Samstagabend, kurz nach 21 Uhr. Ich sitze am Küchentisch und überlege, was ich mir für das nicht mehr ganz so neue Jahr vornehmen kann. Schadet ja nichts, sich mal aufzuschreiben, was man in den nächsten zwölf Monaten machen und erreichen will. So als stetig mahnendes Dokument, das dann irgendwann Ende Februar oder Anfang März in den Mülleimer wandert.
Jetzt aber bin ich noch voller Enthusiasmus – ein seltenes Gefühl, dass mich einmal jährlich im Abstand von ungefähr zwölf Monaten wie ein kurzer, fiebriger Infekt überkommt. Eifrig notiere ich Ziele, gute Ideen sowie Zwischenschritte, kategorisiere und priorisiere und fülle Jahres-, Quartals-, Monats- und Wochenpläne aus. Auf dem Tisch stapeln sich vollgekritzelte Zettel, Notizen und Papiere. Ich möchte nicht wissen, wie viele Bäume für meinen Jahresplan gefällt werden mussten. Ergänze „Umweltbewusster leben“ bei meinen Jahreszielen. Doppelt unterstrichen und mit drei Ausrufezeichen.
Ich denke gerade darüber nach, ob das Ziel „Sich gesünder ernähren“ bedeutet, weniger Käsekuchen zu essen, als es klingelt. Etwas ungewöhnlich für diese späte Uhrzeit, denke ich. Vielleicht ist eine der Frauen aus der Studi-WG im 3. Stock. Für die hatte ich vor ein paar Tagen ein Paket angenommen.
Als ich die Tür öffne, steht dort aber keine junge Studentin, sondern eine hagere Gestalt in einer dunklen Kutte, die beide schon bessere Tage gesehen haben. Es ist der Tod, der mir ab und an einen Besuch abstattet.
„Hallo, alter Freund“, sagt er.
„Mensch, das ist ja eine schöne Überraschung“, erwidere ich und wir nehmen uns zur Begrüßung in den Arm.
Ich bitte den Tod in die Wohnung, bevor irgendwelche Nachbarn vorbeikommen. Da außer mir niemand den Tod sehen kann, würden sie sonst denken, ich führe im Hausflur Selbstgespräche. Das muss ja nicht unbedingt sein. Im Hausflur Selbstgespräche führen, liegt nämlich auf der gleichen Weirdness-Stufe wie mit 68 Katzen in einer 40-Quadratmeter-Wohnung zu leben.
„Long time, no see“, sagt der Tod, als ich die Wohnungstür zugemacht habe.
„Ja, das ist eine Ewigkeit her, dass wir uns das letzte Mal gesehen haben“, pflichte ich ihm bei. „Fast zwei Jahre.“
„Geht es dir gut“, fragt der Tod mitfühlend.
Ich nicke.
Zweifelnd schaut mich der Tod von oben bis unten an. „Grau bist du geworden“, sagt er schließlich. „So am Bart und an den Schläfen.“
Ich warte darauf, dass er sagt, dass mir das gut stünde, aber der Tod bleibt stumm.
„Dafür siehst du ja aus wie das blühende Leben“, erwidere ich.
Der Tod überhört meinen spöttischen Unterton und winkt kokettierend ab. „Ach, das sind einfach meine guten Gene.
Wir gehen in die Küche und setzen uns. Der Tod hüstelt etwas gekünstelt. „Ganz schön trocken hier“, sagt er.
Ich verstehe seinen üblichen Wink mit dem Zaunpfahl. „Darf ich dir vielleicht etwas zu trinken anbieten?“
„Wenn du schon so nett fragst, dann doch gerne“, antwortet der Tod.
„Mit oder ohne?“, will ich wissen.
Der Tod schaut mich fragend an. „Was, mit oder ohne?“
„Dein Wasser. Möchtest du das mit oder ohne Sprudel haben?“
„Wasser?“ Der Tod zieht die linke Augenbraue hoch. „Ich dachte eigentlich eher an Gin Tonic.“
Ich schüttle den Kopf. „Ich habe beschlossen, vorerst auf Alkohol zu verzichten.“
„Aber warum?“ Der Tod schaut mich fassungslos an, als hätte ich ihm gerade eröffnet, mich für den Rest meines Lebens in Askese zu begeben, nur noch selbstgefilzte Klamotten zu tragen und in einer abgeschiedenen Hütte im Wald zu leben, wo ich mich von Beeren und anderen Früchten ernähre.
„Der Dezember mit den all den Plätzchen, Stollen und Dominosteinen hat es etwas gut mit mir gemeint“, erkläre ich. „Der Hosenbund zwickt ein wenig und ich möchte ein bisschen abnehmen.“
Der Tod rollt mit den Augen. „Ich glaube, ich habe ein Déjà-vu. Oder ich bin in einer Zeitschleife gefangen. ‚Jährlich grüßt das Moppeltier‘.“
„Ja, ja“, erwidere ich. „Mach dich nur lustig. Ich fühle mich gerade einfach nicht wohl in meiner Haut.“
Der Tod mustert mich. „Verständlich“, nickt er. „Aber was hat das mit deinem Gewicht zu tun?“
Jetzt rolle ich mit den Augen. „Fünf Kilo will ich mindestens abnehmen.“
Der Tod mustert mich erneut und nickt wieder. „Vielleicht besser acht. Sicher ist sicher.“
Ich ignoriere seine Bemerkung. „Soll ich dir eine Scheibe Zitrone in dein Wasser machen? Dann schmeckt es wenigstens ein bisschen wie Gin Tonic.“
Der Tod schaut mich entgeistert an. „Hast du schon am Hirn abgenommen? Wasser mit Zitrone schmeckt doch nicht wie Gin Tonic!“
„Besser als nichts“, entgegne ich. „Alkohol verträgt sich einfach nicht mit Abnehmen. Weißt du denn nicht, wie viele Kalorien so ein Gin Tonic hat?“
„Nö. Wie viele denn?“, fragt der Tod zurück.
„Keine Ahnung“, antworte ich. „Aber das weiß man doch, dass Alkohol total viele Kalorien hat.“
„Das weiß man bei Plätzchen, Stollen und Dominosteinen auch“, erklärt der Tod mit erhobenem Zeigefinger. „Aber der maßlose Herr musste das Zeug ja in sich reinstopfen, als gäbe es kein Morgen mehr. Oder keine Waage. Hättest du dich mal ein bisschen zurückgehalten, könnten wir jetzt schön Gin Tonic trinken.“
„Hör doch mal auf, die ganze Zeit von Gin Tonic zu reden“, rufe ich. „Du bist ja regelrecht besessen davon. Ein Dry January würde dir auch mal gut tun.“
Der Tod horcht auf. „Wenn man da nur Dry Gin trinkt, bin ich dabei.“
„Da, schon wieder“, rufe ich. „Wir können doch auch ohne Alkohol geistreiche Gespräche führen.“
„Ja nee, is klar“ entgegnet der Tod genervt und schüttelt resigniert mit dem Kopf.
„Was ist jetzt?“, frage ich. „Willst du nun ein Wasser oder nicht?“
Der Tod nickt.
„Mit Zitrone?“
Der Tod nickt wieder. „Und mit Eis. Dann ist es vom Gin Tonic quasi gar nicht zu unterscheiden.“
Während ich Zitrone schneide und Eis aus dem Gefrierfach hole, schaut der Tod auf die vollgeschriebenen Blätter und Zettel auf dem Küchentisch.
„Was ist denn das für ein Chaos hier?“, will er wissen.
„Ich bin gerade dabei, mir aufzuschreiben, welche Pläne und Ziele ich dieses Jahr verfolgen möchte“, erkläre ich.
„Aha“, sagt der Tod mit unverhohlener Skepsis.
„Das habe ich mir schon lange vorgenommen“, sage ich. „Erst wenn du dir über deine Ziele bewusst bist, kannst du sie bewusst verfolgen und effizient daran arbeiten.“
„Ach Gottchen“, entfährt es dem Tod. „Bist du jetzt auch unter die Selbstoptimierer und Achtsamkeits-Apostel gegangen?“
„Quatsch“, erwidere ich.
„Überleg‘ dir doch gleich einen beschissenen, motivierenden Kalenderspruch für jeden Tag“, ruft der Tod. „Jede Reise beginnt mit dem ersten Schritt! Wende dein Gesicht der Sonne zu, dann fallen die Schatten hinter dich!“, deklamiert er mit Pathos. „Hilft dir auf jeden Fall beim Abnehmen.“
„Weil ich dann fokussiert und in positiver Stimmung bin?“, frage ich hoffnungsfroh.
„Nee, weil du dann jeden Morgen kotzen musst“, antwortet der Tod und lacht laut.
„Das Ganze hat überhaupt nichts mit Selbstoptimierung zu tun“, erkläre ich. „Ich will meine Zeit einfach besser nutzen. Zum Beispiel wieder mehr Schreiben.“
„Toll“, entgegnet der Tod teilnahmslos.
„Ja, und produktiver will ich sein“, erkläre ich.
„Deswegen steht hier auch jeden Tag um 13 Uhr „Mittagessen“ in deinem Kalender?“, fragt der Tod spöttisch.
„Regelmäßig essen ist wichtig“, verteidige ich mich.
„Kacken auch“, entgegnet der Tod. „Schreib das doch auch in deinen Plan.“
„Das wäre ja albern“, sage ich.
„Warum?“, fragt der Tod. „Ist doch auch produktiv. Wahrscheinlich produktiver als dein Schreiben.“ Er lacht laut und lange über seinen eigenen Scherz.
Der Tod blättert weiter in meinen Aufzeichnungen. Plötzlich runzelt er die Stirn. „Sind das die Pläne von jemand anderem?“
„Wieso?“, will ich wissen.
„Da steht im Juni ‚Triathlon‘“, erklärt der Tod.
„Ja“, sage ich. „Ich habe mich bei einem Triathlon angemeldet.“
Der Tod schaut mich an. Dann beginnt er lauthals zu lachen.
„Was hast du denn?“, frage ich leicht genervt.
Der Tod verstummt. „Ich dachte, du machst einen Scherz.“
„Warum soll das denn ein Scherz sein?“, will ich wissen.
„Na, beim Triathlon muss man doch auch schwimmen“, stellt der Tod fest.
„Ja, und?“
„Du kannst doch gar nicht schwimmen“, erwidert der Tod.
„Natürlich kann ich schwimmen“, sage ich entrüstet.
Der Tod zieht wieder die linke Augenbraue hoch. „Alter, ich habe dich schon im Wasser gesehen und das, was du da veranstaltest, ist definitiv nicht schwimmen.“
„Wo hast du mich denn schon mal im Wasser gesehen?“, will ich wissen.
„Wenn du im Urlaub ins Meer gehst, bin ich immer in deiner Nähe“, erklärt der Tod.
„Um mir zu helfen, falls ich einen Krampf oder so habe?“, frage ich gerührt.
„Äh, ja, so ungefähr“, antwortet der Tod.
„Triathlon“, sagt er dann. „Da kannste dir auch gleich ein Schild um den Hals hängen. ‚Bin in der Midlife-Crisis!‘“
„Ich bin doch nicht in der Midlife-Crisis“, entgegne ich empört. „Dafür bin ich viel zu jung!“
Der Tod schaut mich wortlos an und schüttelt ganz langsam den Kopf.
„Was denn? Ich bin erst Anfang 40.“
Der Tod schaut mich weiter wortlos an und schüttelt wieder ganz langsam den Kopf.
„Na gut, Anfang/Mitte 40.“
Der Tod schaut immer noch wortlos. „Du wirst dieses Jahr 45“, sagt er schließlich. „Das ist eindeutig Mitte 40. Ohne Anfang oder irgendeine Einschränkung zur Verschleierung der harschen Realität.“ Dann schreibt er unnötigerweise mit seinem dürren Zeigefinger eine 45 in die Luft. „Du wärst wohl weltweit der einzige Mann, der in dem Alter keine Midlife-Crisis hat.“
„Du hast ja eine schlechte Meinung von den Männern“, wende ich ein.
„Alles empirische Erfahrungswerte“, antwortet der Tod. „Weißt du, wie viele Mittvierziger ich schon aus ihrem Porsche geholt habe, weil sie sich mit Tempo 200 um einen Baum gewickelt haben?“ Er nippt an seinem Wasser. „Von den Harley-Fahrern ganz zu schweigen. Da muss ich allerdings meistens erstmal den Kopf und dann den Rest einsammeln.“
„Der Triathlon hat gar nichts mit einer Midlife-Crisis zu tun“, versuche ich das Thema zu wechseln. „Die ich ja auch gar nicht habe“, ergänze ich schnell.
„Selbstverständlich“, sagt der Tod.
„Ich mache das auch nicht alleine“, erkläre ich.
„Wer ist denn die bedauernswerte Person, die dir beim ‚Schwimmen‘ zuschauen muss?“ fragt er und setzt beim Wort Schwimmen mit seinen Zeige- und Mittelfingern mehrere Anführungszeichen in die Luft.
„Andrea Harmonika“, antworte ich. „Die weltbeste Bloggerin und Autorin aller Zeiten.“
„Na hoffentlich hat die einen Freischwimmer“, sagt der Tod. „Aber warum muss es denn überhaupt ein Triathlon sein?“
„Einfach so“, erwidere ich. „Ist doch spannend sich herauszufordern und etwas zu tun, was man noch nie getan hat.“
„Dann könntest du auch Bungee-Jumping machen. Oder Fallschirmspringen“, sagt der Tod. „Wäre für dich auf jeden Fall weniger gefährlich, als 400 Meter in einem See zu ‚schwimmen‘.“ Erneut setzt er Anführungszeichen in die Luft.
Bevor ich etwas entgegnen kann, trinkt der Tod sein Wasser aus und steht auf. „Ich muss leider los.“
„Noch arbeiten?“, frage ich ihn.
„Ja. Herr Dankelmeier aus der Bremer Straße“, antwortet der Tod. „Der sollte dir ein mahnendes Beispiel sein.“
„Wieso?“, will ich wissen.
„Der will auch gesünder leben. Hat 50 Kilo Übergewicht und sich einen Home-Trainer gekauft. Von dem fällt er gleich tot runter. Herzinfarkt.“
„Ich hab‘ doch keine 50 Kilo Übergewicht“, protestiere ich.
„Ja, ja, ich will es doch nur mal gesagt haben“, beschwichtigt mich der Tod. „Schließlich möchte ich nicht für deinen Tod verantwortlich sein.“
Zum Abschied nimmt er mich in den Arm. „Bis bald.“
An der Tür dreht er sich nochmal um. „Ach, tu mir doch bitte einen Gefallen und sag‘ mir immer Bescheid, wenn du zum Schwimmtraining gehst.“
„Ok?“, sage ich fragend.
„Dann halte ich mir da immer frei“, erklärt der Tod.
„Ach, du kommst mit mir schwimmen?“, freue ich mich.
„Äh, ja, so ungefähr“, antwortet der Tod und geht die Treppe runter. Dabei pfeift er „Pack‘ die Badehose ein“.
Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Im September erscheint sein neues Buch “Papa braucht ein Fläschchen”. Ebenfalls mehr als zu empfehlen sind “Hilfe, ich werde Papa! Überlebenstipps für werdende Väter”, “Ein Vater greift zur Flasche. Sagenhaftes aus der Elternzeit” sowie “Wenn’s ein Junge wird, nennen wir ihn Judith”*. (*Affiliate-Links)
Ich hab ihn ja vermisst!
🤣 🤣 🤣 Der beste Start in eine neue Woche, hab mich eben scheckig gelacht! Das Haus dürfte jetzt dann auch wach sein. 🤣 🤣 🤣