Gespräche mit dem Tod (14): Die Silvesterparty

Es ist Samstagabend, kurz nach halb elf. Der Rest der Familie liegt bereits im Bett, ich bin damit beschäftigt, den Weihnachtsbaum abzuschmücken. Eine Tätigkeit, die mich immer ein wenig betrübt, weil damit die besinnliche Zeit endgültig vorbei ist, so dass einen nur noch ein paar angefutterte Pfunde und der zwickende Hosenbund an die Feiertage erinnern. Es ist außerdem eine Tätigkeit, die nicht ganz ungefährlich ist, muss ich doch zum Abhängen des Schmuckes in den oberen Zweigen auf unsere wackelige Klappleiter steigen.

Als ich auf der obersten Sprosse stehe und mich auf einem Bein balancierend in den Baum neige, um das kleine rote Metallvögelchen zu entfernen, das bei uns traditionell auf der Baumspitze sitzt, klopft es plötzlich an die Balkontür. Auf dem Balkon steht eine hochgewachsene hagere Gestalt in dunkler Kutte mit hochgeschlagener Kapuze, die ihr fahles Gesicht zur Hälfte bedeckt. Ich überlege, ob an den Gerüchten über den Serienmörder, der angeblich in Moabit sein Unwesen treiben soll, doch etwas dran ist, als die Gestalt die Kapuze zurückstreift und mich fröhlich anlacht. Es ist mein alter Freund, der Tod.

Der Tod.

Mit seiner Sense macht sich der Tod an der Balkontür zu schaffen, um sie zu öffnen. Hektisch winkend will ich ihn davon abhalten, denn der Baum steht direkt vor der Balkontür und würde durch das Öffnen unweigerlich umkippen. Und die klapprige Leiter samt mir gleich mit.

Der Tod winkt enthusiastisch zurück: „Du kannst es ja gar nicht erwarten, dass ich reinkomme“, ruft er durch die Scheibe. „Bin gleich drin!“ Mit diesen Worten drückt er die Tür auf. Wie befürchtet, geraten Baum und Leiter ins Schwanken und ich falle hinunter. Gerade als ich denke, ich hätte doch besser diese Patientenverfügung ausgefüllt, die seit Monaten mahnend auf meinem Schreibtisch liegt, fängt mich der Tod im letzten Moment auf.

„Meine Güte, was machst du denn für Sachen“, sagt er lachend. „Willst dich wohl mal in den Tod stürzen.“ Er kichert über seinen eigenen Scherz.

Ich atme tief durch und warte darauf, dass mein Puls wieder in Normalgeschwindigkeit schlägt. „Daraus wird aber nichts“, erklärt der Tod. „Ich habe nämlich Feierabend für heute.“

Kritisch mustert er den halb abgeschmückten Weihnachtsbaum. „Was für ein deprimierender Anblick“, sagt er. „Lass uns mal lieber in die Küche gehen.“

In der Küche setzt sich der Tod an den Esstisch und fragt: „Hast du irgendetwas zu trinken, damit wir auf 2018 anstoßen können?“

„Ich wollte im neuen Jahr eigentlich weniger Alkohol trinken“, erkläre ich ihm.

Der Tod schaut mich missbilligend an.

„Ich habe aber eine Kanne Yogi-Tee aufgebrüht“, erzähle ich. „Möchtest du eine Tasse?“

„Alter! Du trinkst Yogi-Tee?“, fragt der Tod in einer Mischung aus Entsetzen und Verachtung. „Dein innerer Punk liegt wohl im Koma!“

„Ich hab‘ den Tee halt zu Weihnachten geschenkt bekommen“, rechtfertige ich mich. „Und der schmeckt auch gar nicht so schlecht.“

„Eselsurin schmeckt auch gar nicht so schlecht“, entgegnet der Tod. „Nach einem Atomschlag, wenn es gar nichts anderes zu trinken gibt.“

„Du wirst doch wohl irgendetwas Alkoholisches im Haus haben“, hakt der Tod nach. „Whisky zum Beispiel.“

„Ich mag keinen Whisky“, erkläre ich.

„Du magst keinen Whisky?“ Der Tod reißt fassungslos die Augen auf. „Und so eben wurde dein innerer Punk für klinisch tot erklärt.“ Um seiner Aussage Nachdruck zu verleihen, macht der Tod eine flache Bewegung mit seiner linken Hand und stößt einen monotonen Pfeifton aus.

Da er nicht aufhört zu pfeifen, gehe ich an den Kühlschrank und inspiziere unsere Getränkevorräte.

„Wir haben noch eine Flasche Wermuth“, schlage ich vor.

„Das hört sich doch schon viel besser an“, ruft der Tod. „Er lebt wohl doch noch, dein innerer Punk. Oder ist es der alte Holzmichl?“ Der Tod lacht und haut sich auf die Schenkel.

Ich hole zwei Gläser, bestücke sie mit Eis und einer Scheibe Zitrone und befülle sie dann mit dem Wermuth. Unterdessen entsorgt der Tod den Inhalt der Kanne Yogi-Tee. Dabei murmelt er etwas von „Freundschaftsdienst“ und „jeden Tag eine gute Tat“.

Schließlich setzen wir uns wieder hin und stoßen an.

„Auf ein frohes Neues!“, sagt der Tod und prostet mir zu. „Möge es dir und deinen Lieben Gesundheit, Glück und Zufriedenheit bringen.“

„Dein Wort in Gottes Ohr“, erwidere ich.

„Ich werde es ihm ausrichten“, antwortet der Tod.

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Der Tod nimmt einen großen Schluck Wermuth und schmatzt darauf herum. „Nicht schlecht“, sagt er mit wohlwollendem Nicken und leert den Rest seines Glases in einem Zug.

„Und, was habt ihr so an Silvester gemacht?“, will er wissen, während ich uns nachschenke.

„Wir haben wie jedes Jahr mit unseren Freunden gefeiert“, antworte ich. „Und wie immer gab es Raclette.“

„Spannend“, sagt der Tod und gähnt demonstrativ.

Ich ignoriere sein zur Schau gestelltes Desinteresse. „Und die Zeit bis Mitternacht haben wir uns mit Gesellschaftsspielen vertrieben.“

„Mit Strip-Poker?“, fragt der Tod neugierig.

„Natürlich nicht“, entgegne ich entrüstet. „Das sind alte Schulfreunde von mir, mit denen wir seit über 20 Jahren gemeinsam Silvester verbringen.“

„Na und“, antwortet der Tod. „Das ist doch kein Grund, sich am letzten Tag des Jahres mit Brettspielen zu Tode zu langweilen.“ Wieder kichert er über sein eigenes Wortspiel.

Anstatt etwas zu erwidern, nehme ich einen großen Schluck Wermuth. „Was hast du denn an Silvester gemacht, du Party Animal?“, erkundige ich mich schließlich schnippisch.

„Ich war in Las Vegas“, antwortet der Tod.

„Du hast Silvester in Las Vegas gefeiert?“, frage ich erstaunt.

„Jup“, antwortet der Tod sachlich. „DEATH lädt da immer zum Jahreswechsel ein.“

„Wer ist denn DEATH?“, frage ich verwirrt.

„Na, der US-amerikanische Tod“, erklärt der Tod beiläufig. „Ein eher unangenehmer, großkotziger Typ mit hässlicher Frisur und narzisstischer Persönlichkeitsstörung. Aber seine Silvester-Party ist immer der Hammer. Da kommen jedes Jahr alle Tode hin.“

„Wie, alle Tode?“ Ich bin maximal verwirrt. „Gibt es denn mehr als einen Tod?“

„Selbstverständlich.“ Der Tod schüttelt ob meiner augenscheinlichen Naivität amüsiert den Kopf. „Jedes Jahr sterben weltweit fast 55 Millionen Menschen. Das sind mehr als 150.000 pro Tag. Es wäre geradezu übermenschlich und unmenschlich, wenn sich ein einziger Tod darum kümmern müsste.“

„Aha.“ Ich versuche diese Information zu verarbeiten, aber es gelingt mir nicht so recht. „Was macht ihr dann da auf dieser Silvester-Party?“

„Es gibt immer ein riesiges Buffet mit den leckersten Speisen aus der ganzen Welt.“ Der Tod gerät ins Schwärmen. „Quasi ein Leichenschmaus de luxe.“ Er leckt sich die Lippen. „Der Höhepunkt ist dann immer das Konzert von Elvis“, fährt er fort.

„Du meinst von einem Elvis-Imitator“, korrigiere ich ihn.

„Nein, der echte“, entgegnet der Tod.

„Der lebt noch?“, will ich wissen.

„Natürlich nicht“, antwortet der Tod. „Du darfst nicht alles glauben, was im Internet steht.“

„Aber wie kann er denn auftreten, wenn er tot ist“, bohre ich nach.

„Er schuldet DEATH noch einen Gefallen“, erklärt der Tod. „Der hat damals für ihn die Drogen entsorgt, so dass Elvis offiziell an einem Herzinfarkt gestorben ist. Dafür unterbricht er einmal im Jahr seinen Ruhestand und tritt auf der Party von DEATH auf.“

„Aha“, täusche ich Verständnis vor.

„Richtig lustig wird es aber immer erst, wenn Gott nach Hause geht“, erzählt der Tod.

„Wie, Gott feiert mit euch Silvester?“ Ich komme aus dem Staunen gar nicht mehr heraus.

„Klar, sonst wäre der alte Herr an Silvester doch ganz alleine“, antwortet der Tod. „Der feine Herr Sohn muss ja nach den ausgiebigen Geburtstagsfeierlichkeiten immer seinen Rausch ausschlafen.“ Er macht eine kurze Pause und schaut nachdenklich in sein Glas. „Seit Gott Jesus ans Kreuz nageln ließ, ist ihr Verhältnis ohnehin ein wenig angespannt.“

Ich schüttele ungläubig den Kopf und trinke meinen Wermuth aus. Der Tod schenkt uns nach.

„Was macht ihr dann, wenn Gott die Party verlassen hat?“, frage ich den Tod.

„Dann geht die Post so richtig ab“, erklärt der Tod. „Da fließen die Cocktails in Strömen, es gibt Drogen und wer will, kann sich mit Prostituierten und Call-Boys vergnügen.“

Ich schaue den Tod sprachlos an.

„Da bleiben keine Wünsche offen“, fährt der Tod fort. „Man kann über DEATH sagen, was man will, aber bei seiner Silvester-Party lässt er sich echt nicht lumpen.“

„Du willst mich doch auf den Arm nehmen“, sage ich zögerlich. „Es gibt ja wohl nicht wirklich eine Silvester-Party, auf der die Tode aus der ganzen Welt feiern, sich besaufen, mit Drogen zudröhnen und dabei rumhuren, als gäbe es kein‘ Morgen mehr.“

„So klingt es ein wenig ordinär“, wirft der Tod ein. „Wir stehen das ganze Jahr über so unter Druck, da müssen wir auch mal Dampf ablassen.“

Ich schüttele erneut fassungslos den Kopf.

„Jetzt spiel hier mal nicht den Moralapostel“, weist mich der Tod zurecht. „Stell es dir einfach wie das Oktoberfest vor. Nur mit besserer Musik.“

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„Und, hast du dir diesmal ein paar gute Vorsätze für das neue Jahr vorgenommen?“, wechselt der Tod das Thema.

„Ja“, antwortete ich nicht ohne Stolz. „Ich will mich gesünder ernähren, mehr Sport treiben und weniger Alkohol trinken.“

„Nice, but boring“, sagt der Tod mit rollenden Augen und schenkt mir noch etwas Wermuth ein.

„Ist doch gut für dich“, erkläre ich. „Wenn ich mich gesünder ernähre und aktiv bin, lebe ich länger und du musst weniger arbeiten.“

Der Tod verzieht verächtlich das Gesicht. „Als wenn ein gesunder Lebensstil etwas mit längerem Leben zu tun hätte.“

Ich schaue ihn fragend an.

„Letzte Woche war ich erst bei Hans-Georg Mäuerle“, erzählt der Tod. „51 Jahre alt, hat sich seit 30 Jahren mit Lebensmitteln aus biologischem Anbau ernährt und jeden Morgen eine halbe Stunde Yoga gemacht.“

„Und?“, frage ich nach.

„Dann hat er eine Bio-Mandarine aus glücklicher Haltung gegessen, ein Kern ist in seine Luftröhre gerutscht und er ist daran erstickt“, sagt der Tod.

„Wie bedauerlich“, sage ich mitleidig.

Der Tod nickt. „Noch bedauerlicher ist, dass auf seiner Beerdigung niemand gesagt hat: ‚Mensch, das war immer eine tolle Zeit beim Hans-Georg, wenn wir beisammensaßen, sein selbstgebackenes Dinkelbrot gegessen und Mate-Tee getrunken haben und dabei der Duft der Patschuli-Räucherstäbchen durch die Küche zog.‘“

Nachdenklich schaue ich in mein Wermuth-Glas.

„Also, was ist die Moral von der Geschichte?“, will der Tod von mir wissen.

„Man soll seinen Freunden kein Dinkelbrot anbieten?“, antworte ich fragend.

„Nein“, belehrt mich der Tod. „Vergeude dein Leben nicht mit angeblich gesundem Essen, sondern genieße es in vollen Zügen. Irgendwann stirbt jeder.“ Der Tod nimmt einen großen Schluck Wermuth. „Ich muss es wissen. Bin schließlich vom Fach.“ Der Tod kichert.

Plötzlich vibriert es in der Kutte des Todes. Er zieht sein Smartphone hervor und liest eine Nachricht. „La Mort hat geschrieben“, sagt er schließlich. „Sie war gerade bei France Gall und hat sie abgeholt.“ Er überlegt kurz. „Vielleicht kann die ja bei der nächsten Silvesterparty für uns singen.“

„Sie könnte mit Elvis im Duett auftreten“, schlage ich vor.

„Zum Beispiel.“ Mit diesen Worten leert der Tod sein Glas und schaut anschließend auf die Uhr. „Schon zwei Uhr“, ruft er aus. „Ich muss dann mal los. Die Menschen sterben schließlich rund um die Uhr. Auch 2018.“

Ich bringe den Tod zur Wohnungstür, wo wir uns in den Arm nehmen. Er geht die Treppe hinunter und winkt mir zum Abschied leicht schwankend zu. Dabei pfeift er „Always on my mind“.

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Alle Teile der Serie „Gespräche mit dem Tod“ gibt es hier.

4 Kommentare zu “Gespräche mit dem Tod (14): Die Silvesterparty

  1. Ich hätte noch eine Idee für einen weiteren guten Vorsatz für 2018: endlich das Buch “Gespräche mit dem Tod” herausbringen :-)

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