„Sind wir hier bei der Mehlsack-Challenge, oder was?“ Es ist 8 Uh, ich hänge an der Reckstange am Strand, und Beach Body motiviert mich, Klimmzüge zu machen. Beziehungsweise er tut das, was er für motivieren hält. Nach meiner Erfahrung der letzten Tage verfolgt er ein „Zuckerbrot und Peitsche“-Konzept, bei dem das Zuckerbrot durch eine Knute ausgetauscht wurde.
Falls Sie mal „Ein Offizier und Gentleman“ gesehen habe, erinnern sie sich vielleicht noch an den Ausbilder, der Richard Gere in dem Film drangsaliert. Im Vergleich zu Beach Body kann er als sanftmütiger, nachsichtiger und empathischer Mensch gelten.
Beach Body macht unterdessen Klimmzüge mit seinem linken Arm. Dabei schaut er zu mir rüber und singt „Hang on, Sloopy“. Anschließend lässt mich Beach noch Liegestütze (vorwärts und rückwärts), Sit-ups, Kniebeugen und Wandsitzen machen, bis ich wie ein sabbernder Lappen neben den Reckstangen liege.
Nachdem ich 60 Sekunden verschnaufen durfte, verkündet Beach Body enthusiastisch: „Zum Abschluss machen wir noch ein kleines Tempo-Läufchen zur Ferienwohnung.“ Ich schaue ihn ungläubig an. „Immer schön im aeroben Bereich, damit du noch ein paar Fettzellen verbrennst“, fährt er fort. „Sind ja genügend da.“ Beach Body lacht laut über seine eigene Bemerkung, dann sprintet er in Usain-Bolt-würdigem Tempo los.
Nach fünf Minuten erreiche ich die Ferienwohnung, wo Beach auf mich warten. „Hast du noch eine Insel-Rundfahrt gemacht oder warum hat das so lange gedauert?“, fragt er mich spöttisch. Bevor ich genügend Luft habe, um etwas zu antworten, hat Beach Body sich schon verabschiedet und zieht von dannen.
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Beim Bäcker kauft vor mir ein circa achtjähriger Junge fünf Korn Kracher. Als er der Verkäuferin das Geld gibt, schenkt sie ihm ein appetitlich aussehendes Mini-Brötchen. Das ist ja mal ein netter Service heute, denke ich. Als ich meine Camping-Wecken bezahlt habe, erwarte ich vorfreudig, ebenfalls ein Gratis-Brötchen angeboten zu bekommen. Aber Fehlanzeige. Die Frau wünscht mir einen schönen Tag und widmet sich der nächsten Kundin.
Unverschämtheit! Immerhin bin ich ein rechtschaffener Bürger, der brav Steuern zahlt, Sozialabgaben leistet und nicht die AfD wählt. Da sollte man doch meinen, dass ich mit Frei-Brötchen überschüttet werde. Aber nein, irgend so ein nichtsnutziges Gör, das nichts für die Gemeinschaft leistet, außer vielleicht niedlich auszusehen, staubt sie ab.
Der große Nachteil, wenn du ohne Kinder Urlaub machst? Du bekommst beim Bäcker keine Mini-Brötchen geschenkt.
— Familienbetrieb (@Betriebsfamilie) 26. Juli 2018
Die heutige Lektion lautet: „Wenn dir das Leben kein Gratis-Brötchen gibt, organisier‘ dir irgendein Kind, das eins bekommt.“ Allerdings könnte es zu Missverständnissen kommen, wenn ich als über 40-jähriger bärtiger Mann fremde Kinder auf der Straße anspreche. („Na, Kleiner, hast du Lust, auf ein kostenloses Brötchen? Dann komm‘ mal mit.“)
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Beim Frühstück essen die Frau und ich mit großem Genuss unsere Camping-Wecken. Dabei machen wir Schmatzgeräusche und stoßen wolllustige Laute aus, dass die Nachbarn wahrscheinlich denken, in unserer Wohnung wird ein Porno gedreht. Warum auch nicht? („Camping-Wecken der Lust“)
Das fände ich gar nicht so abwegig. Ich könnte mir beispielsweise auch einen Fetisch vorstellen, bei dem man sich in eine Badewanne voller Camping-Wecken legt und sich durch die Hefebrötchen futtert. Möglicherweise auch eine interessante Ü18-Marketingidee. Ich werde das morgen mal beim Bäcker vorstellen. Dann bekomme ich bestimmt doch noch ein kostenloses Brötchen.
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Bevor ich an den Strand gehe, verweile ich ein wenig am Pavillon an der Strandpromenade. Es ist nicht übertrieben, zu behaupten, dass dieser Pavillon der soziale und kulturelle Nukleus von Föhr ist, wo sich die Inselbewohner regelmäßig treffen. Dort gibt es beispielsweise täglich um 18 Uhr eine Gute-Nacht-Geschichte für Kinder. Als die Tochter und der Sohn noch kleiner waren und wir auf Föhr Urlaub gemacht haben, sind wir dort manchmal hingegangen. Ich fand das immer toll. Am liebsten würde ich da immer noch hingehen, aber ohne eigenes Kind ist das vielleicht nicht so empfehlenswert. (Stichworte „bärtiger Mann“, „fremde kleine Kinder“, „Missverständnisse“; siehe oben)
Die musikalischen Höhepunkte des Tages sind die Auftritte der Kur-Kapelle „Rivieras“, die fast jeden Tag um 11 und um 15 Uhr im Pavillon aufspielen. Die „Rivieras“ sind eine sechsköpfige Combo, bestehend aus Gitarrist, Bassist, Keyboarder, Saxophonist und Schlagzeuger – allesamt Männer zwischen Ende 40 und Anfang 60 – sowie einer recht gut aussehenden Sängerin, die wesentlich jünger als ihre Kollegen ist. (Möglicherweise rührt daher auch ihre relative Attraktivität, denn die anderen Musiker sehen nicht gerade aus, als würden sie auf dem nächsten „Men’s Health“-Cover abgebildet.)
Der Bandleader spricht einen starken osteuropäischen Akzent, was es nahezu unmöglich macht, seine Ausführungen zwischen den Liedern zu verstehen. Die ganze Zeit warte ich darauf, dass aus dem Off eine Stimme wie bei der „Sendung mit der Maus“ erklingt, die sagt „Das war ungarisch.“ Und danach den Text übersetzt.
Nachdem ich dem Auftritt der „Rivieras“ beigewohnt habe, bin ich ein großer Fan von ihnen. Gemeinhin gilt Slayer als die härteste Band der Welt, aber das kann nur behaupten, wer die „Rivieras“ nicht kennt. Ich habe noch nie eine Band gesehen, die so um ihr Publikum kämpft wie die Föhrer Kur-Kapelle. Die Zuhörerinnen- und Zuhörerzahl schwankt zwischen 1 (Ich) und rund 25 (inklusive eines Golden Retrievers, der unter einer der Zuschauerbänke sitzt), wobei es eine recht starke Fluktuation gibt. Das ist eigentlich unverständlich, bieten die „Rivieras“ doch Spaß von 1 bis 99 Jahre (zumindest fast). Allerdings nicht für 30- bis 40-jährige, denn aus dieser Altersgruppe bin ich der Einzige. Der Rest sind Großeltern mit ihren Enkelinnen und Enkeln. Es sind auch nicht alle im Publikum hundertprozentig bei der Sache. Da wird Zeitung gelesen, Kreuzworträtsel gemacht, sich dem Eisbecher gewidmet oder ein Schwätzchen gehalten.
Die „Rivieras“ lassen sich dadurch aber nicht entmutigen. Mögen die Bandmitglieder auch nicht immer ganz text-, rhythmus- und tonsicher sein, so bemühen sie sich doch aufopferungsvoll um ihr Publikum. Selbst als zwischendurch außer mir niemand zuhört, performt die Band, als spiele sie gerade im ausverkauften Madison Square Garden in New York. Es sind halt Vollblut-Musiker. Oder sie haben zum Frühstück Weinbrandbohnen gegessen, um den Auftritt durchzustehen.
Die Vielfältigkeit des „Rivieras“-Repertoires sucht in der heutigen Musikwelt seines Gleichen. Da können sich die Lady Gagas, Kanye Wests, Justin Biebers, Beyoncés und wie sie alle heißen, eine Scheibe abschneiden. Es reicht von Paul-Anka-Schnulzen („Love is in the air“) über Julio-Iglesias-Easy-Listening, Disco-Pop à la Kylie Minogue und Deutschem Andrea-Berg-Schlager bis hin zu Deep-Purple-Hardrock. Die „Rivieras“ sind quasi die menschgewordene Shuffle-Playlist eines Menschen mit einem sehr grenzwertigen Musikgeschmack.
Die dankbarsten Zuhörerinnen und Zuhörer sind einige kleine Kinder sowie eine Gruppe geistig behinderter Erwachsener. Die gehen bei jedem Lied vollkommen selbstvergessen mit und scheren sich dabei nicht darum, ob es sich um einen Song von Luis Fonsi, Roland Kaiser oder Helene Fischer handelt.
Gegen Mitte des Auftritts entern fast ein paar ein- bis zweijährige Kinder die Bühne. Es ist nicht ganz klar, ob sie mit der Musikauswahl doch nicht ganz einverstanden sind, oder einfach nur Stage Diving machen wollen. In letzter Sekunde werden sie von ihren Eltern wieder eingesammelt. Passenderweise spielen die „Rivieras“ in diesem Moment „Griechischer Wein“, so dass die ganze Szenerie an ein Udo-Jürgens-Konzert erinnert, bei dem in der zweiten Hälfte immer fußlahme Seniorinnen die Security-Leute überrannten und den österreichischen Sänger mit Blumen und zeltartiger Unterwäsche bewarfen.
Ihren Auftritt beenden die „Rivieras“ nach 90 Minuten mit Gloria Gaynors „I will survive“. „We have survived“ wäre vielleicht passender gewesen.
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Nach meinem Ausflug in die Föhrer Hochkultur gehe ich an den Strand. Dort ist auch heute wieder der glühend heiße Sand das Gesprächsthema Nummer 1. Die Sandtemperaturen sind so hoch, dass es nicht einmal möglich ist mit Flip-Flops über den Sand zu laufen, da die Sohlen sofort wegschmelzen. Die häufigsten Sätze am Strand sind daher: „Heiß, heiß, heiß!“, „Au, au, au!“ und „Fuck, fuck, fuck!“ (Letzteres nur so lange die Frau und ich da sind.)
Im Strandkorb rechts von uns ist heute großer Bahnhof angesagt. Der Anwalt, der im Übrigen Frank* heißt, wie wir heute erfahren (*Name von der Redaktion geändert), hat Geburtstag. Sein genaues Alter bekommen wir nicht mit, aber aufgrund seines Äußeren schätze ich, dass er ungefähr 20 Jahre älter ist als wir. Damit müsste er 51 oder 52 geworden sein.
Immer wieder kommen Menschen an seinem Strandkorb vorbei, um ihm zu gratulieren. Es wundert mich , dass sich die gesamte Strandkorb-Kommune nicht irgendwann versammelt, um ihm ein gemeinschaftliches „Happy Birthday“ zu singen. Aber vielleicht findet das später statt, wenn ihm der Bürgermeister zusammen mit der Wyker Feuerwehrkappelle einen Besuch abstattet, um im Namen der Inselverwaltung zu gratulieren.
Das Rätsel um die Beinverletzung unseres Strandkorbnachbarn zur Linken wird heute auch vermeintlich gelöst. Angeblich eine bakterielle Infektion, die beim Baden in einer bereits vorhandenen kleinen Wunde entstanden ist. Ich glaube, das entspricht aber nicht der Wahrheit. Vielmehr gehe ich davon aus, dass er von einem aggressiven Kraken attackiert wurde, der ihn unter Wasser gezogen und ihm dabei fast das Bein abgerissen hat. Wenn sich aber rumspricht, dass ein gefährlicher Oktopus sein Unwesen vor der Föhrer Küste treibt, wirkt sich das sicherlich nicht positiv auf die Besucherinnen- und Besucherzahlen auf der Insel aus. Daher hat der örtliche Fremdenverkehrsverband dem Mann ein üppiges Schweigegeld bezahlt, damit er die Krakengeschichte für sich behält und dafür diese absurde Erklärung von der „bakteriellen Infektion“ rumerzählt. Aber nicht mit mir! Dank meiner investigativen Phantasie wird sich diese Fake News nicht verbreiten.
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Im Laufe des Nachmittags nimmt die Hitze immer weiter zu. Fast 30 Grad im Schatten und kaum Wind. Obwohl ich mich kaum bewege und nur vor unserem Strandkorb liege, bilden sich auf meinem ganzen Körper Schweißperlen, die in der Sonne glitzern. Für die anderen Strandbesucher sehe ich wahrscheinlich wie ein Davidoff-Cool-Water-Model aus, das sich im Meer räkelt. Oder wie ein gestrandeter Wal, der von Greenpeace-Aktivisten mit Wasser übergossen wird, damit er nicht vertrocknet. Beide Assoziationen sind möglich. (Anmerkung der Redaktion: Nein.)
Irgendwonn schaffe ich es doch über den heißen Sand ins Meer. Mein Einstieg ins kalte Wasser gelingt heute schon etwas souveräner als noch gestern. Vom Peinlichkeitslevel nicht mehr „Nackt Karaoke singen“, sondern nur noch „Ohne Hose zum Vorstellungsgespräch“ erscheinen. Das lässt für die nächsten Tage hoffen.
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Als wir nach Hause gehen, beschließen die Frau und ich, heute nicht Einkaufen zu gehen, um unser Konto ein wenig zu entlasten. Stattdessen gehen wir essen. Für Sie erscheint das vielleicht unlogisch, aber wenn Sie den ganzen Tag in der Sonne gesessen hätten, könnten Sie die Rationalität hinter unserer Entscheidung verstehen.
Gute Nacht!
P.S.: Das obligatorische Kniffeln lassen wir heute Abend aus. Die Frau wird zwar möglicherweise behaupten, sie hätte alle drei Runden gewonnen und das mit einem Gesamtvorsprung von mehr als 140 Punkten, aber der sollten Sie nichts glauben. (Stichwort „Zu lange in der Sonne gesessen“)
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Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Im September erscheint sein neues Buch “Papa braucht ein Fläschchen”. Ebenfalls mehr als zu empfehlen sind “Hilfe, ich werde Papa! Überlebenstipps für werdende Väter”, “Ein Vater greift zur Flasche. Sagenhaftes aus der Elternzeit” sowie “Wenn’s ein Junge wird, nennen wir ihn Judith”*. (*Affiliate-Links)
JESSAS, die spielen tatsächlich 90 Minuten?????
So lange haben wir es noch nie ausgehalten.
Gut, wir sind eh in Nieblum. Aber wenn wir vormittags mal bummeln, vermeiden wir mittlerweile die Zeit ab 11 Uhr *hüstel*. Wir konnten immerhin aber schon feststellen, dass das Repertoire täglich dasselbe ist.
Hilfe.
Das Repertoire mag täglich das Gleiche sein, aber ich glaube, es wird jeden Tag neu durchgemischt. Nach welchem Algorithmus auch immer.
Ottos Inselpredigt verdeutlicht den Appelcharakter deines Blogs: Formosat mehr! https://youtu.be/5KHHRpBja50
Na prima! Ab sofort habe ich bei der Nennung von Beach Body nur noch Louis Gossett jr. in einer optisch-charakterlichen Mischung aus Ausbilder Sgt. Foley und dem Drac Jeriba vor Augen. Wer weiß, wofür das in den nächsten Wochen noch gut sein wird.
Was mich allerdings viel mehr und immer wieder schockiert, ist, dass der Herr Blogbetreiber nicht nur Titel von so sogenannten Künstlern, wie Paul Anka, Julio Iglesias, Kylie Minogue und Andrea Berg nicht nur benennen, sondern auch unterscheiden kann. Dass er, entgegen 95% der hiesigen Bevölkerung, den Despacito-Sänger sogar mit Namen kennt, macht es auch nicht besser.
Immerhin kennen wir nun den Grund für das weidwunde Bein:
Ein saugnapfbewehrtes Tiefseemonster mit bakteriellem Ausschlag.
Klingt auch für mich völlig schlüssig, gibt es doch genug Beispiele von Pottwalen, die entsprechende Kampfspuren davontrugen.
Als Nichturlauber könnte ich ja einen diesbezüglichen öffentlichen Gastkommentar auf der Föhrer Tourismus-Homepage formulieren. Ich überleg´s mir noch…
Sollte es heute übrigens wieder so heiß im Schatten sein: Einfach raus aus dem Schatten!
Bitte, gerne.
Zugegebenermaßen musste ich mir den Despacito-Sänger ergoogeln. Dafür gibt es ja das Internet. Möglicherweise.
Joggen und Krafttraining mitten in der Nacht, zum Frühstück nur Süsskram und dann sich den ganzen Tag am brüllend heißen Strand langweilen? Wann beginnt denn der Urlaub?
Ne, Spaß beiseite. Das wäre zwar echt nicht mein Ding, aber es ist doch schön, wie sich die Geschmäcker unterscheiden. Als die Kinder noch klein waren, sind wir auch öfter an der Nordsee gewesen. Und ich gehe auch nur mit Kindern an den Strand, damit ich hemmungslos matschen und buddeln kann. Leider hatten die Kinder meistens keine Lust, Neuschwanstein in Originalgröße nachzubauen.
Ich wundere mich aber, dass einige der absoluten Highlights eines jeden Nordseeurlaubs Erwähnung fanden: Nordseekrabben zum selber pulen und Räucherfisch z.B. Und Bier! wo bleibt das Bier?
Krabben puhlen kommt noch, wenn die Kinder dann bald da sind. Und Bier auch. Aber nicht für die Kinder. Außer Malzbier.