Heute ist es soweit. Der Sohn und ich fliegen gemeinsam nach London!
Mitte Februar hatte ich den Sohn damit überrascht, dass wir im Mai gemeinsam nach London flögen, wo er an einem Judo-Turnier, den ‘London Open’, teilnehmen könne. Der Sohn war begeistert, die Tochter weniger, denn aus finanziellen Gründen kann sie nicht mitkommen.
Ich erklärte ihr anschaulich, dass die Ausgaben für einen dreitägigen Londonaufenthalt mit Anreise, Unterkunft, Sehenswürdigkeiten und Essen schnell das Bruttosozialprodukt von Lichtenstein überstiegen und es sei für uns alle einfach zu teuer. Sie hielt das für kein schlüssiges Argument, was damit zu tun haben kann, dass sie weder weiß, was ein Bruttosozialprodukt oder was Lichtenstein ist. Erst als ihr die Frau vorschlug, ein gemeinsames Wellness-Wochenende zu verbringen, war sie zufrieden. (Es sollte sich später herausstellen, dass die Ausgaben für dieses Wellness-Wochenende mit Unterkunft, Behandlungen, Abendessen und Frühstück das Bruttosozialprodukt von Lichtenstein bei weitem übersteigen, aber das ist eine andere Geschichte.)
Während ich in den folgenden Wochen unsere Reise logistisch und touristisch vorbereitete, schwärmte der Sohn voller Enthusiasmus von unserem bevorstehenden „Männer-Trip“. Das klang bei ihm immer ein wenig so, als flögen wir nach Las Vegas, ließen uns dort volllaufen, verjubelten unser Geld im Casino und in zwielichtigen Oben-ohne-Bars. Das legte die Messlatte für unseren London-Ausflug natürlich ziemlich hoch.
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Gestern Abend stand ich vor der Herausforderung die Koffer zu packen. Aufgrund meiner mir innewohnenden Sparsamkeit hatte ich bei unserem Billigflieger nämlich nur Bordgepäck gebucht. Daher stehen uns nur zwei winzige Trolleys zur Verfügung, die mit dem voluminösen Judoanzug des Sohnes und seiner Sporttasche eigentlich schon komplett ausgefällt sind.
EasyJet. Wenn der Kontoauszug die Airline diktiert. #london2017
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Der Sohn meinte, ihm reiche eine Jogginghose und ein T-Shirt für die drei Tage, ihn würde dort ja niemand kennen. Ich weiß seinen Pragmatismus zwar zu schätzen, hielt es aber angesichts seines Talents, mit traumwandlerischer Präzision Essen auf seine Klamotten zu schütten, trotzdem für keine gute Idee. Mit kreativer Falt- und Rolltechnik schaffte ich es schließlich unsere Koffer zu packen und mit roher Gewalt sogar, sie zu schließen. Diese Prozedur musste ich dann noch drei Mal wiederholen, weil der Sohn kontrollieren wollte, dass ich auch nicht seinen Gürtel, sein Glücks-T-Shirt und seine Lieblingshose vergessen habe.
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Und nun geht es endlich los. Damit wir rechtzeitig zum Flughafen kommen, darf der Sohn zwei Stunden früher von der Schule nachhause kommen und den Lateinunterricht ausfallen lassen. Somit ist der Trip für ihn bereits ein voller Erfolg.
In Schönefeld angekommen schaffen wir es souverän durch die Security. Im Gegensatz zu unserem letzten Urlaub werde ich auch nicht zum Sprengstoff-Test raus gewunken, was der Sohn ein wenig schade findet. Ich sähe wohl zu brav aus, stellt er mit Bedauern in der Stimme fest.
Da wir noch Zeit bis zum Boarding haben, möchte der Sohn zum Duty-Free-Shop und sich die riesigen Süßigkeiten anschauen. Kurze Zeit später schleppt er eine Toblerone von Matterhorn-artigen Ausmaßen an und fragt, ob ich sie ihm kaufe. Um seine Verhandlungsposition zu stärken, stellt er mir in Aussicht, dass er mir auch ein Stück abgäbe.
Leider muss ich ihm die Bitte ausschlagen und zwar nicht aus finanziellen, sondern kalorischen Gründen. Mit der Strenge einer Chemnitzer Eiskunstlaufmutter erinnere ich ihn daran, dass er sein Gewicht für das morgige Judoturnier halten müsse. Das steigert zwar nicht gerade meine Beliebtheitswerte beim Sohn (und wahrscheinlich auch nicht bei den Leserinnen und Lesern), aber es ist auch nicht schön, seinem Kind zusehen zu müssen, wie es in einer höheren Gewichtsklasse kämpft und dort von Jungs, die einen Kopf größer und vier Kilo schwerer sind, vermöbelt wird.
Missmutig stapft der Sohn von dannen. Die Reiswaffel, die ich ihm gegen seinen Hunger anbiete, hebt seine Laune nur unwesentlich. Aus väterlicher Solidarität verzichte ich ebenfalls aufs Essen. Mein Magen protestiert mit lautem Knurren.
Auf der Flughafen-Toilette entdeckt der Sohn dann einen Automaten für Kaugummis, die als kaubare Zahnbürste vermarktet werden. Vor seinem inneren Auge ergeben sich ganz neue Möglichkeiten der abendlichen Zahnhygiene. Ich schüttel mit dem Kopf.
Kaubare Zahnbürste. Die Revolution der Dental-Hygiene. #london2017
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Um 18.15 Uhr besteigen wir das Flugzeug. Sofort beschäftigt sich der Sohn im Detail mit der Sicherheitskarte. Er will wissen, warum im Notfall Frauen die Schuhe ausziehen müssen, Männer aber nicht, wieso man sich beim Absturz nach vorne beugen soll und nicht die Hände über dem Kopf verschränken darf und was eigentlich „Brace, Brace“ heißt. Lauter Fragen, auf die ich keine Antwort weiß und mit denen ich mich kurz vor Abflug auch gar nicht beschäftigen möchte, um mein eigenes Sicherheitsgefühl nicht übermäßig zu strapazieren.
Kurze Zeit später erscheint mein Sitznachbar, ein weißhaariger Brite, der uns in perfektem Oxford-English begrüßt, was bei mir nostalgische Erinnerung an ‚Listening Exercises‘ im Englisch-Leistungskurs hervorruft. Dann setzt er sich allerdings wenig Oxford-like breitbeinig neben mich, was bei mir unnostalgische Erinnerungen an die Berliner U-Bahn hervorruft.
Nachdem die Flugbegleiter ihr Sicherheitsballett absolviert haben und das Flugzeug endlich in der Luft ist, studiert der Sohn im Bord-Magazin akribisch das kulinarische Angebot und zählt auf, was er gerne alles essen würde. Wenig glaubhaft erkläre ich ihm, die Sachen sähen auf den Bilder viel besser aus und schmeckten eigentlich gar nicht. Weil mir das Wasser im Munde zusammenläuft, versteht er mich aber nicht. Außerdem versuche ich beim Betrachten der Sandwiches, Schokomuffins, Keksen und Schokoriegeln nicht in Tränen auszubrechen.
Derweil bestellt der o-beinige Brite neben mir bei der Stewardess eine Zitronenlimo und Chips. Als er die Tüte aufreißt, strömt köstlicher Cheese & Onion-Duft zu uns herüber. Der Sohn schaut den Mann mit einer Mischung aus Neid und unverhohlenem Hass an. Säße ich nicht zwischen den beiden, würde der Sohn wahrscheinlich einfach ungebeten in die Chipstüte greifen. Ich selbst spiele mit dem Gedanken, die vom Chipsfett glänzenden Finger des Mannes abzulecken.
Um uns abzulenken, schlage ich dem Sohn vor, eine Runde Galgenmännchen zu spielen. Allerdings fallen mir nur Wörter wie Currywurst, Lasagne und Käsekuchen ein, was die Laune des Sohns dramatisch verschlechtert. Er kontert mit Wörtern wie Doofkopf, Blödmann und Pupsnase. Wir brechen das Spiel ab.
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Bei der Passkontrolle am Flughafen in Luton nimmt ein älterer Grenzbeamter unsere Pässe entgegen. „Is this your son?“, will er von mir wissen. „Indeed, he is“, versuche ich möglichst akzentfrei zu antworten, um mich nicht gleich als Deutscher zu outen. Angesichts der Tatsache, dass der Beamte meinen Personalausweis in den Händen hält, eine wenig erfolgsversprechendes Unterfangen. „What a stupid question“, erklärt der Beamte, nachdem er uns länger gemustert hat. „He looks like a mini-version of you.“ „The poor boy is not to be envied“, antworte ich. „I suppose he has to live with it”, entgegnet der Grenzbeamte, was zwar auf britischen Humor schließen lässt, aber ein wenig Gastfreundschaft und Höflichkeit vermissen lässt. Danach gibt er mir die Pässe zurück und winkt uns durch.
It’s London, Baby. Fast. #london2017
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Vor dem Flughafengebäude begeben wir uns zu dem Bus, der uns nach London bringen soll. Ein hünenhafter Busfahrer, den man sich gut als Statisten in einem Hooligan-Film und noch besser als prügelnden Hooligan in einem Fußballstadion vorstellen kann, verfrachtet unsere Koffer im Gepäckraum und scheucht uns mit einer unwirschen Handbewegung in den Bus.
Als alle Fahrgäste eingestiegen sind, erklärt der Fahrer streng, er müssen noch ein paar Sicherheitsanweisungen durchgeben und man solle ihm gefälligst gut zu hören. Während der Fahrt müssten alle angeschnallt sein. Es gäbe zwar ein Klo, dass dürfe aber nicht benutzt werden, weil man sich dazu ja abschnallen müsste. Außerdem dürfe ihn während der Fahrt niemand und unter keinen Umständen ansprechen, um ihn nicht abzulenken, sondern man müsse dazu warten, bis er anhalte. Ob das alle verstanden hätten, knurrt er durch den Bus. Alle Passagiere nicken synchron und niemand macht den Eindruck, so lebensmüde zu sein, zu irgendeiner Zeit mit dem busfahrenden Hooligan reden zu wollen.
Als wir knapp fünfzehn Minuten unterwegs sind, will der Sohn wissen, wie lange es noch bis zum Hotel ist. Geduldig erkläre ich, dass wir bis zur Finchley Road Station fahren müssten, dann die Jubilee-Line bis ‚Canning Town‘ nähmen und dann in die DLR nach ‚Beckton‘ umstiegen, so dass wir um ungefähr 20.25 Uhr bei ‚Royal Albert‘ ankämen, von wo es nur noch 500 Meter bis zum Hotel seien. Der Sohn schaut mich an, als hätte ich ihm gerade eröffnet, dass wir zu Fuß den Jakobsweg nach Santiago de Compostela gehen würden.
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Um Punkt 20.25 Uhr kommen wir tatsächlich bei ‚Royal Albert‘ an. Der Sohn kann meine Begeisterung, dass ich unsere Ankunft auf die Minute exakt vorhergesagt habe, nicht teilen. Stattdessen zeigt er auf den City Airport, der direkt gegenüber von der Bahnstation liegt und fragt, warum wir stundenlang mit Bus und Bahn fahren mussten, wenn wir doch einfach hier hätten landen können. Erkläre ihm, dass die Flugtickets dann drei Mal so viel gekostet hätten. Der Sohn hat kein Verständnis für meinen in seinen Augen unangebrachten Geiz, sondern findet, das wäre ein angemessener Preis zur Vermeidung seiner Reisestrapazen gewesen. Mein Hinweis, dass das gesparte Geld seinem Erbe zugutekäme ist ihm egal. Als kindlicher Hedonist scheint ihm eher an kurzfristiger Lustmaximierung denn an langfristigen finanziellen Vorteilen gelegen zu sein.
Zu meiner eigenen Überraschung schlagen wir direkt den richtigen Weg zum Hotel ein, checken kurze Zeit später ein und beziehen unser Zimmer. Dieses ist angenehm geräumig und hat entgegen Londoner Gepflogenheiten nicht nur die Größe eines Schuhkartons.
Bevor ich darüber in Ekstase geraten kann, werde ich auf den harten Boden der noch härteren Realität zurückgeholt. Ein startendes Flugzeug am City Airport demonstriert eindrücklich, dass die Nähe zum Flughafen zwar gewisse logistische Vorteile bietet, der Nachtruhe aber eher abträglich ist. Die heulenden Flugzeugturbinen machen einen Lärm, als verliefe die Startbahn direkt durch unser Zimmer.
Das wäre an sich schon eine architektonische Besonderheit, aber umso mehr, da anscheinend bereits Schienen durch das Zimmer verlegt wurden. Zumindest schließe ich das aus dem Lärmpegel, den ein vorbeifahrender Zug erzeugt.
Den Sohn stört das alles nicht, denn er stellt gerade fest, dass man vom Klo aus, wenn man die Badezimmertür offenlässt, einen direkten Blick auf den Fernseher hat. Für den Sohn eine innenarchitektonische Meisterleistung.
Kurz danach legen wir uns ins Bett, um Kraft für den anstrengenden morgigen Tag zu sammeln. Begleitet von einer Sinfonie aus dröhnenden Flugzeugmotoren, ratternden Zügen und knurrenden Mägen schlafen wir schnell ein.
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Alle Beiträge des London-2017-Reisetagebuchs gibt es hier.
Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Im September erscheint sein neues Buch “Papa braucht ein Fläschchen”. Ebenfalls mehr als zu empfehlen sind “Hilfe, ich werde Papa! Überlebenstipps für werdende Väter”, “Ein Vater greift zur Flasche. Sagenhaftes aus der Elternzeit” sowie “Wenn’s ein Junge wird, nennen wir ihn Judith”*. (*Affiliate-Links)