Zum Sonntagabend gibt es meine semi-originellen Gedanken und semi-spannenden Erlebnisse aus der abgelaufenen Woche. Manchmal banal, häufig trivial, meistens egal.
25. Dezember 2024, Berlin/Westerburg
Kurz nach 11. Im Zug auf dem Weg zum Weihnachtsbesuch im Westerwald. Meine Frau, die Tochter und ich sitzen in einem 6er-Abteil. Meiner Stimmung ist das nicht besonders zuträglich. Und mit „nicht besonders“ meine ich „überhaupt nicht“. Ich mag 6er-Abteile nicht. Du bist fremden Menschen auf engstem Raum ausgeliefert, kannst deine Beine nicht ausstrecken und meistens ist es stickig.
In einer Mischung aus schlechtem Zeitmanagement, Stress und Trägheit konnte ich mich erst vor drei Tagen um die Tickets kümmern, was dazu führte, dass es in keinem einzigen Großraum-Abteil mehr drei freie zusammenliegende Plätze gab. Ihre Antwort spektakulär fehleinschätzend fragte ich meine Frau, ob sie lieber zusammen im Abteil oder verstreut im Großraum sitzen möchte, sie entschied sich für das Gemeinschaftserlebnis im 6er-Abteil.
Das war doof, nun konnte ich nicht mehr sagen, dass ich mich auf keinen Fall zu sechst mit mir unbekannten Personen einpferchen lassen möchte, denn dann hätte ich sie ja gar nicht erst fragen müssen. Stattdessen hätte ich die Einzelplätze reservieren und gegebenenfalls erklären können, dies wären die einzigen noch freien gewesen. (Kleingeistige Moralapostel bezeichnend dies möglicherweise als Lüge, für mich fällt das in einer langjährigen Paarbeziehung unter harmoniefördernde Diskussionsvermeidung.)
In Berlin Südkreuz steigen unsere Mitreisenden ein. Eine junge Frau von Anfang 20, mit ihr ein circa neunjähriges Mädchen und ihr vielleicht vier- oder fünfjähriger Bruder.
„Erzähl mir nochmal, was du zu Weihnachten bekommen hast“, fordert der Kleine die Frau auf.
„Eine Tasche, einen Schal und Geld.“
„Wie viel Geld?“
„Das weiß ich nicht mehr.“
„50 Euro?“
Sie schüttelt den Kopf und hebt ihren rechten Zeigefinger.
„Ein Euro?“
Sie lacht, dann nickt sie.
„Krass, ich bekomme ein Euro Taschengeld.“
Was für ein unbeschwertes Alter, in dem du ein Euro Taschengeld bekommst und 50 Euro für dich ein Dagobert-Duck-artiger Reichtum ist. Mein Gehalt ist circa 2.500-mal so viel wie das Taschengeld des Jungen und ich sorge mich ums Klima, den Ausgang der Bundestagswahl und ob meine Altersvorsorge später mal ausreicht. Zum Glück weiß der Kleine noch nicht, was Klimakatastrophe, AfD und Altersarmut sind. Beneidenswert.
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Im Anschluss-ICE sitzen wir erfreulicherweise im Großraumabteil. Das ist allerdings sehr warm. Sehr, sehr warm. Findet sogar meine Frau und die friert sonst immer.
Über den Lautsprecher entschuldigt sich der Schaffner für die technischen Probleme. Im Wagen 23 sei es zu heiß, im Wagen 25 die Temperaturen dagegen so niedrig, dass es jeden Moment schneien könnte. Die Reisenden aus diesen Wägen könnten die Plätze tauschen oder sich woanders einen freien Sitz suchen, von denen es reichlich gäbe. Wegen technischer Probleme dürfe der Zug außerdem nur 160 fahren. Ich schätze, das sind aber andere Komplikationen als die mit der Klimaanlage.
Montabaur erreichen wir mit fünfzehn Minuten Verspätung. Egal, Hauptsache gesund.
26. Dezember 2024, Westerburg/Montabaur
Viertel nach sieben. Sitze neben meinem Vater im Auto unterwegs nach Montabaur. Um den Sohn abzuholen. Der musste gestern noch arbeiten und ist um 0.20 Uhr in Berlin losgefahren.
Draußen ist es noch dunkel. Mein Vater ist 81 und fährt nicht mehr gerne bei Dunkelheit. Sehr neblig ist es obendrein. Sichtweite unter 50 Metern. Ich glaube, bei Nebel ist er noch nie gefahren.
Ich überlege meinem Vater anzubieten, dass ich fahre. Allerdings saß ich seit fast fünfzehn Jahren nicht mehr hinterm Steuer. Wahrscheinlich würde ihn die Vorstellung, als Beifahrer mit mir zu fahren, noch nervöser machen. Da würde er lieber selbst und mit Augenbinde fahren.
Wenigstens ist um die Uhrzeit fast niemand unterwegs. So drängelt keiner von hinten und stört sich daran, dass wir mit 40 über die Landstraße zockeln. Vielleicht ist der Nebel aber auch so stark, dass wir die Autos hinter uns schlicht nicht sehen.
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Der Sohn erzählt, er musste gestern eine Doppelschicht im Brauhaus schieben. Als er im Zug die Schuhe auszog, um sich bequem auf einem 4er-Platz auszubreiten, stellte er fest, dass das „nicht ganz so gut“ roch.
Er habe sich dann demonstrativ mit kritischem Blick umgeschaut, als wolle er herausfinden, woher die Geruchsbelästigung kommt. Viel können wir ihm nicht mehr beibringen.
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Meine Frau und ich sind noch etwas angeschlagen, deswegen gehen wir nach dem Frühstück nicht joggen, sondern gemeinsam mit der Tochter spazieren. Damit das nicht so rentnermäßig klingt, spricht meine Frau von einem „strammen Spaziergang“. Ich denke nicht, dass die Fitness-App ihr da beipflichtet, denn so besonders stramm ist unser Tempo nicht.
Wir gehen den Radweg entlang, der elf Kilometer bis nach Wallmerod führt. Früher bin ich dort ab und an mit dem Fahrrad zu P. gefahren, der zwei Orte weiter wohnte. Auf der Landstraße wäre das zu gefährlich gewesen. Westerwälder Autofahrer sind nicht gerade für ihr vorschriftsmäßiges Tempo und noch weniger für ihre rücksichtsvolle Fahrweise bekannt.
Mit 13 oder 14 bin ich einmal mit meinem neuen Rennrad, das ich mir von meinem Konfirmationsgeld gekauft hatte, auf dem Radweg gefahren. Mit meinem ebenfalls neuen digitalen Tacho wollte ich ausprobieren, wie schnell ich bin. Zu meiner großen Enttäuschung weit weniger als die Profis bei der Tour de France und ich hatte sogar Schwierigkeiten, über 30 zu kommen.
Dafür traf ich unterwegs meinen damaligen Englischlehrer. Der war damals um die 50, von großer, hagerer Statue und trug immer einen dreiteiligen Nadelstreifenanzug. Mit seinen gestärkten Hemden und Krawatten sowie seiner goldenen Taschenuhr sah er wie ein englischer Lord aus. Auf dem Rad sah ich ihn das erste Mal ohne Anzug. Stattdessen hatte er eine beige Bundfaltenhose an und ein blaues Hemd, das bis zum Hals zugeknöpft war.
Er hatte einen Fotoapparat dabei und daher liegt irgendwo in einer Schublade meines alten Schreibtischs ein Bild von mir, auf dem ich mit meinem Rennrad vor einem Zaun stehe, im Hintergrund sind Felder und Hügel zu sehen und ich schaue mit gequältem Gesichtsausdruck in die Kamera.
Heute treffen wir nicht auf meinen alten Englischlehrer, ich weiß gar nicht, ob er überhaupt noch lebt. Uns kommen nur vereinzelt ein paar Spaziergänger entgegen. Einmal frage ich mich, ob es sich um den Vater eines früheren Klassenkameraden aus der Grundschule handelt. Vielleicht ist es auch der Klassenkamerad selbst. Komisch, dass er so viel älter aussieht als ich.
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Kommen auf dem Rückweg an einem Schild vorbei, das auf den Erlebnisbahnhof Westerwald verweist. Wahrscheinlich haben die Betreiber einen sehr viel weiter gefassten Erlebnis-Begriff als ich.
In der historischen Lokstation Westerburg sind fünfzehn ausrangierte Lokomotiven und Fahrzeuge ausgestellt. Zusätzlich gibt es ein Eisenbahn-Plakatmuseum, das erste seiner Art in Deutschland.
Bei Google kommt der Erlebnisbahnhof immerhin auf eine Bewertung von 4,5 Sternen. Die Bewertung des Technikmuseums Berlin ist mit 4,6 Sternen nur geringfügig höher. Für die Besucher*innen scheint der Erlebnisbahnhof tatsächlich ein Erlebnis zu sein. Oder wie Herbert G. schreibt: „Klein, aber fein. Wo findet man z.B. noch eine schwere Güterzuglok wie die BR-44?!“ (Ich hoffe, das ist eine rhetorische Frage, denn ich habe keine Antwort darauf.
Meine Lieblingsrezension ist aber die von Brigitte R.: „Wir waren nicht im Erlebnisbahnhof. Habe nur das Schild fotografiert.“ 5 Sterne.
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Später Rundgang durch Westerburg. Vorbei an der Bäckerei, wo ich als Kind Brötchen für fünfzehn Pfennig das Stück gekauft habe. Inzwischen hat sie ein alter Grundschulklassen-Kameraden von mir von seinen Eltern übernommen. (Nicht der vom Radweg.)
Am Marktplatz ist das Krippenspiel aufgebaut. Wie immer zur Weihnachtszeit. Für 50 Cent ertönt ein Lied und die lebensgroßen Figuren bewegen sich dazu.
Mittlerweile ist das Krippenspiel durch eine Scheibe gesichert. Früher war das nicht so. Einmal haben meine Eltern meinen Bruder und mich zwischen die Engel und Mainzelmännchen gesetzt, als Kulisse für unsere alljährliche Familienweihnachtskarte. (Vielleicht wurde danach die Scheibe eingezogen.)
An einem der Häuser hängt ein großes Schild. „Touristen-Information“. Da hat jemand sehr optimistische Erwartungen, was den Fremdenverkehr angeht. (Möglicherweise die Betreiber des Erlebnisbahnhofs.)
Den Juwelier Uhren-Christian gibt es auch immer noch. Früher mochte ich den, weil er so hieß wie ich, heute frage ich mich, wie sich so ein Laden in einem Ort wie Westerburg halten kann. Immerhin ist er hier im lokalen Einzelhandel quasi konkurrenzlos und hat das Monopol auf Schmuck und Uhren.
Am Rande des Marktplatzes ist das „Baustellen-Café“ angesiedelt. Das ist neu. Zumindest für mich. Die Dekoration besteht aus Baustellenschildern und Werkzeug. Warum? Als ich den Laden näher inspiziere, sehe ich, dass er von der Diakonie betrieben wird. Vielleicht haben die Kinder der evangelischen Kita das Ladenkonzept entworfen.
Kulinarisch ist Westerburg voll auf der Höhe. Mit erstaunlich vielen Döner-Läden und Kebap-Häusern, diversen Pizzerien, Gaststätten mit gutbürgerlicher Küche und einem Chinesen („Goldener Drache“), die Stadthalle bewirtschaftet ein Grieche („Fanissimo”) und das Asiahaus vereint chinesische, thailändische und vietnamesische Gerichte.
Das „Eiscafé Venezia“ (!) ist in der Winterpause, auch sonst gibt es in der Einkaufsstraße ziemlich viel Leerstand. Wer will schon ein Geschäft in einem Ort eröffnen, in dem knapp ein Drittel der Einwohner*innen über 70 ist?
Wer noch in Westerburg wohnt, kann sich im „Bautz Tattoo Studio“ tätowieren lassen. Vielleicht gibt es dort Senioren-Tarife.
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Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Mit seiner Frau lebt er in Berlin-Moabit, die Kinder stellen ihre Füße nur noch virtuell unter den elterlichen Tisch. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Sein neues Buch “Wenn ich groß bin, werde ich Gott” ist im November erschienen. Ebenfalls mehr als zu empfehlen sind “Hilfe, ich werde Papa! Überlebenstipps für werdende Väter”, “Ein Vater greift zur Flasche. Sagenhaftes aus der Elternzeit” sowie “Wenn’s ein Junge wird, nennen wir ihn Judith”*. (*Affiliate-Links)