Zum Sonntagabend gibt es meine semi-originellen Gedanken und semi-spannenden Erlebnisse aus der abgelaufenen Woche. Manchmal banal, häufig trivial, meistens egal.
16. Oktober 2023, Berlin
Halb sieben. Der Sohn kommt aus seinem Zimmer. Ungewöhnlich früh für ihn. Er erklärt, er habe sich vorgenommen, künftig eine halbe Stunde früher aufzustehen, um mehr Zeit zu haben, richtig wach zu werden. Dann sei er fitter, wenn er in der Schule ankommt. Ungewöhnlich vernünftig von ihm. Vielleicht ist das dieses Erwachsenwerden. Oder Aliens haben ihn entführt und ausgetauscht.
Eine Minute nachdem der Sohn das Haus verlassen hat, geht die Wohnungstür wieder auf. Gerade bekam er die Nachricht aufs Handy, dass die ersten beiden Stunden ausfallen. Die dritte und vierte hat er ohnehin frei. Wäre er erst um 10.30 Uhr aufgestanden, hätte er immer noch genügend Zeit zum Wachwerden gehabt. Er wurde also um vier Stunden Schlaf gebracht. Für einen Jugendlichen fällt das unter grobe Menschenrechtsverletzung.
17. Oktober 2023, Berlin
Kurz nach sieben. Der Sohn ist noch nicht aufgestanden. So viel zu seinem Vorhaben, mehr Zeit zum Wachwerden einzuplanen. Ich wecke ihn und erkläre, er müsse aufstehen. Er antwortet im Halbschlaf, heute habe er erst zur dritten Stunde. Ups! Ich glaube, das wird nicht die Ausschlafwoche für den Sohn.
###
Heute ist mein Termin für meine dreizehn Jahre verspätete Check-Up-35-Untersuchung. Der Arzt will meine Blutergebnisse besprechen.
Ich bin etwas nervös. Nicht weil ich schlechte Nachrichten befürchte, sondern weil ich bei der Blutabnahme nicht nüchtern war. Also, ich war dabei nicht betrunken, aber ich hätte vorher nichts essen dürfen, hatte aber morgens zwei Kaffee mit etwas Milch. Das könnte meine Blutwerte verfälschen und mir einen Tadel des Arztes einbringen. Als alter People Pleaser wäre mir das äußerst unangenehm.
Der Termin ist um 10.15 Uhr. Kurz vor zehn betrete ich die Praxis. Schließlich will ich auf keinen Fall zu spät kommen. (Hashtag People Pleaser) Die Arzthelferin bittet mich, im Wartezimmer Platz zu nehmen. Das ist ziemlich voll und ich stelle mich auf einen längeren Aufenthalt ein.
Nachdem ich mich hingesetzt habe, stelle ich fest, dass ich mein Handy vergessen habe. Ich beschließe, mich mit der neuen Ausgabe von ZEIT WISSEN fortzubilden. Das etwas sperrige Titelthema lautet: „Lebensentscheidungen: Soll ich das jetzt durchziehen? Warum NEIN oft die bessere Antwort ist.“ Ich persönlich finde, SPÄTER ist auch eine gute Antwort, denn erstaunlich viele Probleme lösen sich von selbst. (Ausnahmen: Rechnungen bezahlen und Steuererklärungen abgeben.)
Kaum habe ich die ersten beiden Absätze gelesen, bin ich schon an der Reihe bin. Das irritiert mich. So wenig Zeit habe ich noch nie in einem Wartezimmer verbracht. Für gewöhnlich haben Termine in Arztpraxen keine größere Bedeutung, sondern sind eher ein grober Richtwert, um wenigstens den Tag der ärztlichen Untersuchung einzugrenzen.
Der Arzt hat mich versehentlich als Frau Hanne-Herkommer aufgerufen. Als er mich erblickt, ist ihm das sehr unangenehm, ich bin das aber gewohnt. Ich bekomme ziemlich oft Post, bei der ich als Frau adressiert werde. Vielleicht weil mein Nachname für den Vornamen gehalten wird oder weil mein Doppelname verwirrt.
Selbst am Telefon passiert es gelegentlich, dass ich gefragt werde, ob mein Mann zu sprechen sei. Wohlgemerkt nachdem ich mich mit Vor- und Nachnamen gemeldet habe. Ich finde das ziemlich praktisch, denn so kann ich leicht, nervige Anrufer*innen abwimmeln. („Nein, der ist nicht da.“ Um Folgeanrufe zu unterbinden, ergänze ich noch: „Der wohnt auch gar nicht mehr hier.“)
Im Behandlungszimmer erklärt der Arzt, meine Urinprobe sei unauffällig gewesen. Check! Das ist schon mal gut. Blutdruck und Gewicht seien ebenfalls tadellos. Doppel-Check! Der People Pleaser in mir freut sich.
Bei den Blutwerten seien allerdings eine leichte Blutarmut sowie etwas zu niedrige Erythrozyten festgestellt worden. Ich nicke und tue so, als wüsste ich, was das bedeutet. Blutarmut klingt, als hätte mich ein Vampir gebissen. Oder die Arzthelferin hat letzte Woche etwas zu viel Blut abgezapft.
Derweil erklärt mir der Arzt, weil ich wenig Fleisch esse, könne das zu Vitamin-B12-Mangel führen. Ich nicke wissend, er schreibt mir ein Präparat dagegen auf.
Meine Blutzucker- und Blutleberwerte seien dagegen sehr gut. Exzellent! Ich spüre, wie ein warmes Gefühl von Stolz durch meinen Körper strömt. Meine Güte, Christian, reiß dich zusammen. Oder soll dir der Arzt noch den Kopf tätscheln. Der erklärt unterdessen, die Werte ließen darauf schließen, dass ich mich sehr gut ernähre. Zu meiner leichten Enttäuschung gibt es dafür kein Fleißbienchen.
Nun widmet sich der Arzt meinem Impfpass. Ich erkundige mich, ob er eine Corona-Auffrischungsimpfung für ratsam hält. Ich hätte bereits vier Impfungen und eine Infektion hinter mir. In meinem Alter und bei meinem gesundheitlichen Zustand sei das nicht nötig, sagt er. Außer ich hätte beruflich viel mit möglicherweise infizierten Menschen zu tun. Das ist definitiv nicht der Fall. In den zwei Minuten im Wartezimmer hatte ich mehr soziale Kontakte als in den letzten zwei Monaten im Home Office.
Meine Tetanus-Impfung müsse aufgefrischt werden, sagt der Arzt. Die letzte hatte ich beim Kinderarzt. Also, nicht bei meinem, sondern dem der Kinder. Vor zwölf Jahren. Der Arzt erklärt, dass dann auch gleich gegen Diphterie geimpft würde. Ich nicke wieder und tue so, als wüsste ich, was Diphterie ist.
Nachdem ich circa fünfzehn Minuten im Gang warten muss, verpasst mir die schüchterne Arzthelferin, die mir letzte Woche bereits Blut abgenommen hat, die Impfung. Es tut fast gar nicht weh und ich bin sehr tapfer. Trotzdem bekomme ich zum Abschied keinen Belohnungs-Lutscher. Die nächste Impfung hole ich mir wieder beim Kinderarzt.
18. Oktober 2023, Berlin
Heute ist Ohne-Bart-Tag. Der findet seit rund fünfzehn Jahren ohne mich statt. Damals ließ ich mir meinen Bart wachsen und hoffte, dadurch markanter und älter auszusehen. Letzteren Zweck erfüllt mein Bart sehr zuverlässig. Möglicherweise etwas zu zuverlässig. Letztes Wochenende wurde ich auf Ende 50 geschätzt. Von jemandem, der Ende 60 ist. Vielleicht sollte ich dieses Jahr doch den Ohne-Bart-Tag feiern.
###
Ich kaufe neue Halloween-Süßigkeiten. Zwei Wochen vor Halloween. Wie wenig kannst du dich mit 48 selbst kennen?
###
Die Tochter war gestern Abend in Köln auf einem Konzert. Bei Louis Tomlinson. Die Musik sei super gewesen, aber die Crowd etwas nervig. Lauter 14-jährige, die anscheinend das erste Mal auf einem Konzert waren, so das Urteil der 19-jährigen Konzertveteranin. Sie hört sich ein bisschen an, als hätte ein alter weißer Mann Besitz von ihrem Körper ergriffen.
19. Oktober 2023, Berlin
Der Sohn kommt erneut, kurz nachdem er die Wohnung verlassen hat, zurück. Die erste Stunde entfällt, die zweite ebenfalls. Es bleibt dabei: Diese Woche ist die Woche der verpassten Ausschlafmöglichkeiten. Wenigstens hat er nach der dritten Stunde frei. Dann kann er anschließend ein Nickerchen machen und sich von den Strapazen seines anstrengenden Schultages erholen.
Alle Beiträge der Wochenschau finden Sie hier.
Sie möchten informiert werden, damit Sie nie wieder, aber auch wirklich nie wieder einen Familienbetrieb-Beitrag verpassen?
Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Im September erscheint sein neues Buch “Papa braucht ein Fläschchen”. Ebenfalls mehr als zu empfehlen sind “Hilfe, ich werde Papa! Überlebenstipps für werdende Väter”, “Ein Vater greift zur Flasche. Sagenhaftes aus der Elternzeit” sowie “Wenn’s ein Junge wird, nennen wir ihn Judith”*. (*Affiliate-Links)