Für heute haben wir uns eine Wattwanderung nach Amrum und einen Tag auf der Nachbarinsel von Föhr vorgenommen. Daher klingelt um 7.05 Uhr in der Frühe schon der Wecker.
Einen klingelnden Wecker und dazu auch noch um 7.05 Uhr, das möchte man im Urlaub eigentlich nicht. Entsprechend ist die Stimmung bei uns im Ferienappartement nicht gerade ausgelassen. Eher so wie in der Kabine der deutschen Nationalmannschaft nach dem 0:2 gegen Südkorea. Auch parliert die Familie heute früh nicht so eloquent, wie sie es sonst zu tun pflegt. Es werden lediglich ein paar Kommandos gebellt („Zähne putzen!“, „Eincremen!“, „Toilette!“), ansonsten ist die Kommunikation eher sparsam. Wenn heute die Rolle „mürrische Familie“ zu besetzen ist, sind wir ganz vorne dabei.
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Um kurz nach acht warten wir im Hafen auf den Bus, der uns nach Dunsum, ein kleiner Ort an der Westküste Föhrs, bringen soll, wo die Wattwanderung los geht. Wir essen erstmal jeder eine Camping-Wecke. Das bringt gute Laune und Energie für den Fußmarsch durchs Watt von rund acht Kilometern. (Okay, kalorisch bringt eine Camping-Wecke genügend Energie, um die Erde entlang des Äquators zu umrunden, aber vielleicht verlaufen wir uns heute im Watt und dann sind wir auf jeden Fall gewappnet.)
Außer uns warten rund 50 weitere Personen auf den Bus. Unsere Schicksalsgemeinschaft für den heutigen Vormittag. Darunter sind andere Eltern und Großeltern mit ihren Kindern beziehungsweise Enkelinnen und Enkeln, schon etwas ältere Ehepaare vom Typ pensionierte Studienräte (Fächerkombination Erdkunde, Geschichte und Biologie), die stets bereits sind, als Fragen getarnte Co-Referate über die Flora und Fauna des Wattenmeers zu halten, sowie Paare mit durchtrainierten, sehnigen Körpern, deren sonnengegerbte Haut, Sportsandalen und Funktionskleidung, die ebenso praktisch wie ästhetisch fragwürdig ist, sie als erfahrene Trekking-Urlauber ausweisen.
Als der Bus schließlich losfährt, begrüßt uns die Wattführerin für den heutigen Tag. Sie ist schon etwas älter, aber aufgrund der vielen Zeit, die sie in der freien Natur verbringt, ist ihr exaktes Alter schwer einzuschätzen. Vor vielen Jahrzehnten ist sie aus Franken nach Föhr gekommen und spricht einen drolligen fränkisch-norddeutschen Dialekt. Unsere Wanderung wird also quasi von Lothar Matthäus und Uwe Seeler in Personalunion kommentiert.
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In Dunsum angekommen, geht es erst einmal oben auf dem Deich entlang. Neben uns läuft eine Gruppe von Schafen, die sich anscheinend beim Morgen-Yoga gestört fühlt und blökend protestiert. Es gibt ja kaum ein Geräusch, das sich dämlicher anhört als das Blöken von Schafen. (Eine Ansprache von Donald Trump mal ausgenommen.) Daher müssen die Frau, die Kinder und ich bei jedem Blöken der Schafe lachen. Und zwar zehn Minuten lang, bis wir die Stelle erreichen, wo es ins Watt geht. Wenn heute die Rolle „einfach gestrickte Familie“ zu besetzen ist, sind wir ganz vorne dabei.
Schließlich geht die Wattwanderung los. Gleich zu Beginn rutscht ein etwas übermotivierter Mann aus und landet auf dem Hosenboden. (Nein, nicht ich, dann hätte ich wohl kaum das Adjektiv „übermotiviert“ zur Beschreibung des Mannes verwendet.) Er steht aber sofort souverän wieder auf und stiefelt los, als sei nichts passiert. („Bitte gehen Sie weiter, es gibt hier nichts zu sehen.“)
Ich mag es, im Watt zu laufen. Und das obwohl ich immer ein wenig Angst habe, in etwas Scharfes wie Muschelstücke oder Austern zu treten, und der matschige Schlick ruft bei mir Zivildiensterinnerungen hervor, die sich um Stuhlproben Durchfall geplagter Patienten drehen. Aber ich liebe die kleinen Sandhäufchen, die von den Wattwürmern ausgeschieden werden und überall auf dem Watt rumliegen. Wenn man mit dem Fuß auf die Häufchen tritt, macht das ein lustiges Gefühl, und außerdem sehen sie ein wenig aus wie Spaghetti-Eis. Ja, ich bin so verfressen, dass ich bei Wattwurm-Kacke an Essen denke. Jetzt ist es raus.
Die Wattführerin hält zwischendurch immer mal wieder an und erzählt etwas über Krabben, Krebse, Muscheln, Austern, Würmer und das faszinierende Ökosystem des Watts. Muscheln filtern beispielsweise das Meerwasser, sie sind laut der Wattführerin quasi die Kläranlage des Meeres. Und für die Menschen sind sie eine Delikatesse. Da ist dann meine Spaghetti-Eis-Assoziation bei den Wattwurm-Häufchen auf einmal gar nicht mehr so bizarr.
Die Erklärungen der Wattführerin machen die Wanderung sehr lehrreich. Gewissermaßen „Die Sendung mit der Maus to go“. Das Einzige, was nervt, sind ein paar neunmalkluge Kinder, die bei jeder Frage der Führerin um die richtige Antwort wetteifern. Wenn Sie sich an den Klassenschleimer von früher erinnern, der regelmäßig in den Mülleimer gesetzt wurde, wissen Sie, wovon ich schreibe.
Bei einem Jungen, der sich permanent in den Vordergrund drängt, verliere ich fast die Beherrschung und bin kurz davor, ihn anzuherrschen, er solle sich mal entspannen, wir seien schließlich nicht in der Schule und es gäbe hier keine Noten. Vielleicht irre ich mich aber auch und wenn ich hier unangenehm auffalle, erhalten meine Eltern von der Wattführerin einen Brief, in dem es um meine mangelhafte Sozialkompetenz geht. Also bleibe ich lieber still.
Einer der ex-Studienräte entdeckt eine riesige Qualle und hält einen kurzen Vortrag über die unterschiedlichen Quallenarten, die es so gibt. Die Tochter und der Sohn berühren die Qualle kurz und stoßen laute “Iiiih”-Schreie aus, die bis Sylt zu hören sind. (Möglicherweise sogar bis Kopenhagen.) Ich selbst ekle mich vor dem gallertartigen Wesen und fasse es gar nicht erst an. Wenn heute die Rolle „Stadtfamilie stellt sich in der Natur mimosenhaft an“ zu besetzen ist, sind wir ganz vorne dabei.
Nachdem wir schon ziemlich lange unterwegs sind, hält die Wattführerin kurz an und erklärt: „Jetzt haben wir ungefähr die Hälfte geschafft. Können Sie alle noch?“ Die ganze Wattwandergruppe ruft enthusiastisch: „Ja!“ Die ganze Wattwandergruppe? Nein! Ein einzelner Wanderer erleidet ob der Aussicht noch zwei Stunden durchs Watt zu latschen fast einen Nervenzusammenbruch.
Vor allem bekomme ich allmählich Hunger. Auch die Frau und die Kinder finden, dass eine kleine Stärkung nicht schlecht wäre. Wir haben aber nichts dabei, weil wir naiv dachten, unsere Camping-Wecken würden uns bis Amrum reichen. Wenn man aber die ganze Zeit an der frischen Luft durchs Watt tigert, ist so eine Camping-Wecke am Morgen anscheinend doch nur etwas für den hohlen Zahn. Ich ermutige die Kinder, Wasser zu trinken, das fülle den Magen und dann wären sie nicht so hungrig, glaube aber selbst nicht daran.
Die Kinder lenken sich ab, indem sie singen. „Singende Kinder“ hört sich ja erstmal ganz reizend und harmlos an. Es sind aber Lieder von Justin Bieber, Cro und Mark Foster. Die Frau und ich halten deswegen ein wenig Abstand von den beiden und hoffen, dass die anderen Wattwanderinnen und -wanderer denken, die Kinder gehören doch nicht zu uns.
Nach ungefähr drei Stunden Wanderung müssen wir um kurz nach zwölf zum krönenden Abschluss noch einen knietiefen Priel mit starker Strömung durchwaten. Dann gibt es noch einen weiteren Zehn-Minuten-Marsch über den nassen Sand und schließlich haben wir das Ziel erreicht. Unsere Mägen knurren inzwischen so laut, als würde in den Dünen ein Rudel hungriger Wölfe lauern.
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Zum Abschied erklärt die Wattführerin, dass gut 30 Minuten zu Fuß entfernt Norddorf läge, wo es köstliche Krabbenbrötchen und Waffeln gäbe. Eine halbe Stunde Fußweg, um an Nahrung zu gelangen, hört sich für uns alles andere als attraktiv an.
Dazu müssen Sie wissen, dass die Frau und die Kinder, wenn sie hungrig sind, sehr unleidlich werden. Ich selbst ertrage Hunger dagegen sehr würdevoll. Wie ein indischer Asket, der sich 80 Tage nur von einem Glas Wasser ernährt. Der Rest der Familie verwandelt sich bei Hungerattacken dagegen in eine Gruppe gewaltbereiter Hooligans, die nach einem verlorenen Auswärtsspiel auf dem Weg zum Bahnhof die komplette Innenstadt zerlegen. Die Frau und die Kinder werden Ihnen das allerdings nicht bestätigen. Wenn sie unterzuckert sind, können sie aber auch keinen klaren Gedanken fassen.
Mürrisch und wortlos marschieren wir gen Norddorf. Dort müssen wir feststellen, dass die Cafés und Restaurants alle heillos überfüllt sind. Als wir in einem Bistro doch noch vier Plätze ergattern, warten wir fast eine Viertelstunde, ohne dass eine Bedienung erscheint. Da zu befürchten ist, dass jede Minute einer von uns einen Stuhl ins Schaufenster wirft, um die Aufmerksamkeit der Kellnerin zu wecken, beschließen wir, besser in einen Supermarkt zu gehen und dort irgendetwas zu essen zu holen. Wie eine Horde marodierender Wikinger stürmen wir kurz danach durch die Gänge eines kleinen Edekas und werfen Brötchen, Würstchen, Käse, Frikadellen, Oliven, diverse Aufstriche und Getränke in unseren Einkaufskorb.
Anschließend setzen wir uns in einen kleinen Park und picknicken. Bei Picknick haben Sie möglicherweise das Bild einer feinen englischen Gesellschaft vor Augen, die in Hampstead Heath ihren Tee einnimmt, der ihnen von livrierten Bediensteten gereicht wird. Diese Assoziation ist bei uns nicht ganz zutreffend. Wir sehen eher aus wie Bud Spencer, wenn er Bohnen direkt aus der Pfanne frisst.
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Frisch gestärkt entscheiden wir, d.h. die Frau und ich, dass wir jetzt zum Strand gehen. Die Tochter ist davon wenig angetan, beträgt die Entfernung dorthin nämlich mehr als einen Kilometer. Die Frau fragt, ob wir stattdessen lieber hier zwei Stunden abhängen sollen, bis der Bus Richtung Hafen abfährt. Danach muss sie der Tochter dann erklären, was eine rhetorische Frage ist.
Der Weg zum Strand ist trotz – oder wegen – unserer gefüllten Bäuche zwar etwas mühselig, aber er lohnt sich. Der Sand dort ist traumhaft weiß und von so feiner, pudriger Konsistenz, dass kolumbianische Drogenkartelle vor Neid erblassen.
Außerdem ist der Strand mit einer Gesamtgröße von rund zehn Quadratkilometern sehr, sehr weitläufig. Das verspricht zwar Privatssphäre, aber dadurch ist es recht schwierig, an den Unterhaltungen der anderen Strandbesucherinnen und -besucher teilzuhaben. Beispielsweise hätte ich schon gerne gewusst, welchen Beruf die junge Frau, die mit ihrer Mutter und ihrem zweijährigen Sohn in Strandkorb 499 sitzt, ausübt, wo sie herkommt, wie lange sie schon auf Amrum weilt, ob sie geschieden ist oder ihr Mann lediglich mit einer Fischvergiftung im Ferienhaus bleiben musste und so weiter. Sie halten das vielleicht für neugierig und übergriffig, aber ich interessiere mich nun mal für meine Mitmenschen. Reden möchte ich aber trotzdem nicht mit ihnen.
Wenigstens finde ich im Laufe des Nachmittags noch heraus, dass die Frau gerne liest, zumindest tut sie das während der gesamten 90 Minuten, die wir am Strand sind, ihre Mutter gerne Wasser aus dem Meer holt, zumindest tut sie das während der gesamten 90 Minuten, die wir am Strand sind, und ihr Sohn gerne Sand isst, zumindest tut er das während der gesamten 90 Minuten, die wir am Strand sind.
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Gegen halb vier müssen wir los, um den Bus zur Fähre zu erreichen. Mit uns fährt in dem ziemlich vollen Bus eine Familie mit drei Jungs im Alter von ungefähr fünf, acht und zehn, die, sagen wir es vorsichtig, „ein wenig lebhaft“ sind. Sie sind chaotisch, wild und überdreht, wie Kinder nun einmal sind, wenn sie den ganzen Tag unterwegs waren. Mit großem Geschrei versuchen sie, sich gegenseitig zwischen die Beine zu hauen, was, um ehrlich zu sein, ein wenig nervig ist. Ich denke mir aber, zwanzig Minuten mit den Dreien im Bus mag zwar anstrengend sein, ist aber nichts dagegen, was ihre Eltern durchmachen müssen, wenn sie sie heute Abend ins Bett bringen müssen. Ein Gedanke, der mich sehr entspannt und das Gelärme der Jungs ganz einfach ertragen lässt.
Etwas später sitzen wir dann auf der Fähre, die kurz nachdem sie losgefahren ist, noch einmal umkehren muss. Ein paar Passagiere sind im Hafen auf das falsche Schiff gegangen und müssen nun noch abgeholt werden. Die anderen Fahrgäste nehmen das mit nur mäßiger Begeisterung auf. So ähnlich muss damals die Stimmung auf der Bounty kurz vor der Meuterei gewesen sein.
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Nach dem Abendessen kniffeln wir noch. Die Tochter wirft zwei Kniffel in einer Runde, bei mir reicht es nur zu einem Kniffel der Herzen. Der Sohn gewinnt die letzte Runde und feiert dies mit Jubelposen, von denen Cristiano Ronaldo sich noch etwas abschauen könnte. Der Tagessieg geht an die Tochter, die Gesamtführung übernimmt die Frau.
Vor dem Zubettgehen erzählt noch jede/r, was heute am besten war:
- Sohn: Das Schlafen auf der Fähre nach Hause
- Tochter: Die zwei Kniffel und die gewonnene Kniffelrunde
- Frau: Das Laufen auf dem weichen Sand am Amrumer Strand
- Ich: Das Zuschauen wie ein Wattwurm ein Watthäufchen produziert hat
Gute Nacht!
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Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Im September erscheint sein neues Buch “Papa braucht ein Fläschchen”. Ebenfalls mehr als zu empfehlen sind “Hilfe, ich werde Papa! Überlebenstipps für werdende Väter”, “Ein Vater greift zur Flasche. Sagenhaftes aus der Elternzeit” sowie “Wenn’s ein Junge wird, nennen wir ihn Judith”*. (*Affiliate-Links)
Vielen Dank für den Tipp!
Wir hatten wohl ein ähnliches Föhrienprogramm 😎
Mein Mann sagte übrigens am letzten Urlaubstag beim Bäcker, dass ich ihn immer als sein drittes Kind bezeichne und schwupp hatte er das Kinderbrötchen in der Hand 😉
Ein pappsüßes Brötchen als “Frühstück” und dann wandern gehen. Was kann da schon schiefgehen? Abgesehen davon, dass “Wecker um 7:05” schon zu Krawallen und Ausschreitungen führen würde. Völlig zu Recht übrigens.
Bin aber erstaunt, dass die Kinder das mitmachen. Meine Tochter wäre nicht mitgegangen, weil wandern. Und der Sohn nicht wegen der vielen Leute, der alte Misanthrop.
(Donnerstag früh 8:56 Uhr)
OMG – Ich öffne “Familienbetrieb” um die Hitze im Büro mit Humor und Kurzweiligkeit zu vertreiben… und nun? Wo ist Tag 10!?
…. jetzt weinen wir alle :-)
Aus gegebenem Anlass war der Bericht von gestern heute etwas später. Aber hier ist er jetzt: https://www.familienbetrieb.info/foehr-2018-tag-10-eine-nacht-am-meer/
Da ich selber jedes Jahr nach Föhr fahre, kann ich mir ganz genau vorstellen, wo Ihr seid und was Ihr macht, es ist herrlich geschrieben, ich freue mich schon auf Morgen ….
Vielen Dank, das freut mich.
Da haben wir uns knapp verpasst … komme gerade zurück von Amrum und ’ner Woche Norddorf (Strandkorb 650, keine Nachbarn weit und breit) und wir haben übrigens in jenem Strandkorb mit lautem Lachen Eure Föhrberichte gelesen. :D
Den pudrigen Sand am Norddorf-Strand auf Amrum fand ich wirklich sensationell, das Wasser finde ich dagegen auf Föhr etwas weniger algenlastig. (Ich weiß, das ist wie das Jammern, dass das goldene Löffelchen im Hals kratzt.)
Witzig, wir haben die Wattwanderung am selben Tag gemacht, allerdings mit dem legendären Herrn Fischer, der im Anschluss noch durch die Amrumer Dünenlandschaft und zum Leuchtturm führt….
Eine Wattwanderung mit Herrn Fischer haben wir auch noch eingeplant. Sonst ist es kein Föhr-Urlaub, wenn man nicht einmal von ihm durchs Watt geführt wurde.