im Raum stehen, ohne es auszudiskutieren.

Derweil überholte uns eine fröhlich vor sich hin pfeifende Handbikerin. Was denn noch?

Bei Kilometer 30 waren wir mit Arnes Tochter und meiner Frau für eine Flaschenübergabe verabredet. Arne kündigte an, dass er dort aussteigen wird. Eine richtige Entscheidung. Schließlich geht die Gesundheit vor. Und eine mutige Entscheidung. Nach der monatelangen Vorbereitung, den vielen Entbehrungen und den unzähligen Trainingskilometern ist es nicht leicht zu akzeptieren, dass es heute nicht sein soll.


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