Irisches Tagebuch, 04. Juni | Etappe 1 – Von Camp nach Annascaul (Teil 2)

Teil 1


Der zweite Teil unserer Wanderung ist etwas anstrengender als noch heute Vormittag. Die Wege werden enger, links und rechts sind sie von hohen Hecken gesäumt. Unzählige Insekten brummen und summen und schwirren um uns herum. Die Tochter kreischt jedes Mal, wenn ihr etwas zu nahekommt. Sie steht Insekten eher distanziert gegenüber. Um nicht zu sagen feindlich.

Ich bin mir des Nutzens von Insekten bewusst – wenn auch mehr so im Allgemeinen als im Detail –, bin aber auch nicht ihr größter Fan. Ich möchte kein Body-Shaming betreiben, aber mit ihren dünnen Beinen, glubschigen Augen und rüsseligen Nasen sind Insekten nicht übermäßig attraktiv. Persönlich würde ich sie sogar als eklig beschreiben. Und im ungünstigsten Fall stechen oder beißen sie dich. Ich versuche, mir meine Abneigung jedoch nicht anmerken zu lassen und verwedele sie mit größtmöglicher Würde.

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Die Wegbeschreibungen unseres Reiseanbieters sind sehr detailliert. Fast schon absurd detailliert.

„This road soon leads onto a track which in turn becomes a grassy path that takes you down to a small river. You may be able to jump over the narrow stream.”
“Where the trail turns sharply after 525 m turn left onto a rugged track until a junction 15 m further on brings you to a road.”
“Don’t get confused by the Dingle Way signpost pointing in three different directions but simply turn right onto a grassy track (often muddy).”
“After 245 m you have to cross a stile and follow the track which becomes much narrower as it follows a sunken path that runs low between walls and hedges on either side.”
“Eventually you arrive at a small road which you have to follow for just over 4 km, ignoring any tracks and paths left and right.”

Da kann nichts schief gehen. Eigentlich. Wir haben trotzdem immer häufiger Schwierigkeiten, die Hinweise aus der Wegbeschreibung in unserer Umgebung zu entdecken. Wie unterscheidet sich ein Track von einem Path? Sind die 57,4 m schon rum? Und wo ist nochmal links?

Vielleicht können wir uns aufgrund unserer zunehmenden Erschöpfung nicht mehr so gut konzentrieren. Oder es liegt an unserer generellen Orientierungslosigkeit. Ich tendiere zu ersterer Erklärung, befürchte aber das letztere zutreffend ist.

Zum Glück taucht Dingle Dude auf und ruft winkend: „Here you are, mates! Good to see you again. You have to go left. No, the other left. Phantastic, there you go.“

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Schließlich befinden wir uns auf der Straße Richtung Annascaul. Noch 2,5 Kilometer. Es geht die ganze Zeit bergab, aber derletzte Abschnitt zieht sich trotzdem. 2,5 Kilometer bleiben 2,5 Kilometer, egal wie steil es runter geht.

Annascaul hat ungefähr 300 Einwohner*innen und sechs Pubs und Bars. Auf 50 Menschen kommt also ein Pub. Bei diesem Verhältnis müsste es in Berlin ungefähr 82.000 Kneipen geben.

Es ist noch zu früh, um ins B+B zu gehen. Wir kehren erstmal im South Pole Inn ein. Der Pub ist dem berühmtesten Sohn des Ortes gewidmet: Tom Crane. Der nahm Anfang des 20. Jahrhunderts an den meisten britischen Antarktis-Expeditionen teil, wobei die wenigsten dieser Unternehmungen von Erfolg gekrönt waren. Später hat er dann das South Pole Inn gegründet.

Unsere 20-Kilometer-Wanderung bei bestem Wetter ist nicht direkt mit den Mühen und Entbehrungen zu vergleichen, die Tom Crane bei seinen Südpol-Fahrten auf sich genommen hat, aber ein kühles Getränk haben wir uns dennoch verdient. Zeitgleich mit uns kommt eine 20-köpfige Wandergruppe am South Pole Inn an. Die Männer und Frauen sind schon etwas betagter. Einige sehen aus, als hätten sie die 80 bereits überschritten. Vor vielen Jahren. Das hindert sie nicht daran, erstmal ein Pint Guinness zu ordern.

Das ist vielleicht das Geheimnis ihres Alters: Wandern an der frischen Luft und irisches Bier trinken. Wir belassen es trotzdem bei einer Coke Zero.

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The Old Anchor Guesthouse ist unser B+B für heute Nacht. Beata empfängt uns. Die circa 40-jährige gebürtige Polin heißt uns herzlich willkommen und lässt sich erstmal über das Wetter aus. (Natürlich.) Welch ein Glück wir hätten, dass es so sonnig ist, und dass das auch so bleiben solle und sie gar nicht wisse, wann es das letzte Mal so lange so gutes Wetter gegeben hätte. Damit wäre das auch geklärt.

Unsere Zimmer sind nett eingerichtet und geräumig. So können wir unsere Koffer ausbreiten und unsere Klamotten sortieren. Nur der Wasserdruck der Dusche lässt etwas zu wünschen übrig. Er scheint im Minusbereich zu liegen, aber das spart Wasser und ist somit gut für die Umwelt, so dass ich mich nicht beschweren will.

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Zum Abendessen gehen wir in Patcheen’s Bar. Die Tochter nimmt eine Pizza Margaritha, was in Irland als Pub Food durchgeht, und meine Frau wieder Fish & Chips. Ich setze meine Fleisch-Festspiele fort und entscheide mich für einen Beef-Burger. Diesmal mit unglasiertem Zwiebel und ohne Spiegelei, das ich aber nicht wirklich vermisse. (Sorry, Spiegelei) Der Burger ist saftig, der Bun fluffig und die Chips knusprig.

Die Tochter macht uns mit einem unfassbar leckeren Strawberry-Lime-Cider bekannt. Ihr Lieblingsgetränk, das sie meistens schon tränke, bevor sie in den Pub gehe, um dort nicht so viel Geld ausgeben zu müssen. (Ihr Auslandsstudium scheint eine Schule fürs Leben zu sein.) Der Cider schmeckt quasi wie Limo, was ebenso phantastisch wie bedenklich ist.

Die Gerichte in Patcheen’s Bar sind im Schnitt fünf Euro günstiger als gestern in Kirby‘s Brogue Inn. Somit können wir zwei Getränke mehr nehmen, so dass wir inklusive Trinkgeld wieder auf den gleichen Betrag wie am Vorabend kommen.

Auf dem Heimweg treffen wir die beiden Irinnen vom Frühstück wieder. Sie sind ebenfalls im Old Anchor Guesthouse untergebracht. Wir tauschen uns über die heutige Wanderung aus. Sie hatten am Nachmittag ebenfalls Schwierigkeiten mit der Wegbeschreibung. Es lag also nicht an uns. Oder die beiden sind genauso orientierungslos wie wir. Das ist nicht auszuschließen.

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Bevor wir ins Bett gehen, rufen wir den Sohn an. Er ist leicht verschnupft. Wahrscheinlich ist sein Immunsystem geschwächt, weil er uns so sehr vermisst.

Wir fragen, ob er die Blumen gegossen hat. Im Prinzip schon, erklärt er. Also, gestern nicht, aber heute. Dann beendet er das Telefonat recht zügig. Wahrscheinlich um die Blumen zu gießen.

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22.15 Uhr. Wir liegen im Bett. Aus einem der nahegelegenen Pubs erschallt plötzlich Live-Musik. Der Fenster-Rentner in mir findet es, „interessant“, um diese Uhrzeit an einem Sonntagabend ein Konzert zu beginnen.

Die Band spielt Cover-Songs wie „Baby come back“ und „Pretty woman“. Quasi das Kirmes-Band-Repertoire bei uns früher. Wenn du damals Glück hattest, konntest du darauf mit einem hübschen Mädchen tanzen. Und wenn du noch mehr Glück hattest, spielte die Band danach irgendeinen aktuellen Bravo-Kuschelrock-Song und du konntest Stehblues tanzen. Da ich meistens kein Glück hatte, musste ich am Rand stehen und dabei zuschauen, wie die hübschen Mädchen mit anderen tanzten. (Niedergeschrieben klingt das weirder, als es war. Vielleicht auch nicht, wenn ich es mir recht überlege.)

Zum Glück bin ich keine 18 mehr. Sonst müsste ich jetzt in den Pub gehen und darauf hoffen, dass ein hübsches Mädchen mit mir tanzt. Oder hübschen Mädchen beim Tanzen zusehen. (Okay, das hört sich definitiv creepy an.) Stattdessen kann ich in dem bequemen Bett liegen und der Musik aus der Ferne zuhören. Langsam dämmere ich weg. Im Hintergrund läuft „Summer of ´69“.


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