Irisches Tagebuch, 05. Juni | Etappe 2: Von Annascaul nach Dingle (Teil 2)

Teil 1


Kilometer 14. Die Wegbeschreibung bietet zwei Optionen an. Entweder weiter den Dingle Way entlang, der nun hauptsächlich über Weiden und Feldwege führt. Oder der Straße direkt nach Dingle folgen. Wir entscheiden uns für Option 1, obwohl das anderthalb Kilometer mehr bedeutet. Aber wir wollen Dingle Dude nicht enttäuschen, der uns erwartungsvoll anschaut.

Zunächst setzen wir uns erstmal hin, um etwas zu essen. Wir packen unsere Lunch Packs aus, die wir heute früh im B+B gekauft haben. Baguettes mit Ziegenkäse und getrockneten Tomaten. Nicht besonders irisch, aber sehr lecker. Obwohl die Baguettes dreieinhalb Stunden lang ungekühlt durch die Sonne getragen wurden.

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Weiter geht’s. Wir müssen über eine kleine Leiter klettern, um auf eine abgezäunte Kuhweide zu gelangen. Meinem ängstlichen, übervorsichtigen Ich ist das nicht ganz geheuer. Das wird schon seinen Grund haben, warum es den Zaun gibt. Zum Beispiel wegen der beiden Kühe, die uns anschauen, als wir die Weide betreten. Ich fühle mich wie ein Eindringling. (Gibt es den Straftatbestand Weidenfriedensbruch?)

Die Kühe sind gut 20 Meter entfernt. Das ist nicht so nah. Außerdem wirken die beiden ziemlich teilnahmslos. Als wäre es ihnen egal, was wir da machen.

Wir gehen ganz rechts am Rand der Weide am Zaun entlang. Nach einer kleinen Biegung tauchen etwas überraschend zwei weitere Kühe auf. In 15 Metern Entfernung. Das ist schon etwas näher. Nach der nächsten Kurve sehen wir uns den nächsten beiden Kühen gegenüber. 10 Meter entfernt. Das ist schon ziemlich nah.

Die Kühe sind deutlich in der Überzahl. Solange sie uns nicht für Heu halten, sollten wir aber auf der sicheren Seite sein. Außer es sind fleischfressende Kühe, eine weitestgehend unbekannte Rasse, von der noch nie jemand etwas gehört hat, weil sie alle auffressen, die sie sehen.

Wir beschließen, die Kühe zu ignorieren. Mit starr auf den Boden gerichtetem Blick schieben wir uns an den beiden vorbei. Wir vermeiden jeden Blickkontakt sowie ruckartige Bewegungen, die als Provokation missverstanden werden könnten.

Am Ende der Weide klettern wir wieder über eine kleine Leiter. Geschafft. Dingle Dude hebt den Daumen und sagt: „Well done, mates, well done.“ Dann schickt er uns weiter nach links.

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Kilometer 18. Wir machen an einem Anstieg eine Trink-und-wir-essen-die-halb-geschmolzenen-Snickers-aus-unserem-Lunch-Paket-Pause.

Ein Mann kommt den Hang hinauf. Er hat weißes, halblanges Haar und trägt eine Sonnenbrille, ein blaues, knitterfreies Hemd, eng geschnittene Jeans sowie modische, braune Sneakers. Sieht aus wie ein Best-Ager-Model auf dem Weg zum Foto-Shooting.

Mit zügigem Schritt geht der Model-Mann an uns vorbei. Er sagt „How are you?“, wir antworten: „How are you?“ und ich finde das immer noch merkwürdig.

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Ein paar enge Wege, Kuh- und Schafweiden, Stiegen, Leitern und Hecken später sehen wir in der Ferne Dingle. Noch zwei Kilometer abwärts und wir haben die Stadt erreicht. „See you tomorrow, mates“, verabschiedet sich Dingle Dude von uns.

Dingle hat 2.000 Einwohner*innen. Die genaue Zahl der Pubs ist mir nicht bekannt, aber die Dichte scheint mir wieder sehr hoch zu sein.

Berühmtester Sohn der Stadt ist Fungi. Ein Delfin, der 37 Jahre im Hafen von Dingle lebte. Vor drei Jahren verschwand er, so dass wir ihn uns leider nicht anschauen können. Die Tochter fragt sich, warum die Stadt nicht einfach einen anderen Delfin in den Hafen steckt. Den Unterschied würde sowieso niemand bemerken. Außer der Delfin natürlich.

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Unsere Unterkunft für heute Nacht ist Brosnan’s B+B. Ob die Betreiber*innen mit Pierce Brosnan verwandt sind? Vielleicht heißt er uns persönlich willkommen und macht morgen das Frühstück. 007 – Licence to cook.

Ganz unwahrscheinlich ist das nicht. Also, dass Pierce Brosnan das Frühstück serviert schon, aber eine verwandtschaftliche Bande zwischen unseren B+B-Hosts und dem James-Bond-Darsteller ist durchaus möglich. Bei der überschaubaren Einwohner*innenzahl Irlands sind fast alle über ein paar Ecken miteinander verwandt.

Die Mutter einer irischen Freundin der Tochter hat beispielsweise in ihrer Verwandtschaft eine Cousine zweiten oder dritten Grades von Pierce Brosnan und hat ihn mal auf einer Familienfeier getroffen. Das sind meine fünfzehn Minuten Ruhm: Die Mutter der Freundin meiner Tochter ist über ein paar Dutzend Ecken mit James Bond verwandt und war mal im gleichen Raum wie er. (Autogrammwünsche bitte an info@familienbetrieb.info.)

An der Tür des B+B hängt eine handgeschriebene Notiz. Wir sollen uns zum Check-in im Nachbarhaus melden. Dort öffnet nicht Pierce Brosnan, sondern eine ältere Dame in Schürze die Tür. Die Senior B+B-Chefin.

Sie begrüßt uns und flechtet die obligatorische Wetterbemerkung ein: „The weather is lovely, isn’t it?” „Yes, beautiful.” Anschließend bringt sie uns zu unserem Zimmer.

Wir duschen erstmal und spülen uns Staub, Schweiß und Sonnenmilch von der Haut. Danach fühle ich mich vielleicht nicht wie ein neuer Mensch, aber wie ein deutlich sauberer.

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In Dingle suchen wir nach einem netten Pub fürs Abendessen. Auf dem Bürgersteig versperrt meine Frau einem Mann versehentlich den Weg. Als sie es bemerkt, geht sie zur Seite und sagt pflichtschuldig „Sorry.“ Der Mann erwidert: „You are no problem.“ und ich finde das eine ganz bezaubernde Antwort. Die Welt wäre ein freundlicherer Ort, wenn wir alle unsere Mitmenschen nicht als Problem ansehen würden. (Naja, fast alle.) Im Weitergehen sagt der Mann noch: „Lovely weather, isn’t it?“, aber bevor meine Frau ihm zustimmen kann, ist er schon weg.

Die Pub-Suche gestaltet sich schwierig. In Irland ist Feiertag und die Menschen sind ausgehfreudig. Nach mehreren erfolglosen Anläufen bekommen wir einen Platz im Marina Inn.

Die vegetarischen Optionen auf der Karte sind sehr übersichtlich. Die Tochter muss sich mit Garlic Bread begnügen. Meine Frau nimmt ihre obligatorischen Fish & Chips, ist bei der Bestellung aber nicht mehr ganz so enthusiastisch wie in den letzten beiden Tagen. Meine Wahl fällt auf den Homemade Beef Burger und ich nehme mir vor, mich in Berlin mindestens einen Monat nur von Gemüse zu ernähren. (Oder von Kuchen. Da ist ja auch kein Fleisch drin.)

Auf dem Heimweg gönnen die Tochter und ich uns ein Eis bei Murphy’s, einer lokalen Eismanufaktur, die Läden in ganz Irland hat. Die Kugel kostet rekordverdächtige sechs Euro, wird aber trotzdem nicht in einem goldenen Becher serviert. Das Eis ist gut, aber nicht unbedingt sechs-Euro-gut.

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Zurück im B+B telefonieren wir mit dem Sohn. Der ist davon überzeugt, einen grünen Daumen zu haben. Bisher sei noch keine der Balkon-Pflanzen eingegangen. Außer eine, aber die habe schon von Anfang an nicht besonders fit ausgesehen, da könne man ihm keinen Vorwurf machen.

Dann lässt er sich in die Funktionsweise der Waschmaschine einweisen, da die Zahl seiner sauberen Kleidungsstücke nur noch überschaubar ist.

Aus der Schule berichtet er, dass er Chemie zurückbekommen hat. 7 Punkte. Ohne dafür gelernt zu haben und ohne eine Ahnung vom Thema zu haben, wie er betont. Somit seien seine 7 Punkte eigentlich wie 15 Punkte. Ich bin mir nicht sicher, ob ich dieser Argumentation folgen möchte. Da er aber 7 Punkte mehr als ich in meiner letzten Chemieklausur hat, lasse ich das mal so stehen.

Zum Schluss fordert er noch seine Schwester auf, sie solle uns beim Wandern filmen. Wenn wir stolpern, hätte er etwas zu lachen. Das Alleinsein scheint ihm nicht zu bekommen.


Gewinnspiel

Die For Me-Karten wurden verlost und die Gewinnerinnen benachrichtigt. Herzlichen Dank an alle, die so fleißig kommentiert haben, und den Gewinnerinnen viel Spaß beim Festival.


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Ab heute überall erhältlich, wo es Bücher gibt.

5 Kommentare zu “Irisches Tagebuch, 05. Juni | Etappe 2: Von Annascaul nach Dingle (Teil 2)

  1. “Bestimmt eine Täuschung der Bevölkerung, damit keine Panik wegen der Riesen ausbricht.” Frag doch mal Hagrid, der weiß da bestimmt genaueres ;-)

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