Der alljährliche Urlaubsblog. Aus Spanien. Nicht live, aber dafür in Farbe und HD. Falls Sie, aus welchen Gründen auch immer, alle Beiträge des ¡Hola España!-Blogs lesen möchten, werden Sie hier fündig.
Wache orientierungslos auf und weiß nicht wer, wo und wann ich bin. Laut dem Stand der Dämmerung könnte es 4 oder schon 9 Uhr sein. Letzteres wäre ungünstig, Unser Zug fährt um 8.30 Uhr am Hauptbahnhof los.
Der Radiowecker zeigt 5.30 Uhr an. Alles im grünen Bereich. Außer dass ich eine Stunde länger hätte schlafen können.
Dafür kann ich alles etwas geruhsamer angehen lassen. (Positiv denken.) Kaffee trinken, aufs Klo gehen, Spülmaschine ausräumen, einen weiteren Kaffee trinken, duschen, Provianttasche fertig richten, Kaffee Nummer drei, nochmal Toilette. Als ich den nächsten Kaffee machen will, sagt die Blase, jetzt sei es mal gut mit dieser Kaffeetrinkerei, sonst würde ich die halbe Fahrt auf der Bordtoilette verbringen und das sei wirklich der letzte Ort, an dem du dich in einem Zug aufhalten möchtest.
Vorletzte Handlung, bevor wir aufbrechen: Ich beziehe unser Bett frisch. Mein Nach-Urlaubs-Ich wird meinem Vor-Urlaubs-Ich vor Freude weinend in den Armen liegen.
Letzte Handlung, bevor wir aufbrechen: Wir instruieren den Sohn zum Abschied mit dem Wichtigsten in unserer Abwesenheit. Ab und an den Briefkasten kontrollieren, täglich Blumen gießen und wenn er rausgeht, die Balkontür zumachen und die Wohnungstür abschließen. Ansonsten ist der Kühlschrank gefüllt, er hat Haushaltsgeld bekommen und wir haben ihm mehrfach gesagt, wann wir zurückkommen. Am 22. September um 21 Uhr. Damit er früh genug mit Aufräumen und Putzen anfangen kann.
Nun hat er zweieinhalb Wochen sturmfrei und kann Erwachsensein spielen. Dann stellt er vielleicht fest, wie mühselig selbst einkaufen, Wäsche waschen und aufräumen ist. (Sofern er aufräumt. Wahrscheinlich am 22. September gegen 20.30 Uhr.)
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Im Zug. Gehe ins Bordbistro, um uns mit koffeinhaltigen Getränken zu versorgen. Die Blase hebt eine Augenbraue und fragt: „Really?“ Ja, really.
Bin bei der Bestellung unsicher, was die korrekte Mehrzahl von Cappuccino ist. Zwei Cappuccini (versnobte Toskana-Urlaubende rufen „si“.) oder zwei Cappuccinos (Bastian Sick nickt.). Sage einfach: „Ich hätte gerne einen Cappuccino und noch einen Cappuccino.“
Bezahle mit Getränke-Gutscheinen aus meiner Bahn.bonus-App. Weil ich im letzten Jahr relativ viel Zug gefahren bin, habe ich dort den Gold-Level erreicht. Wahrscheinlich freuen sich viele Menschen über so etwas, ich finde das unangenehm elitär und protzig.
Mit dem güldenen Status kommen unter anderem zwölf Freigetränke in der Bahngastronomie einher. Das ist eigentlich erfreulich, nur habe ich sie bisher fast nie benutzt. Weil ich mir dabei wie ein Nassauer vorkomme, der sich etwas erschleicht. (Woher kommt eigentlich der Begriff Nassauer? Googeln Sie das mal, ich frage das morgen ab.)
Heute überwinde ich mich und setze die Gutscheine ein. Da freut sich die Urlaubskasse, dass sie nicht schon auf der Anreise mit stattlichen neun Euro vierzig für zwei Heißgetränke belastet wird. (Die Urlaubskasse nickt zustimmend.)
Auf den Kaffeebechern steht „Genuss auf ganzer Strecke“, das Fahrtanzeiger-Display blendet Werbung ein: „Egal ob con oder sin carne, chili(g) wird’s im Bordbistro.“ Schön, dass sich die Marketing-Praktikant*innen der Deutschen Bahn ausprobieren durften.
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Schräg gegenüber von mir telefoniert ein junger Mann. (Jung im Sinne von Mitte 30.) Ich glaube, er ist von der CDU, er diskutiert mit seinem Gesprächspartner die K-Frage und die Brandmauer. Mehr verstehe ich nicht. Bin kurz davor ihn zu ermahnen, deutlicher zu reden und das Telefon laut zu stellen. Damit ich dem Gespräch besser folgen kann und mir das nicht alles zusammenreimen muss. Das ist doch wirklich nicht zu viel verlangt.
Der Mann trägt einen gut sitzenden, dunkelblauen Anzug, dazu ein weißes, faltenfreies Hemd. Beneidenswert. Wenn ich Hemden trage, sind die spätestens nach fünf Minuten so zerknittert, als hätte ich darin geschlafen. Auf dem Boden. Im Wald. Bei Regen.
Dafür sind seine Lederschuhe ausgelatscht und ungeputzt. Warum fällt mir so etwas auf? Offensichtlich bin ich noch spießiger als Menschen bei der CDU. Schlimm.
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Umstieg in Mannheim. Ich habe extra eine Verbindung mit ausreichend Puffer für unseren Anschlusszug nach Avignon gewählt. Folglich ist unser erster Zug überpünktlich und wir müssen eine dreiviertel Stunde am Bahnhof abhängen. Hätte ich die Verbindung mit nur fünf Minuten Umsteigezeit genommen, wären größere technische Komplikationen sowie menschliches Versagen die Folge gewesen, die den gesamten Zugverkehr in Deutschland für Tage zum Erliegen gebracht hätten.
Unfunny fun fact: Ich bin in Mannheim geboren, habe aber nie dort gelebt. Meine Mutter wollte, dass ich im gleichen Krankenhaus zur Welt komme wie mein Bruder. Bei ihrem Gynäkologen namens Hannibal. Nicht Lecter, Hannibal war sein Nachname. Mir ist auch nicht bekannt, dass er kannibalistische Neigungen hatte. Mit Lämmern hatte er ebenfalls nichts am Hut. Weder mit mähenden noch mit schweigenden.
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Weiterfahrt mit dem TGV. Das letzte Mal, als wir mit dem französischen Schnellzug gefahren sind, saß vor uns eine Gruppe Rammstein-Fans, auf dem Weg zu einem Konzert in Lyon. Ihr Gebaren hat nicht dazu beigetragen, meine Meinung zu der Band ins Positive zu wenden. Eher im Gegenteil, was wirklich eine Leistung ist, denn Till Lindemann war mir schon suspekt, als seine unappetitlichen First-Row-Geschichten noch nicht einer größeren Öffentlichkeit bekannt waren.
Die Frauen und vor allem Männer waren bereits beim Einstieg stark alkoholisiert und schädelten sich während der Fahrt ordentlich Bier, Whisky-Cola und Wodka-Red-Bull rein. Mit steigendem Pegel wurden sie zunehmend lauter, enthemmter und aggressiver. Das war definitiv eines meiner schlimmsten Zugreiseerlebnis. Obwohl ich mal an einem Bundesliga-Samstag mit einem Regionalexpress im Ruhrgebiet unterwegs war. Ich und hunderte von alkoholisierten Fußball-Fans. Das war gegen die Fahrt mit den Rammsteinlern wie eine Bildungsreise „Auf den Spuren Fontanes durch die Mark Brandenburg“. Heute gibt es glücklicherweise keine vergleichbaren Vorkommnisse.
Alle Beiträge des ¡Hola España!-Blogs finden Sie hier:
- Vorbereitung (03.09.): Zurück in die Vergangenheit
- Anreise (04.09.): Auf Kaffeefahrt mit der Deutschen Bahn
- Barcelona (1) (05.09.): Immer geradeaus
- Barcelona (2) (06.09.): Saubere Brillen und wütende Kartoffeln
- Ankunft (07.09.): Blick aufs Meer (und ein bisschen Parkplatz)
- Tag 01 (08.09.): Lauf, Christian, lauf
- Tag 02 (09.09.): Do you need a good one or a normal one?
- Tag 03 (10.09.): Dem Meer ist alles egal
- Tag 04 (11.09.): Nationalfeiertagsfeierlichkeiten Fehlanzeige
- Tag 05 (12.09.): Vom Winde gemobbt
- Tag 06 (13.09.): Mein Name ist nicht Bond
- Tag 07 (14.09.): Man spricht kein Deutsch
- Tag 08 (15.09.): Das ganze Leben ist ein Fake. (Zumindest auf der Strandpromenade Richtung Salou)
- Tag 09 (16.09.): Ein Hollywood-Blockbuster für einen Käsekuchen
- Tag 10 (17.09.): Der mittelalte weiße Mann und das Meer
- Tag 11 (18.09.): Kein Regen im Nichts
- Tag 12 (19.09.): Helga, die Schreckliche
- Tag 13 (20.09.): Ein nasser Abschied
Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Mit seiner Frau lebt er in Berlin-Moabit, die Kinder stellen ihre Füße nur noch virtuell unter den elterlichen Tisch. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Sein neues Buch “Wenn ich groß bin, werde ich Gott” ist im November erschienen. Ebenfalls mehr als zu empfehlen sind “Hilfe, ich werde Papa! Überlebenstipps für werdende Väter”, “Ein Vater greift zur Flasche. Sagenhaftes aus der Elternzeit” sowie “Wenn’s ein Junge wird, nennen wir ihn Judith”*. (*Affiliate-Links)
Ich habe mich über den bisherigen Reise-Bericht gefreut :o)
Ich habe für November die gleiche Verbindung mit Ziel Marseille gebucht (nächste Haltestelle nach Avignon) und hoffe, dass meine 3 Std. Puffer in Mannheim reichen :D.
Die Verbindung nach Marseille hatten wir vor zwei Jahren. Wenn du keine Verspätungen hast (hatten wir nicht) und keine schlimmen Mitreisenden (hatten wir leider), ist das eine sehr angenehme Art des Reisens.