11. November 2022, Berlin
11.11. Karnevalsauftakt in Köln. Ich feiere wieder zusammen mit Stadt-Land-Mama-Lisa und Ich-bin-dein-Vater-Janni. Coronabedingt das erste Mal seit zweieinhalb Jahren. Auf dem Weg in die Kneipe bin ich etwas nervös, ob ich überhaupt noch weiß, wie das mit dem Karnevalfeiern geht. Es stellt sich aber schnell raus, dass das genau wie beim Radfahren ist. Also, nicht dass du einen Helm und reflektierende Hosenbänder beim Karnevalfeiern brauchst, sondern du verlernst es nicht. Spätestens nach dem dritten Kölsch gehen die Lieder recht flüssig über die Lippen und nach dem vierten klappt es auch mit dem Schunkeln.
Ich hatte zuerst kurz überlegt, mich als alter, weißer Mann zu verkleiden. Das heißt, mich wie immer anziehen und nach jedem Satz: „DAS WIRD MAN JA WOHL NOCH SAGEN DÜRFEN!“ zu blöken.
„Ich hätte gerne einen Kranz Kölsch. DAS WIRD MAN JA WOHL NOCH SAGEN DÜRFEN!“
„Ich geh’ mal aufs Klo. DAS WIRD MAN JA WOHL NOCH SAGEN DÜRFEN!“
„Ich hol mir ‘ne Wurst. DAS WIRD MAN JA WOHL NOCH SAGEN DÜRFEN!“
Die Verkleidung schien mir aber ein wenig zu konzeptionell-verkopft zu sein. Stattdessen habe ich mich für mein bewährtes Wo-ist-Walter-Kostüm entschieden. Das ist leicht umzusetzen und kostengünstig. Du brauchst nur ein rot-weiß-geringeltes T-Shirt und eine rot-weiße Bommelmütze – eine schwarze Hornbrille habe ich sowieso – und fertig ist die Karnevalsverkleidung.
Außerdem komme ich in dieser Kostümierung sehr leicht in Kontakt mit anderen Menschen. Allerdings in erster Linie auf der Männertoilette, wo mir andauernd irgendein Dude auf die Schulter haut und dabei nuschelt „Isch hab’ den Walter jefunden!“ (Nach dem fünften Kölsch denke ich auch nicht mehr darüber nach, ob sich der Typ, der mir gerade den Rücken tätschelt, vorher die Hände gewaschen hat.)
12. November 2022, Berlin
Wache um 8 Uhr auf. Die Umsetzung meines Nach-jedem-dritten-Kölsch-trinke-ich-ein-Wasser-Plans hat nur semi-gut geklappt. Ich habe eine leicht matschige Birne und einen Geschmack im Mund, als hätte sich eine altersschwache Bisamratte zum Sterben in meine Mundhöhle zurückgezogen.
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Um 10.30 Uhr laufe ich am Rhein entlang in Richtung Hauptbahnhof. Am Zollhafen wird gerade der Weihnachtsmarkt aufgebaut. Die Arbeiter sehen nicht besonders glücklich aus. Das liegt vielleicht am Wetter. Bei 12 Grad plus macht es wahrscheinlich nicht besonders viel Spaß, Glühweinstände zusammenzuzimmern.
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Im Bahnhof spricht mich ein Mann in gebrochenem Deutsch an. Er fragt, was bei der Anzeige zu seinem Zug der Satz „Fährt in umgekehrter Wagenreihung“ bedeutet. Ich versuche, ihm das mit möglichst einfachen Worten zu erklären. Mein Hirn und mein Sprachzentrum laufen aber noch nicht ganz im Normalbetrieb. Meine Ausführungen sind daher so kompliziert, dass ich davon ausgehe, dass der Mann gleich in einen komplett falschen Zug einsteigen wird.
13. November 2022, Berlin
Eigentlich hätte ich heute gerne ausgeschlafen, um mich noch ein wenig von den Karnevalsstrapazen zu erholen. Schließlich bin ich keine 18 mehr, als ich abends noch feiern gehen konnte und trotzdem am nächsten Morgen einigermaßen fit war und in die Schule gehen konnte. (Das lag allerdings hauptsächlich daran, dass mein Vater Lehrer war und es nicht gestattet hat, „krank“ zu sein, wenn du am Vorabend auf einer Party warst.)
Meine Karnevals-Rekonvaleszenz muss jedoch ausfallen. Der Judoverein des Sohns richtet dieses Wochenende die Berliner Mannschaftsmeisterschaften aus. Da wird ein gewisses Engagement von den Vereinsmitgliedern erwartet. Ungünstigerweise auch von den Eltern der Vereinsmitglieder. Ich hatte bereits Kuchen gebacken. Das reichte als Einsatz aber nicht aus, sondern ich war auch noch dafür eingeteilt, ihn zu verkaufen. Und Brötchen und Würstchen und Salate und Bouletten und Getränke.
Um 6 Uhr klingelt der Wecker, weil wir für das Turnier nach Kladow müssen, was eine Bus- und Bahnfahrt von 70 bis 90 Minuten bedeutet. Möglicherweise fragen sie sich jetzt: „Kladow? Ist das überhaupt noch Berlin?“ Um ehrlich zu sein, weiß ich das nicht. Allerdings sieht es dort nicht nach Berlin aus.
Durch den Karneval ist mein Bedarf an Sozialkontakten für die nächsten Tage Wochen gedeckt. Somit versuche ich, mich beim Essensverkauf eher im Hintergrund zu halten. Es kommt mir sehr gelegen, dass immer wieder neue Brötchen geschmiert werden müssen. Ein Job, den meine Frau und ich gerne übernehme. Hauptsache, wir müssen uns nicht mit anderen Menschen unterhalten.
Unterstützung bekommen wir unter anderem von Roy. Roy ist 10 Jahre alt und belegt die Brötchenhälften mit einer zenhaften Langsamkeit mit Käse, Salat, Tomaten und Gurken. Manchmal kommt er bei der Reihenfolge des Belags durcheinander, muss dann alles wieder runternehmen und neu belegen. Dafür drapiert er die Gurken und Tomaten in Blümchenmustern auf den Brötchenhälften, was seine Brötchenbeleggeschwindigkeit auch nicht gerade erhöht.
Roy ist wahrlich nicht der schnellste Brötchenbeleger in der Geschichte des Brötchenbelegens. Dafür ist er aber erfreulich schweigsam. Eine Qualität, die ich insbesondere heute sehr zu schätzen weiß.
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Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Im September erscheint sein neues Buch “Papa braucht ein Fläschchen”. Ebenfalls mehr als zu empfehlen sind “Hilfe, ich werde Papa! Überlebenstipps für werdende Väter”, “Ein Vater greift zur Flasche. Sagenhaftes aus der Elternzeit” sowie “Wenn’s ein Junge wird, nennen wir ihn Judith”*. (*Affiliate-Links)
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