03. Dezember 2022, Berlin
Nachdem das verwaiste Zimmer der Tochter zu meinem Arbeitszimmer geworden ist, müssen wir im Schlafzimmer die frei gewordene Fläche, wo vorher mein Schreibtisch stand, gestalten. Dazu benötigen wir ein paar Regale sowie einige andere Accessoires. Also fahren wir zu IKEA. An einem Samstagmorgen. Als hätten wir die letzten 47 Jahre im Wald unter Tieren fernab jeglicher Zivilisation gelebt.
Kurz nach 10 betreten wir die IKEA-Filiale in Spandau. Etwas naiv sage ich zu meiner Frau, wir wüssten doch, was wir brauchen, da könnten wir die Abkürzung nehmen und direkt in die Markthalle und dann ins Möbellager gehen. Als hätte ich die letzten 25 Jahre im Wald unter Tieren und nicht in einer Paarbeziehung gelebt. Denn meine Frau sagt – natürlich –: „Wenn wir schon mal hier sind, möchte ich mich auch ein wenig umschauen.“ Mein linkes Auge zuckt.
Die Atmosphäre bei IKEA ist aber überraschend harmonisch und friedfertig. Pärchen suchen gemeinsam neue Schlafzimmer, Küchen und Wohnzimmer aus, ihre Kinder verstecken sich glucksend in den Ausstellungsräumen. Mehr Familien-Idylle gibt es höchstens in der Rama-Werbung.
Als wir unsere Einkäufe beisammen haben, werden wir an der Kasse von der unschönen Realität eingeholt. Als wir alle Waren eingescannt haben, erscheint auf dem Display ein Betrag, der mich überrascht. Und nicht positiv. Aber das haben Sie sich sicherlich schon gedacht. Kurz versuche ich mich davon zu überzeugen, dass es ein gutes Zeichen und ein Privileg ist, dass wir uns das trotz steigender Preise für Gas, Strom und Lebensmittel leisten können. Echte Euphorie will sich bei mir dennoch nicht einstellen. (Bei der EC-Karte auch nicht.) Ich bin wohl doch eher der Das-Glas-ist-halb-leer-Typ. Beziehungsweise der Das-Konto-ist-ganz-leer-Typ.
Am Schalter des Transportunternehmens, von dem wir uns unsere Einkäufe liefern lassen wollen, wird es nicht besser. Zunächst begrüßt uns der Mitarbeiter dort gut gelaunt und sagt: „Schauen wir mal, ob das heute noch klappt.“ Dann tippt er auf seiner Computertastatur rum und seine Miene wird zunehmend ernster. „Ich habe leider keinen freien Slot mehr“, erklärt er schließlich. „Für die nächsten vier Wochen.“
Das ist eher ungünstig. Ich hatte eigentlich vor, 18-mal mit dem Bus hin und her zu fahren, um unsere neu erworbenen Regale, Aufbewahrungsboxen, Bettbezüge, Kissen und Kerzen – natürlich – nach Hause zu schaffen. Glücklicherweise stehen vor dem IKEA einige Möbel-Taxen. Ein Mann bietet uns an, die Sachen zu uns zu bringen. Er fragt, ob wir mitfahren möchten. Das ist mir ganz recht. Ich habe prinzipiell zwar ein positives Menschenbild, hätte aber ein komisches Gefühl, einem wildfremden Menschen unsere neu erworbenen Möbel im Wert eines leider nicht niedrigen, sondern hohen dreistelligen Betrags anzuvertrauen. Schließlich habe ich nicht die letzten 47 Jahre im Wald unter Tieren gelebt und noch nie eine Folge „Nepper, Schlepper, Bauernfänger” gesehen.
04. Dezember 2022, Berlin
Wir verbringen den größten Teil des Tages mit dem Aufbau der neu gekauften Möbel. Unter anderem bringen wir Türen an unsere bereits vorhandenen Billy-Regalen an. Eines davon ist allerdings so alt, dass die Türscharniere nicht passen. Wir müssen improvisieren. Ein Satz, der schon bei handwerklich versierten Menschen nichts Gutes erahnen lässt. Bei DIY-Laien wie meiner Frau und mir ist er allerdings mit großer Wahrscheinlichkeit der Ausgangspunkt für ein geradezu apokalyptisches Horrorszenario, bei dem zum Schluss nur noch eine Wand des Mietshauses steht, bis diese auch noch in Zeitlupe einstürzt.
Überraschenderweise gelingt es uns, ohne größere Vorkommnisse neue Löcher in die Seitenwände zu bohren und die Scharniere samt Türen anzuschrauben. Dann müssen wir die Türen noch justieren. Eine äußerst knifflige Angelegenheit, denn die Wahrscheinlichkeit eine Schranktür perfekt auszurichten, ist wesentlich geringer als die Aussicht auf einen Sechser im Lotto. Trotzdem bekommen wir das Türenjustieren einigermaßen gut hin. Zumindest entscheiden wir irgendwann, dass es gut genug ist. Jede weiteren Bemühung würde uns nur Schweiß, Nerven und schließlich unsere Ehe kosten.
05. Dezember 2022, Berlin
Meine Frau hat heute frei, so dass wir den Tag für ein paar Bohrarbeiten nutzen können. (Schließlich sind wir sozial doch kompetent genug und haben nicht unsere guten nachbarschaftlichen Beziehungen aufs Spiel gesetzt, indem wir das am gestrigen Sonntag erledigt haben.) Im Schlafzimmer wollen wir ein Fitnessgerüst sowie einen Spiegel anbringen, im Wohn- und im neuen Arbeitszimmer jeweils eine Bilderleiste.
Wir nehmen uns zuerst das Gerüst vor, um die anspruchsvollste Aufgabe als erstes hinter uns zu bringen. Dafür müssen wir sechs Löcher für 14er-Schrauben bohren. Schließlich soll das Gerüst mein Gewicht aushalten. Auch in der Vor- und in der Nachweihnachtszeit.
Für unsere Bohraktion habe ich mir extra die Bohrmaschine unserer Nachbarin geliehen. Die ist leistungsstärker als mein schon leicht altersschwaches Modell. Anscheinend ist unsere Schlafzimmer-Wand aber aus irgendeinem undurchdringbaren Material gebaut, das sonst zum Bau von Raumschiffen eingesetzt wird. Nachdem sich der Bohrer knapp einen halben Zentimeter in die Wand gedreht hat, streikt er mit den Worten: „Nope, nicht mir.“ Selbst als ich mich mit aller Kraft in den Bohrer stemme, bewegt er sich keinen Millimeter weiter. Um so etwas in Zukunft zu vermeiden, wäre es gut, ein Fitnessgerüst zu haben, an dem ich meine Muskeln stärken kann, was aber nicht geht, weil mir die Kraft fehlt, es anzubohren. Es ist ein Teufelskreis.
Also widmen wir uns erstmal dem Spiegel, der auf der anderen Seite des Zimmers aufgehängt werden soll. Aber auch hier haben wir nicht mehr Erfolg. Nach circa 0,5 Zentimetern kommt der Bohrer zum Stillstand. Er schaut mich an und fragt: „Bist du dumm, oder was? Denkst du, die Wand hier besteht plötzlich aus Butter und ich kann da locker-flockig reinrutschen?“ Eine recht unhöfliche und obendrein ableistische Frage, die jedoch nicht gänzlich unberechtigt ist. Es bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als in irgendeinem Baumarkt einen Hochleistungsbohrer auszuleihen, der sich auch in Osmium fräst.
Unverrichteter Dinge beziehungsweise unverbohrter Löcher gehen wir ins Wohnzimmer, um die Bilderleiste anzubringen. Hier klappt das Bohren erfreulich problemlos. Zumindest des ersten Lochs. Dann fällt meiner Frau auf, dass das zweite Loch ziemlich genau oberhalb einer Steckdose liegen würde. Nicht ganz genau, aber doch nah genug, dass es mir zu riskant ist, da reinzubohren und – im besten Fall – einen Kurzschluss auszulösen. Somit müssen wir uns auch noch einen Leitungssucher besorgen, bevor wir hier weiter bohren können.
Meine Laune liegt ob der eher mittelschlecht verlaufenden Bohraktion inzwischen deutlich unter Normalnull. Damit wir wenigsten ein Erfolgserlebnis haben, wollen wir wenigstens noch die Bilderleiste im Arbeitszimmer anbringen. Aber hier hört der Bohrer ebenfalls nach fünf Sekunden auf zu bohren. Ich kann mir das nicht erklären, denn hier ist die Wand eigentlich von sehr bohrfreundlicher Art. Nicht zu hart und nicht zu porös. Merkwürdig ist allerdings auch, dass der Sauger, den meine Frau gehalten hat, auch ausgefallen ist. Dann wandern unsere Blicke vom Bohrloch die Wand hinunter, bis sie auf eine Steckdose treffen. Die schüttelt den Kopf und formt mit dem Mund ein lautloses „Vollidioten!“
Ich könnte versuchen, das Ganze positiv zu sehen. Schließlich hat nur das Stromkabel den Geist aufgegeben und weder war es eine alte stoffummantelte Leitung, die Feuer gefangen und uns die Bude abgefackelt hat, noch wurde ich mit einem 230 Volt-Schlag ins Krankenhaus oder ins Jenseits befördert. Meine Begeisterung hält sich trotzdem in Grenzen. Vor allem als mir der Elektriker, den ich anrufe, mitteilt, dass er erst wieder im nächsten Jahr freie Termine hat.
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Morgen ist Nikolaus. Das heißt, dem Sohn obliegt heute Abend die ehrenvolle Aufgabe, im ganzen Haus für die Kinder Schoko-Nikoläuse, Süßigkeiten und Alibi-Nüsse vor den Türen zu drapieren.
Meine Frau weist in anschließend darauf hin, er müsse noch seine eigenen Schuhe putzen und vor die Tür stellen. Mit seinen 16 Jahren macht er das Nikolaus-Ritual wahrscheinlich ohnehin in erster Linie uns zuliebe mit – und weil er gerne Schokolade isst. Er findet auf jeden Fall, seine Sneaker seien sauber genug und hält das Putzen für unnötig.
Zu seinem Glück habe ich heute noch Zitronenherzen gebacken. (Nach der misslungenen Bohraktion mit nicht ganz so viel vorweihnachtlicher Liebe, wie es angebracht wäre.) Somit kann der Sohn dem Nikolaus doch eine kleine kulinarische Aufmerksamkeit darbieten. Ohne die Zitronenherzen hätte es, was die Dankbarkeitsgesten angeht, eher mau ausgesehen. Dann hätte der Sohn höchstens den Beutel mit Pfandflaschen, die er schon seit Wochen zum Supermarkt bringen soll, zu seinen Schuhen stellen können.
Darüber würde sich der Nikolaus bestimmt ohnehin mehr freuen, meint der Sohn. Ich frage ihn, ob er denkt, der Nikolaus leide unter Altersarmut und sei aufs Pfandsammeln angewiesen. Das sei nicht unwahrscheinlich, erwidert er, wenn ihm alle nur Kekse und Milch hinstellen. Er bekäme ja auch nichts dafür, dass er hier im ganzen Haus Süßigkeiten verteile, merkt der Sohn noch mit leichtem Vorwurf in der Stimme an. Er dürfe mietfrei bei uns wohnen, erkläre ich ihm, und darauf fällt dem Sohn keine Antwort mehr ein.
06. Dezember 2022, Berlin
Meine Eltern haben uns ein Nikolauspaket geschickt. Das enthält unter anderem eine Dose mit Weihnachtsplätzchen. Das mütterliche Gebäck zeichnet sich dadurch aus, dass es, ersten, sehr lecker und, zweitens, sehr zart, fast schon filigran ist. Außerdem backt meine Mutter mit einer unglaublichen Akkuratesse, so dass alle Plätzchen vollkommen gleich aussehen. Wie von einem Back-Cyborg, der extra dafür programmiert wurde, absolut identische Plätzchen zu produzieren.
Meine Plätzchen bestechen dagegen nicht mit Zartheit. Sie sind zwar lecker, aber eher groß und grobschlächtig. Gleichförmig sind sie auch nicht. Im Gegenteil. Bei mir ist jedes Plätzchen ein Unikat. Und wenn ich Unikat schreibe, meine ich, dass sie aussehen als sei ein Dinosaurier auf sie getreten. Und zwar auf jedes Plätzchen ein anderer Dino.
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Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Im September erscheint sein neues Buch “Papa braucht ein Fläschchen”. Ebenfalls mehr als zu empfehlen sind “Hilfe, ich werde Papa! Überlebenstipps für werdende Väter”, “Ein Vater greift zur Flasche. Sagenhaftes aus der Elternzeit” sowie “Wenn’s ein Junge wird, nennen wir ihn Judith”*. (*Affiliate-Links)