Föhr 2018 – Tag 18: Für eine Handvoll Schafköttel

Es ist kurz nach acht und ich stehe beim Bäcker an. Da die Frau und die Tochter heute ein paar Wellness-Behandlungen gebucht haben, musste ich gestern Abend Beach Body in einer längeren Diskussion davon überzeugen, dass wir erst nach dem Frühstück laufen gehen. Begeistert war er zwar nicht („Und was genau spricht dagegen, dass wir die Trainingseinheit nicht einfach um vier beginnen?“), willigte aber schließlich ein.

In der Schlange vor mir steht ein Paar mit ihrer kleinen Tochter. Die Mutter ist ungefähr Anfang 30, schlank mit seidig glänzendem schulterlangem Haar, der Vater im gleichen Alter, sportliche Statur mit kurzem modischen Haarschnitt und die Tochter von circa drei bis vier Jahren wäre mit ihren blonden Löckchen die Idealbesetzung als Engel in allen Krippenspielen weltweit. Die gesamte Familie wirkt, als wäre sie einem Werbefilm entsprungen, und ich habe das Bedürfnis, das gleiche Auto wie sie zu fahren, die gleiche Butter auf mein Brot zu schmieren, meine Wäsche mit dem gleichen Waschmittel zu waschen, die gleiche Limonade zu trinken und den gleichen Schokoriegel zu essen, einfach um so zu sein wie sie.

Als die Familie ihre Backwaren bezahlt hat, hält die Verkäuferin dem Mädchen eines der leckeren Mini-Brötchen über die Theke und fragt: „Möchtest du ein Brötchen haben?“ Nach einem Moment des Zögerns antwortet die Kleine: „Nein danke, lieber nicht.“

Kann ja mal passieren, denke ich mir. Das Kind ist wahrscheinlich gerade in der Trotzphase und testet einfach ein paar Grenzen aus. Da werden die Eltern jetzt pädagogisch wertvoll eingreifen und ihm erklären, dass es unhöflich ist, ein Geschenk auszuschlagen. Das tun allerdings weder Vater noch Mutter und zu meiner großen Überraschung – wenn nicht gar Irritation – kommt auch keiner von ihnen auf die naheliegende Idee, der Tochter zu sagen: „Nimm doch das Brötchen und schenke es dem netten Mann hinter uns. Genau, der mit dem gepflegten Bart.“ Wie asozial von den beiden. Die ganze Familie war mir von Anfang an suspekt. Der Mann wirkte so jovial-schmierig wie das Klischeebild eines Immobilienmaklers, die Frau hatte so glasige Augen, als sei sie Tabletten abhängig, und die kleine verzogene Göre hat auf mich sofort den Eindruck eines verwöhnten Einzelkindes gemacht.

„Ich weiß auch nicht, warum der Mann weint, mein Schatz“, sagt die Mutter zu ihrer Tochter. „Auch Erwachsene sind manchmal traurig.“ Dann zieht sie das Mädchen aus dem Laden und wirft noch einen besorgten Blick auf mich. Wahrscheinlich fragt sie sich gerade, ob Tollwut auch von Mensch zu Mensch übertragen werden kann.

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Am Frühstückstisch gibt es einen „Code Brown“: Das Nutella-Glas ist leer! „Da müssen wir heute Abend unbedingt ein Neues kaufen“, erklärt der Sohn mit vollem Mund. „Ach, für die drei Tage lohnt sich das doch nicht mehr“, höre ich mich antworten. „Wir können ja wohl auch mal ohne Nutella auskommen“, ergänze ich dann anscheinend noch.

Am Tisch ist es totenstill. Die Kinder schauen mich um Fassung ringend an, als hätte ich gerade verkündet, dass wir uns nach dem Urlaub einer Amish-Gemeinde in den USA anschlössen, um uns abgeschieden von der Außenwelt selbst zu versorgen. Ich schaue hilfesuchend zur Frau, denn wenn ich die Mimik der Kinder richtig deute, steht die Situation kurz davor zu eskalieren. Die Frau bleibt aber stumm und ihr Gesichtsausdruck lässt vermuten, dass sie gerade überlegt, ob meine Aussage ein ausreichender Grund ist, unsere Ehe annullieren zu lassen. (Wahrscheinlich konsultiert sie in dieser Frage später am Strand den Anwalt in unserer Strandkorb-Community.)

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Nach dem Frühstück gehen die Frau und die Tochter los zu ihrer Wellness-Behandlung und der Sohn zu seiner letzten Surfstunde. Ich muss dagegen noch im Appartement bleiben, denn es kommt heute Vormittag jemand vorbei, um den Wasserzähler auszutauschen. Mit so etwas Profanem möchte ich mich im Urlaub ja eigentlich nicht beschäftigen. Da möchte ich einfach, dass Wasser aus dem Hahn kommt, aber warum und wie, interessiert mich nicht die Bohne. (Wenn ich darüber nachdenke, interessiert mich das Zuhause in Berlin auch nicht.)

Um Punkt zehn klingelt es und der Installateur steht vor der Tür. Während er sich an dem Wasserzähler zu schaffen macht, versuche ich, mich wie ein sozial kompetenter Mensch zu verhalten, der mit den üblichen Umgangs- und Höflichkeitsformen vertraut ist. Das klappt erstaunlich gut und ich smalltalke, als hätte ich einen Konversationskurs für den Diplomatischen Dienst im Auswärtigen Amt belegt. Auch der Mann gibt sich redselig, was darauf schließen lässt, dass er nicht aus dem Norden kommt. Unsere Unterhaltung bringt zu Tage, dass er in Berlin gelebt hat. Gebürtiger Berliner kann er aber auf keinen Fall sein, dazu ist er zu freundlich.

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Als der Installateur fertig ist, holt mich Beach Body, der schon ganz unruhig ist, ab. Wir laufen zunächst in Richtung des Radwegs, der zu den verschiedenen Inseldörfern führt, aber dann biegt Beach ab und wir laufen schließlich am Deich an der Ostseite Föhrs entlang. Plötzlich versperrt uns ein Gatter den Weg, aber Beach springt mit der Leichtigkeit eines Hürdenläufers hinüber. Ich bleibe stehen.

„Was ist los?“, fragt Beach und trippelt auf der Stelle.

„Auf dem Schild hier steht ‚Betreten auf eigene Gefahr‘“, erkläre ich.

„Ja, und?“, fragt Beach und macht ein paar Hampelmänner.

„Da steht auch etwas von Schafskot“, lese ich vor.

„Ja, und?“, fragt Beach wieder und macht ein paar Rumpfbeugen.

„Vielleicht sind wilde Schafe auf dem Deich“, wende ich ein.

„Ja, und?“, wiederholt sich Beach wie eine Schallplatte mit Sprung und macht Hockstrecksprünge.

„Und was, wenn die uns attackieren?“, frage ich.

„Dann musst du halt schnell rennen. Da gehst du vielleicht endlich mal an deine Leistungsgrenze“, lacht Beach.

„Die laufen aber bestimmt 30 km/h oder schneller“, gebe ich zu bedenken.

„Dann musst du halt 31 km/h oder schneller laufen“, entgegnet Beach.

„Wie soll ich das denn bitte schaffen?“, frage ich.

„Meine Güte“, stöhnt Beach. „Usain Bolt ist auch bis zu 44 km/h gerannt. Da wirst du ja wohl mal vor so einem Schaf weglaufen können.“ Beach schüttelt missbilligend den Kopf. „Und jetzt mal los, die Kilometer laufen sich ja nicht von alleine.

Ich wälze mich über das Gatter und laufe mit Beach am Deich entlang. Der ist tatsächlich voll mit Schafexkrementen und es riecht ein wenig streng. Wie im Zimmer eines pubertierenden Teenagers, das dringend gelüftet werden müsste, in dem der Weg zum Fenster aber durch schmutzige Wäsche, alte Joghurtbecher, herumliegende Schulbücher, Tüten und Taschen, benutztes Geschirr und anderen Krempel versperrt ist.

Der vollgeköttelte Deich ruft bei mir Erinnerungen an mein erstes Praktikum Ende der 90er Jahre hervor. Nicht weil ich das bei einem Schafhirten gemacht habe, sondern weil das Büro im Prenzlauer Berg lag. Damals musste ich den Weg von der U-Bahn zum Büro auf Zehenspitzen wie eine Ballerina zurücklegen, denn es gab mehr Flächen, die mit Hundekot bedeckt waren, als freie Stellen. Und im Hauseingang, der zum Büro führte, stand dann jeden morgen ein Kleindealer, der fragte, ob ich etwas zum Rauchen wolle.

Kleindealer gibt es auf dem Deich nicht, aber eine Menge Schafe. Die denken allerdings nicht daran, uns zu verfolgen, sondern betrachten uns teilnahmslos, wie wir an ihnen vorbeilaufen.

„Die Inselschafe scheinen eine ziemlich gute Verdauung zu haben“, sage ich zu Beach und zeige auf die ganzen Köttel.

„Das stimmt“, erwidert er. „Und weißt du auch warum?“

„Keine Ahnung“, sage ich.

„Weil sie sich vegan ernähren“, erklärt Beach und hebt mahnend seinen linken Zeigefinger. „Die stopfen sich nicht jeden Tag ohne Sinn und Verstand Camping-Wecken rein bis zur Verstopfung.“

Ich verdrehe die Augen.

„Der Darm ist ein guter Indikator für den Gesundheits- und Fitnesszustand eines Menschen“, doziert Beach. „Wann hattest du zum Beispiel das letzte Mal Stuhlgang?“

„Was?“, frage ich entgeistert.

„Ich zum Beispiel habe vor unserem Lauf noch groß gemacht“, erklärt Beach ungerührt. Ich versuche, mir beim Laufen die Ohren zuzuhalten. „Mit einem leeren Darm läuft es sich einfach besser“, fährt Beach fort. „Du weißt doch: Freier Darm für freie Läufer!“ Hoffentlich bekomme ich das Bild des kackenden Beaches jemals wieder aus meinem Kopf bekomme.

„Die Konsistenz war recht geschmeidig“, teilt mir Beach dann auch noch mit. Verzweifelt laufe ich so schnell ich kann, damit ich ihn nicht mehr höre.

Nach gut zehn Kilometern und knapp 50 Minuten haben wir wieder das Appartement erreicht. „Das war gar nicht so schlecht“, lobt mich Beach. „Dir geht zwar der elegante Laufstil der Schafe ab, aber das Tempo war gar nicht mal soooo schlecht.“ Er macht eine kurze Pause. „Und wenn du das nächste Mal vorher aufs Klo gehst …“ Ich schlage die Wohnungstür vor seinem Gesicht zu.

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Später am Strand nutze ich die Sonne aus und lege mich auf ein Badetuch vor unseren Strandkorb, um mich ein wenig zu bräunen. Schließlich möchte ich nach drei Wochen nicht blasser als der Weiße Hai zurückkommen und die Leute denken, ich hätte meinen Urlaub in einer Souterrain-Wohnung in Reykjavik verbracht. Allerdings habe ich Angst, einzuschlafen und nach zwei Stunden rot wie der Anführer einer Hummer-Gang aufzuwachen.

Meine Sorge, auf dem Badetuch wegzudämmern, ist jedoch unbegründet. Einige Sandinsekten sind nicht damit einverstanden, dass ich mich in ihrem Revier breitmache. Irgendwie auch verständlich, ich wäre ja auch nicht begeistert, wenn sich ein fleischiger Riesenklops einfach in unsere Wohnung legen würde und den Boden vollschwitzt. Trotzdem nervt es kolossal, dass pausenlos irgendwelches Getier auf mir rumkrabbelt und rumzwickt. (Anscheinend habe ich doch noch nicht die letzte Stufe der Urlaubsentspannung erreicht.)

Schließlich kehren die Frau und die Tochter entspannt von ihrer Wellness-Behandlung zurück und der Sohn vom Surfkurs. Er ist jetzt stolzer Besitzer eines International Basic Licence Grundscheins. Wenn ich es richtig verstehe, erlaubt dieser ihm, sich Surfbretter auszuleihen und unter Aufsicht zu surfen. Und uns erlaubt er, dafür zu bezahlen.

Die Kinder wollen, dass ich mit ihnen ins Wasser gehe. Weil es im Nordseeboden nur so von spitzen Steinen, scharfkantigen Muscheln und angriffslustigen Krabben wimmelt und mich gestern irgendetwas schmerzhaft in den Fuß gepiekt hat, ziehe ich die Strandschuhe vom letzten Jahr an. Die kamen auf Sardinien zum Einsatz, um uns vor dem Petermännchen-Fisch zu schützen, der trotz seines niedlichen Namens ein äußerst unangenehmes Gift absondert und vor der sardischen Küste rumlungert. Mit diesen Schuhen strahlst du zwar die Erotik besoffener Oktoberfestbesucher, die sich eingenässt haben, aus, aber zumindest verhindern sie, dass irgendwelche Schalentiere, auf denen du versehentlich rumtrampelst, deine Füße in Fleischsalat Budapester Art verwandeln, was der Erotik ja auch nicht zuträglich ist.

Als ich es ins Meer geschafft habe, wollen der Sohn und die Tochter Wasser-Basketball gegen mich spielen. Mein Match gegen den Sohn geht mit 0:3 verloren (8:10, 9:10, 10:11), die Partie gegen die Tochter ist an Dramatik kaum zu überbieten und endet 2:3 (10:11, 9:10, 10:9, 13:12, 9:10). Aber ganz überraschend ist das ja auch nicht, wenn eine Partei quasi auf ein Scheunentor werfen darf, während die andere ein Ziel von der Größe einer Briefmarke treffen muss. Falls ich später etwas Zeit habe, kann ich ein paar Bilder und Grafiken zusammenstellen, die das für Sie ein wenig veranschaulichen.

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Gegen 16.30 Uhr zieht sich der Himmel bedrohlich zu und wir verlassen den Strand. In der Ferienwohnung angekommen dusche ich schnell, unterdessen besorgt die Frau im Supermarkt Sachen für das Abendessen. Unglücklicherweise gerät sie dabei in einen starken Regenschauer und wird pitschnass. Glücklicherweise führen wir aber eine gleichberechtigte Partnerschaft, so dass mir das nichts ausmachen muss. Anschließend essen wir Kuchen, den die Frau vorhin schon beim Bäcker gekauft hat. Auch da bin ich emanzipiert genug, dass mir das nichts ausmacht, dass ich mich einfach an den gedeckten Tisch setze.

Vor dem Abendessen spiele ich mit dem Gedanken ein paar Postkarten zu schreiben, verwerfe ihn aber wieder. Schließlich könnte morgen noch etwas Spannendes passieren, das auf den Postkarten Berücksichtigung finden sollte. Ich möchte mich nicht dem Vorwurf ausgesetzt sehen, wir würden bei unseren Urlaubsgrüßen relevante Informationen unterschlagen. (Stichwort „Fake Postkarten“).

Das Wetter hat sich auch nach dem Abendessen nicht gebessert. Es regnet und stürmt. Daher beschließen wir, Zuhause zu bleiben und einen Spieleabend zu machen. (Wenn man nicht schreibt „Wir machen einen Spieleabend mit einem befreundeten Paar.“, klingt das gar nicht so schlimm.)

Als erstes absolvieren wir eine Runde „Mensch ärgere dich nicht“, was in der 100-Spiele-Sammlung allerdings „Wer hat die 6?“ heißt. Der Tochter ist das egal und sie gewinnt. Anschließend kniffeln wir. Die Frau wirft als einzige heute Abend zwei Kniffel, alle anderen gehen leer aus, so dass auch die Tageswertung an sie geht. Ich kann allerdings den Rückstand in der Gesamtwertung auf die Tochter um 18 Punkte auf 286 verkürzen. Wenn das so weiter läuft, müssen wir nur noch 16 Tage hier bleiben, und dann habe ich sie eingeholt.

Beim Wegräumen der Spielesammlung entdeckt die Frau im Schrank Jenga und wir zeigen der Tochter und dem Sohn, wie das geht. Möglicherweise sind Sie jetzt genauso überrascht wie ich, aber wenn man das mit Kindern spielt, muss man, wenn man den Turm zum Einsturz bringt, gar keinen Schnaps trinken. Verrückt!

Bevor wir ins Bett gehen, erzählt jeder noch, was heute das Beste war:

  • Sohn: Als ich heute den Surfschein bekommen habe
  • Tochter: Die Kosmetikbehandlung
  • Frau: Die Kosmetikbehandlung
  • Ich: Der Streuselkuchen am Mittag

Gute Nacht!

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58 Kommentare zu “Föhr 2018 – Tag 18: Für eine Handvoll Schafköttel

  1. Eine Kosmetik / Wellness Behandlung nicht nur für die Frau, sondern auch für die Tochter? Das wäre der Moment, in dem ich mir sehr ernsthafte Sorgen über den Kontostand machen würde.

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