Den 1. Akt der Tortour gibt es hier, den 2. Akt hier.
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Am See stehen wir vor der Aufgabe, einen netten Platz zu finden, an dem wir uns niederlassen können. Dies ist kein triviales Unterfangen, denn auf der Seite, auf der wir uns befinden, ist das Ufer sehr schmal und voller schmutzigem Gestein und Geröll. Auf der anderen Seeseite laden dagegen schöne Sandstrände zum Verweilen ein. Die Kinder weigern sich aber nach der beschwerlichen Anreise, auch noch den See zu umfahren.
Schließlich finden wir eine einigermaßen akzeptable Stelle, wo wir die Fahrräder abstellen und unsere Decken ausbreiten. Lediglich die vielen Baumwurzeln, die sich hier auf dem Boden ausgebreitet haben, schränken den Liegekomfort ein wenig ein. Die Kinder monieren dies gleich lautstark, als seien sie gezwungen, über mehrere Stunden auf Nagelkissen zu sitzen.
Inzwischen hat die Frau ihre gute Stimmung wiedergefunden und geht eine Runde schwimmen. Weil sie davon schwärmt, wie warm das Wasser ist, beschließt der Sohn, es ihr gleichzutun. Allerdings hat er eine andere Vorstellung davon, was angenehme Badetemperaturen sind, und steigt quälend langsam und laut lamentierend ins Wasser. Ein erbärmliches Schauspiel, das mir einen Eindruck verschafft, was für eine Zumutung es für die Leute ist, die mir im Urlaub dabei zusehen müssen, wie ich ins Meer gehe.
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Die Tochter und ich bemühen uns inzwischen, eine bequeme Liegeposition inmitten der Wurzeln zu finden. Die Tochter beobachtet dabei argwöhnisch, dass keine Insekten unsere Decke erobern. Sie hat ein eher distanziertes Verhältnis zur Natur. Alles was krabbelt, macht ihr Angst und alles andere findet sie eklig.
Möglicherweise denken Sie jetzt „Typisch Stadtkind“, aber das ist eine zu einfache Kausalerklärung. Ich bin beispielsweise auf dem Land aufgewachsen, stehe aber Sechs-, Acht- und Mehrbeinern trotzdem skeptisch gegenüber. Ich habe zwar keine Angst vor Insekten, Käfern und Spinnen – sofern sie nicht die Größe mitteleuropäischer Nagetiere haben –, bevorzuge es jedoch, wenn wir uns aus dem Wege gehen. Um es in Anlehnung an Patrick Swayze in Dirty Dancing auszudrücken: Ich habe meinen Tanzbereich, sie haben ihren, und keiner hat etwas im Tanzbereich des anderen zu suchen.
Während die Tochter misstrauisch die uns umgebende Flora und Fauna beäugt, kommt ein Entenküken zu uns gewatschelt. Die Tochter findet es zwar süß, fürchtet sich aber trotzdem vor ihm. Sie verlangt, dass ich es verscheuchen soll. Das ist einfacher gesagt, als getan, denn ich bin mir unsicher, wie ich das bewerkstelligen soll. Es wäre meiner Beliebtheit am See sicherlich nicht förderlich, wenn ich ein flauschiges kleines Entlein mit aggressiven Fuchtelbewegungen vertreibe. Außerdem, wo ein Entenküken ist, da ist meistens eine überbehütende Helikopter-Entenmutter nicht weit, die nur darauf wartet mit aggressiven Schnabelhieben das Wohl ihres Kindes zu verteidigen. Da ich körperliche Auseinandersetzungen generell scheue, rede ich dem Küken so lange gut zu, es möge doch woanders spielen, bis es gelangweilt von dannen zieht.
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Nachdem die Frau und der Sohn aus dem See zurückgekommen sind, beginnen wir unser Picknick. Selbst mit einigem Wohlwollen betrachtet, entspricht es nicht den höchsten kulinarischen Standards. Die Stullen sind beispielsweise etwas trocken, was der Rest der Familie mir ankreidet. Aus Gründen der Sparsamkeit und des verantwortungsvollen Umgangs mit Lebensmitteln hatte ich heute Morgen Einspruch gegen den Kauf von Brötchen eingelegt, weil wir erst noch den halben Laib Brot verbrauchen müssten. Der wäre noch nicht mal eine Woche alt und es wäre doch schade, wenn er schlecht würde und wir ihn wegschmeißen müssten. Daher kauen wir jetzt auf Käse- und Wurststullen, die in punkto Saftigkeit und Frische durchaus defizitär sind. Entsprechend husten die Kinder bei jedem Bissen vorwurfsvoll in meine Richtung, als müssten sie die zu Brot gewordene Wüste Gobi verzehren.
Den Couscous-Salat können wir leider gar nicht essen, denn die Frau hat vergessen, Besteck einzupacken, was ich aber unter keinen Umständen tadelnd kommentieren darf. Es ist ein ehernes Gesetz unserer Partnerschaft, Versäumnisse des anderen nicht zu kritisieren, wenn wir uns auch selbst darum hätten kümmern können. Die Einhaltung dieses Gesetzes fällt zwar nicht immer ganz leicht, hat aber dafür gesorgt, dass der überwiegend größte Teil unserer mehr als 20-jährigen Beziehung harmonisch verlaufen ist.
Das Obst und Gemüse, das wir noch dabeihaben, ist nach der Fahrt auch nicht mehr übermäßig knackig und appetitlich. Und außerdem ist es nur Obst und Gemüse. Zu wenig weißer Zucker, nicht genügend leere Kohlenhydrate und fast fettfrei, was sie als Highlight eines Picknicks ohnehin disqualifiziert.
Die Tochter fordert daher das von mir versprochene Eis ein. Diesem Begehren kann ich mich selbstverständlich nicht widersetzen, denn versprochen ist versprochen und wird auch nicht gebrochen. Außer man findet selbst nach intensivem und mehrmaligem Durchsuchen sämtlicher Rucksäcke und Taschen seinen Geldbeutel nicht. Ich habe ihn wohl zu Hause vergessen.
Durch diesen in den Augen der Kinder unverzeihlichen Lapsus rutsche ich im elterlichen Popularitätsranking auf den letzten Platz ab. Persönlich finde ich das ein wenig unfair, wo doch die Frau uns diesen ganzen Ausflug überhaupt erst eingebrockt hat. Für die Kinder spielt das aber keine Rolle mehr und die Frau rollt unangemessen genervt mit den Augen, was ein grober Verstoß gegen das Wir-kritisieren-nichts-um-das-wir-uns-auch-selbst-hätten-kümmern-können-Gesetz ist. Sie hat ihr Portemonnaie nämlich ebenfalls nicht dabei.
Passend zu unserer Stimmung sind die Temperaturen immer noch eher frühherbstlich als hochsommerlich. Ich frage mich inzwischen, in welchem Berlin es wohl die angekündigten 23 bis 26 Grad hat. Schlimm, dass selbst der öffentlich-rechtliche Rundfunk nur noch Fake News verbreitet.
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Da sowohl der Unterhaltungs- als auch der Erholungsfaktor am Schlachtensee zu wünschen übrig lassen, beschließen wir, zurückzufahren. Die Kinder bestehen darauf, dass wir den kürzesten möglichen Rückweg wählen, selbst wenn uns dieser über die Stadtautobahn führe. Wir willigen ein, da wir die berechtigte Sorge haben, die Kinder könnten sonst in bester altgriechischer Tradition zum Elternmord schreiten.
Erfreulicherweise geht der Heimweg die meiste Zeit bergab. Der Sohn nutzt dies aus, um neue Geschwindigkeitsrekorde aufzustellen, ich rufe im 30-Sekunden-Takt „Fahr langsamer!“. Warum hat man eigentlich nie einen dressierten Papagei dabei, der einen in Erziehungsaufgaben unterstützt.
Was hohe Geschwindigkeiten auf dem Fahrrad angeht, bin ich ein eher vorsichtiger Mensch. Als ich ungefähr sechs Jahre alt war, machten wir mit der ganzen Familie einen Sonntagsauflug . Meine Eltern zu Fuß, mein Bruder und ich auf den Fahrrädern. Irgendwann radelte ich in höchstem Tempo einen Berg hinunter und verlor dabei zuerst die Kontrolle über den Lenker und dann die oberen Schneidezähne. Mein Vater musste daraufhin mit dem 16-Zoll-Fahrrad meines Bruders wie der menschgewordene Affe auf dem Schleifstein zum Parkplatz rasen, um das Auto zu holen. Ein Anblick, der unter anderen Umständen sicherlich sehr lustig gewesen wäre.
Anschließend fuhren wir zum Zahnarzt, dessen neu renovierte Praxis ich mit meinem blutenden Mund innerhalb weniger Minuten in das Set eines Quentin-Tarantino-Films verwandelte. Zum Glück war der Zahnarzt ein Bekannter von uns, dessen Tochter in meine Klasse ging, und er war mir nicht böse. Allerdings kann ich mich nicht erinnern, nach diesem Vorfall noch einmal von der Tochter zum Kindergeburtstag eingeladen worden zu sein.
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Obwohl die Heimfahrt kürzer als der Hinweg ist, zieht sie sich nach einer Stunde doch ein wenig. Die Kinder verfallen wieder in ihren Jammermodus und beklagen sich über die unerträglichen Qualen, denen sie ausgesetzt sind. Ich ermahne sie, sie sollten sich ein Beispiel an meinem alten Schulfreund Joachim nehmen. Der sei ein Jahr lang mit dem Fahrrad quer durch Europa gefahren. Sogar über die Alpen. Der hätte da sicherlich nicht die ganze Zeit gejammert.
Die Tochter will wissen, ob das der gleiche Joachim sei, von dem ich mal erzählt habe, dass er früher Klassenbester war und dann in der Oberstufe ganz viel gesoffen und gekifft hätte und immer zu spät zum Unterricht gekommen wäre. Möglicherweise eignet sich Joachim doch nicht vollumfänglich als Role Model für die Kinder.
Der Sohn bohrt nun nach, ob Joachim der volltätowierte Glatzkopf mit dem Rauschebart sei, der letzten Sommer bei uns zu Besuch war und mit dem ich bis tief in die Nacht so viel Rotwein getrunken hätte, dass ich am nächsten Tag nicht ins Büro gegangen wäre. Der wäre wirklich total cool gewesen. Eventuell eignet sich Joachim auch nicht als Role Model für mich. Zumindest wenn man Maßstäbe der protestantischen Arbeitsethik anlegt. Aber ein feiner Kerl ist er trotzdem.
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Als wir endlich Zuhause sind, trinken wir Kaffee und essen Streuselkuchen. Die Frau strahlt übers ganze Gesicht und sagt: „Das war ein klasse Ausflug heute. Nächstes Jahr können wir doch im Urlaub mit dem Rad an die Ostsee fahren.“ Die Kinder verlassen wortlos die Küche. Ich zögere kurz, dann gehe ich ebenfalls. Die Solidarität mit der Ehefrau hat auch ihre Grenzen.
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Alle Folgen der Tortour:
Fahrradausflug nach Mordor. Eine Tortour in 3 Akten – 1. Akt: Der Singularis Familiaris
Fahrradausflug nach Mordor. Eine Tortour in 3 Akten – 2. Akt: Quäl dich, du Sau!
Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Im September erscheint sein neues Buch “Papa braucht ein Fläschchen”. Ebenfalls mehr als zu empfehlen sind “Hilfe, ich werde Papa! Überlebenstipps für werdende Väter”, “Ein Vater greift zur Flasche. Sagenhaftes aus der Elternzeit” sowie “Wenn’s ein Junge wird, nennen wir ihn Judith”*. (*Affiliate-Links)
Herrlich.
Richte deiner Frau doch bitte aus, sie solle öfters für familiäre Aktivitäten sorgen, das ergibt prima Stoff für den Blog. ;-)
Setze ihr doch bitte nicht solche Flöhe ins Ohr.
‘Schulligung. Ich konnte nicht anders.
*flitz und weg*
Hallo Christian,
habe mir gerade die drei Akte eurer “Tour de Schlachtensee” zu Gemüte geführt. Lange nicht mehr so gelacht, einfach herrlich geschrieben!
Und es weckte bei mir gleichzeitig böse Erinnerungen an Ausflüge mit meinen Eltern als auch böse Vorahnungen vor in den nächsten Jahren anstehenden Ausflügen, dann mit Blick von der anderen Seite der Teilnehmer. Warum sind manche Frauen so unangebracht proaktiv? 😉
Ich freue mich darauf, hier bei euch weitere Blicke in die eigene Zukunft zu entdecken.
Schöne Grüße
Tim
Fantastisch, köstlich, zu lustig!
Grüße aus Moabit,
Falk
Großartig! Ich musste so lachen. Bei uns kommt auch immer Panik auf, wenn die Frau verkündet, dass wir mal wieder was zusammen machen müssen. Nur der Hund freut sich.
Vielleicht sollten wir uns doch einen Hund anschaffen.
Als wäre man dabei gewesen :-)
Deinen Schmerz können wohl nur Eltern nachempfinden.
Aber solche Erlebnisse inklusive der erbarmungslosen kindlichen Kritik härten ab.
Ich hab das Gefühl, seitdem ich Mutter bin, kann mich gar nichts mehr schockieren. :-)
ps: Ich bin übrigens auch ein großer Kishon-Fan.
Hab den schon als Kind verschlungen.
Beim Lesen deiner Texte merke ich den Kishon-Einfluss jedenfalls heraus. ;-)
Viele Grüße,
Conni von muttersprach