Wir waren wandern. In Irland. Hier gibt es den Bericht. Nicht live, aber dafür in Farbe und HD. Falls Ihnen Ihre Lebenszeit nichts wert ist und Sie alle Beiträge der Irischen Tagebücher lesen möchten, werden Sie hier fündig.
Wache wieder kurz nach 5 auf. Versuche meinem Körper klarzumachen, wir wären im Urlaub und müssten nicht arbeiten. Er könnte ruhig noch zwei Stündchen schlafen, das wäre gar kein Problem, sondern voll supi. Mein Körper antwortet nicht, schläft aber auch nicht mehr ein. (Vielleicht mag er es nicht, wenn jemand „voll supi“ sagt.)
Ich weiß nicht, welcher Wochentag ist und im wievielten B+B wir geschlafen haben. Ich sehe das positiv. Als Zeichen maximaler Erholung und Entspannung und nicht des fortschreitenden Verfalls meines Denk- und Erinnerungsvermögens. Außerdem weiß ich noch, was ich jeden Morgen zum Frühstück hatte. So schlecht kann es um mein Gedächtnis nicht bestellt sein. Vielleicht ist das meine Inselbegabung. Oder ich bin so verfressen, dass ich immer an Essen denke.
Meine Frau und ich warten auf die Tochter, die noch nicht fürs Frühstück fertig ist. Wir probieren die Nespresso-Maschine in unserem Zimmer aus. Weil Kaffee nie eine schlechte Idee ist, weil wir es können und weil wir sonst nichts zu tun haben.
Ich nutze die Zeit und rufe wieder bei dem Taxiunternehmen an. Der freundliche Taxi-Mann und ich begrüßen uns mit einer Reihe von „How are you?”, reden aber nicht über das Wetter, was ich schade finde. Anschließend erkläre ich ihm, er müsste uns heute Abend nicht fahren, da unsere B+B-Landlady uns abholt.
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Der Frühstücksraum ist in braun gehalten. (Wahrscheinlich vom gleichen Innenarchitekten gestaltet wie die Zimmer.) Brauner Teppich, braune Tische, braune Stühle, braune Anrichte. Das Geschirr ist weiß.
Ich entscheide mich heute Morgen für Blueberry-Pancakes mit Honig. Bis zum Ende unseres Urlaubs werde ich jegliche Pfannkuchen-Variante ausprobiert haben. Dazu gibt es leckeren, kräftigen Kaffee. Bisher war der Kaffee in allen B+Bs gut und stark. Obwohl ich viel weniger Kaffee als zuhause trinke, habe ich nie Koffein-Entzugs-Kopfschmerzen bekommen. Wahrscheinlich weil ich schon morgens meine Tages-Koffein-Dosis bekomme.
Am Nachbartisch sitzt das amerikanische Paar, das wir vorgestern am Wegesrand gesehen haben. Sie lacht uns an und flötet „Good Morning“ herüber. So fröhlich, wie die Frau wieder ist, vermute ich, dass ihre Glückshormondrüsen ununterbrochen Serotonin, Dopamin und Endorphin produzieren. Oder sie hat sich vor dem Frühstück schon einen Amphetamin-Cocktail reingeorgelt.
Ihr Mann humpelt mit schmerzverzerrtem Gesicht durch den Frühstücksraum. Entweder wegen der Strapazen der gestrigen Wanderung oder weil er die gute Laune seiner Frau am frühen Morgen nicht erträgt.
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Die heutige Wanderung führt uns nach Cuas. Mit 25 Kilometern die längste Etappe unserer Wanderreise, mit 370 Höhenmetern aber nicht ganz so herausfordernd wie der gestrige Abschnitt. Es gibt nur zu Beginn einen kleinen Anstieg, ansonsten geht es viel am Strand und an der Küste entlang. Zum Ende könnte es nass und matschig werden. Da es seit Tagen nicht geregnet hat und die Sonne ununterbrochen scheint, kann ich mir das nicht vorstellen.
Zunächst müssen wir ein Stück der gestrigen Strecke zurückgehen. Vorbei an Kruger’s Bar, den langgezogenen Weg durch Dunquin bis zur Aussichtsplattform. Dort geht es rechts auf den Dingle Way. Dingle Dude wartet auf uns. „Good luck, today. You can do it, mates. I believe in you.“
Die Tochter ist sich nicht da nicht so sicher, sie hat heute ein kleines Tief. Ihre Füße tun weh und am kleinen Zeh des rechten Fußes hat sich eine monströse Blase gebildet. Über einer anderen Blase. Trotz Blasenpflaster ist das schmerzhaft.
Blasen sind eine komische Sache. Komisch nicht im Sinne von lustig, sondern von merkwürdig. Was denken sich Füße dabei? „Oh, hier ist eine Stelle, die drückt. Lass‘ mal ordentlich Wasser dahin machen, damit es noch mehr drückt und richtig weh tut.“
Dass die Tochter ihre Tage bekommen hat, ist ihrer Laune auch nicht zuträglich. Dabei schlägt sie sich wirklich beachtlich. In den letzten drei Tagen ist sie fast 70 Kilometer gewandert. Und das ohne große Vorbereitung. Ihre einzige sportliche Betätigung in den letzten Monaten bestand darin, am Wochenende wegzugehen und die Nächte durchzufeiern. Manchmal auch unter der Woche. Wenn ich es mir recht überlege, müsste sie die Lunge eines Pferdes haben.
Der Tochter setzen nicht nur ihre schmerzenden Füße zu, sondern auch wieder die Insekten, die uns auf den engen, von Hecken gesäumten Pfaden umschwirren. Sie bedenkt die Insekten mit allerlei englischen Schimpfwörtern und Kraftausdrücken. Leider kann ich sie nicht wiederholen, denn es handelt sich hier immer noch um einen Familienblog. Das meiste sind Kombinationen aus Adjektiven, die den Akt des Geschlechtsverkehrs beschreiben, sowie Bezeichnungen für Menschen, die sexuelle Dienstleistungen für Geld anbieten.
Einige der Begriffe waren mir bisher unbekannt. Schön, dass die Tochter ihren Wortschatz im ersten Studienjahr erweitern konnte. Die Studiengebühren, die wir für sie bezahlen, scheinen mir gut angelegt zu sein.
Die Insekten fliegen trotz ihrer Schimpftiraden hauptsächlich zur Tochter. Möglicherweise genau deswegen. Wahrscheinlich denken die irischen Bienen, Fliegen, Hummeln, Käfer und Wespen: „So wie die flucht, muss sie eine von uns sein.“
Zur Ablenkung und Aufheiterung der Tochter singen wir Kinderlieder. „Auf der Mauer auf der Lauer sitzt ‘ne kleine Wanze“, „Spannenlanger Hansel und nudeldicke Dirn“ und „Hänschen klein“. Weil weit und breit keine anderen Wander*innen zu sehen sind, fallen wir nicht negativ auf. Nach zehn Minuten ist unser Kinderlieder-Repertoire erschöpft. Dingle Dude stimmt ein irisches Volkslied an, das aber keiner von uns kennt.
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Kilometer Fünf. Wir laufen an einer Töpferei vorbei. Die großen Werbetafeln im Vorgarten verkünden, dass sie ganzjährig sieben Tage die Woche geöffnet ist. Ob das an Weihnachten, Silvester und Ostern wirklich nötig ist, wage ich zu bezweifeln.
Im Vorgarten stehen mannshohe, getöpferte Figuren. Sie sehen gruselig aus und scheinen mir keine besonders gute, verkaufsfördernde Werbung zu sein. Eher etwas, von dem ich heute Nacht schlecht träumen werde.
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White Mouth Beach. Ein mittelgroßer Hund kommt auf uns zu gerannt. Vielleicht ein Retriever. Oder irgendetwas anderes. So genau kenne ich mich mit Hunden nicht aus. Wir hatten früher keinen Hund und deswegen bin ich da kein Experte. Ein Dackel ist es auf jeden Fall nicht. Das erkenne ich. Und schwarz ist er. Um das zu sehen, musst du aber keine Hundeexpertise haben.
Der Was-auch-immer-Hund legt meiner Frau seine Frisbee-Scheibe vor die Füße. Er will nur spielen. Sie wirft die Scheibe weg. Einmal, ein zweites Mal. Gerade als sie richtig in Schwung kommt, wird es dem Hund zu langweilig und er rennt zu seinem Herrchen.
Mittagspause. Wir sitzen auf ein paar Steinen und essen unsere Cheese-Sandwiches, die wir heute Morgen bei unserem B+B bekommen haben. Sie sind einfach, ohne fancy Sauce oder anderen Schnick-Schnack. Aber lecker. Wenn du beim Essen aufs Meer schaust, ist sowieso alles lecker. Außer Rosenkohl. Rosenkohl ist nie lecker. Aber welche kranken Menschen kommen schon auf die Idee, am Strand Rosenkohl zu essen?
Die Tochter versorgt ihre Blasen. Dann gehen wir gehen weiter.
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Wir laufen oberhalb des Strandes entlang. Der Weg ist etwas verschlungen, aber Dingle Dude taucht regelmäßig auf und fuchtelt mit seinen Armen in die Richtung, in die wir gehen sollen. Wobei das gar nicht notwendig ist. Du musst nur dem ausgetretenen Pfad folgen.
In Kalenderblattweisheiten ist das natürlich verpönt. Auf den Pfaden zu wandeln, die von anderen bereits betreten worden sind. Du sollst immer neue Weg wählen, die noch nie jemand gegangen ist. Beim Wandern ist das nicht empfehlenswert. Da hat es meistens seinen Grund, warum noch nie jemand irgendwo langgegangen ist. Weil du sonst einen Abhang runterstürzt. Oder auf einer Weide mit einem tobsüchtigen Bullen landest.
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16,5 Kilometern sind zurückgelegt, wir biegen auf einen schmalen Küstenpfad weit über dem Meer ein. Der Ausblick ist spektakulär. Auf der einen Seite grüne Wiesen, auf der anderen zerklüftete Klippen, an die die Wellen schlagen.
Es windet hier oben sehr stark. Ich habe Angst, dass meine Kappe über die Klippen geweht wird. Noch mehr Angst habe ich, dass ich reflexartig hinterher springe.
Auf dem Weg liegen viele größere Steinbrocken. Um nicht zu stürzen, musst du sehr aufmerksam sein. Bin ich aber nicht, weil ich in der Landschaft rumglotze. Mehr als einmal stolpere ich über einen der Steine, wie der Dinner-for-one-Butler über den Tigerkopf. Bei der Tochter, die hinter mir läuft, führt das jedes Mal zu, wie ich finde, unangemessenen Heiterkeitsausbrüchen.
So schlecht scheint es ihr nicht zu gehen. Oder ihre Schadenfreude ist größer als ihr Fußschmerz. Wenigstens filmt sie mich nicht und schickt die Videos an ihren Bruder.
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Inzwischen haben wir fast 20 Kilometer weggewandert. Auf einer Weide stehen acht Kühe. Sie unterbrechen ihr Wiederkäuen und starren uns an. Alle acht. Während wir die Straße entlang trotten, verfolgen sie uns mit ihren Kuhaugen.
Komisches Gefühl, von einer Kuh angestarrt zu werden. Noch komischer, wenn es acht auf einmal sind. Als wäre uns ein peinliches Missgeschick unterlaufen. Mit offener Hose rumlaufen oder mit einem großen Fleck auf dem Hemd. Wobei ich nicht glaube, dass Kühe sich an so etwas stören. An offenen Hosenställen oder fleckiger Oberbekleidung.
Möglicherweise mokieren die Kühe sich darüber, dass wir nach fast fünf Stunden Wanderei etwas müffeln. Wahrscheinlich nicht nur etwas, sondern sehr. Andererseits riechen Kühe selbst nicht so, als badeten sie morgens in Köllnisch Wasser. Da ist es ihnen bestimmt ziemlich egal, wenn wir den Geruch nasser Mufflons verströmen.
Vielleicht ist den Kühen einfach langweilig. Bestimmt ist vor ihrer Weide nicht wahnsinnig viel los und wenn mal jemand vorbeikommt, schauen sie sich das interessiert an. Wie so Fenster-Rentner.
Alle Beiträge der Irischen Tagebücher finden Sie hier:
- Vorbereitung: Wie alles begann
- Anreise (02. Juni): Da wackelt nichts
- Zugfahrt (03. Juni): Mit der Ir’schen Eisenbahne
- Etappe 1 (04. Juni): Von Camp nach Annascaul
- Etappe 2 (05. Juni): Von Annascaul nach Dingle
- Etappe 3 (06. Juni): Von Dingle nach Dunquin
- Etappe 4 (07. Juni): Von Dunquin nach Cuas
- Bus- und Zugfahrt (08. Juni): Von Dingle nach Dublin
- Dublin (09. Juni): Wo sind all die Tier hin?
Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Im September erscheint sein neues Buch “Papa braucht ein Fläschchen”. Ebenfalls mehr als zu empfehlen sind “Hilfe, ich werde Papa! Überlebenstipps für werdende Väter”, “Ein Vater greift zur Flasche. Sagenhaftes aus der Elternzeit” sowie “Wenn’s ein Junge wird, nennen wir ihn Judith”*. (*Affiliate-Links)
Sehr schöne Wanderbeschreibungen. Laufe gerne im Geiste! mit.
Wie stehen Frau und Tochter denn zu einer Neuauflage einer mehrtägigen Wanderung?
Gruß
Andi