03. November 2022, Berlin
Der Sohn muss bis Ende der Ferien für seinen Philosophie-Leistungskurs ein Essay schreiben. Über die Frage: „Darf man andere zu ihrem Glück zwingen?“ Offenbar hat der Sohn das Bedürfnis, dieses Thema mit mir zu diskutieren. Zumindest schließe ich das aus dem Umstand, dass er zu mir ins Arbeitszimmer kommt, sich neben mich setzt und anfängt, über sein Essay zu reden.
Der Sohn verneint die Frage vehement. Unter Glück würde doch jeder etwas anderes verstehen, da dürfe kein Zwang ausgeübt werden. Möglicherweise betont er das so deutlich, dass ich nicht auf die Idee komme, ihn zum Aufräumen zu zwingen, damit er das Glück eines ordentlichen Zimmers erfährt.
Derweil erläutert der Sohn seine Argumentation weiter. Manche würden vielleicht Glück empfinden, wenn sie in der Schule eine 1 schreiben, andere wiederum, wenn sie sich Heroin spritzen. Da wäre es nicht in Ordnung, sie zu irgendetwas zu zwingen. Ich erkläre dem Sohn, dass ich prinzipiell verstünde, was er meint. Dennoch schlage ich ihm vor, bei der Ausformulierung seines Textes vielleicht doch ein anderes Beispiel in Erwägung zu ziehen.
04. November 2022, Berlin
Heute ist Tag des Weinessigs. What?
###
Eigentlich habe ich mich bisher trotz meiner 47 Jahre für einigermaßen jung geblieben gehalten. Ich bin überzeugt, wäre mein Bart nicht ganz so grau, würde ich locker für 46 durchgehen. Eine Illusion, die ich begraben muss, nachdem ich heute eine Blog-Kooperationsangebot von Land’s End erhalten haben. Eine Marketingfrau schlägt vor, ich könnte doch ihre Klamotten vorstellen, weil ich so gut zu ihrer Zielgruppe passe. Schönen Dank auch!
Auf Instagram erreicht mich wiederum das Angebot einer Balance-Board-Firma, Teil einer großen Kampagne zu werden, die sie gerade organisieren. Ich schaue mir den Feed der Firma an. Dort sind lauter coole Dudes und noch häufiger attraktive junge Frauen zu sehen, die waghalsige Übungen auf den Boards vorführen. Wie ich da ins Spiel kommen soll, ist mir nicht ganz klar. Weder falle ich in die Kategorie „Cooler Dude“ – für so jung geblieben, halte ich mich dann doch nicht – noch gehe ich als attraktive junge Frau durch. Vielleicht möchte die Firma mit mir die Zielgruppe der rüstigen Senior*innen erreichen. Ich schlage das Angebot dennoch dankend aus.
05. November 2022, Berlin
Beim Spazierengehen entdecke ich in einem Schaufenster einen Aushang. Goldenei, der Chor für tiefe Stimmen, sucht neue Sänger. Folgende Aufnahmekriterien sind zu erfüllen:
- Du musst begnadeter Tenor oder Bass sein.
Schwierig. Ich habe zwar eine ganz okaye Singstimme, die immerhin in der 11. Klasse gereicht hat, um für meine Darbietung von „Phantom of the Opera“ eine 1 zu bekommen. Allerdings folgt es bei mir eher dem Zufallsprinzip, ob ich die erste Note treffe oder nicht. Ebenso nachteilig ist, dass ich über das Rhythmusgefühl einer deutschen Eiche verfüge. Wobei dieser Vergleich wahrscheinlich der deutschen Eiche unrecht tut. Beides sind nicht gerade die besten Voraussetzungen, um Mitglied eines nicht vollkommen unambitionierten Chors zu werden. - Du sollst ein Freund toter Komponisten sein.
Ebenfalls schwierig. Ich bin mit keinem einzigen toten Komponisten befreundet. Ich habe nur einen angeheirateten Onkel vorzuweisen, der im MDR-Rundfunkchor singt und klassische Stücke komponiert. Besagter Onkel lebt aber noch und ich würde ihn ungern umbringen, um das Aufnahmeritual bei Goldenei zu bestehen. - Du sollst dem Hopfen nicht gänzlich abgeneigt sein.
Dieses Kriterium erfülle ich am ehesten. Wobei ich noch lieber Gin Tonic als Bier trinke. Aber das wäre möglicherweise verhandelbar.
Alles in allem habe ich dennoch erhebliche Zweifel, dass ich eine musikalische Ver-stärkung für Goldenei wäre. Da müssen die tiefen Stimmen wohl ohne mich auskommen.
06. November 2022, Berlin
Heute ist Ausgesetzt-ohne-Kompass-Tag. Bei mir würde es keinen Unterschied machen, ob ich mit oder ohne Kompass ausgesetzt werde. Ich schaffe es, selbst bei eingeschalteter Google-Maps-Route erstmal in die falsche Richtung zu gehen. Ich warte nur darauf, dass mein Handy irgendwann zu mir sagt: „Alter, für was denkst du ist wohl der beschissene Pfeil da, den ich extra auf der Landkarte anzeige? Trottel.“
Alle Beiträge der Wochenschau finden Sie hier.
Sie möchten informiert werden, damit Sie nie wieder, aber auch wirklich nie wieder einen Familienbetrieb-Beitrag verpassen?
Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Im September erscheint sein neues Buch “Papa braucht ein Fläschchen”. Ebenfalls mehr als zu empfehlen sind “Hilfe, ich werde Papa! Überlebenstipps für werdende Väter”, “Ein Vater greift zur Flasche. Sagenhaftes aus der Elternzeit” sowie “Wenn’s ein Junge wird, nennen wir ihn Judith”*. (*Affiliate-Links)