Es ist kurz vor acht und wir sitzen bereits alle gemeinsam am Strand von Santa Teresa Gallura. Wenigstens einmal wollten wir die Spiaggia Rena Bianca menschenleer erleben. Und das haben wir heute geschafft. Also, zumindest wenn wir uns die rund fünfzehn anderen Familien wegdenken, die noch früher als wir gekommen sind und bereits emsig an ihren Strandbehausungen bauen. Wenigstens haben wir aber einen Liegeplatz mit unverbautem Meerblick. Was das wohl auf dem lokalen Immobilienmarkt wert wäre?
Die meisten anderen Strandbesucher nutzen die Ruhe vor dem Ansturm der anderen Sonnenanbeter, um dem italienischen Nationalsport zu frönen: Nein, nicht um Fußball zu spielen, sondern um Selfies in der freien Natur zu machen. Nach zwei Wochen an den sardischen Stränden bin ich davon überzeugt, dass die Handy-Frontkamera und der Selfie-Stick von Italienern erfunden wurden. Es vergeht eigentlich kein Augenblick, an dem man nicht irgendwo Menschen sieht, die sich fotografieren.
So auch heute. Einzelpersonen, Pärchen, Gruppen und Familien, machen Fotos von sich und versuchen dabei höchst angestrengt, im Hintergrund die malerische Steinlandschaft, das wundervoll klare Meer oder die beeindruckende Silhouette von Korsika mit aufs Bild zu bekommen. Jemand sollte ihnen sagen, dass die Schönheit der Natur nicht durch menschliche Statisten gewinnt. Im Gegenteil. Leider reichen meine Italienischkenntnisse dazu nicht aus.
In den Felsen, in denen wir Anfang des Urlaubs ein paar Mal lagen, macht ein Pärchen gegenseitig Fotos von sich, wobei sie sich krampfhaft in eleganten Posen üben, die aber in der Ausführung zu wünschen übriglassen. Es werden Ellenbogen auf überschlagene Beine gestützt, gedankenversunken ins offene Meer geschaut, Arme ausgebreitet, verschämt über die Schulter geblickt und allerlei mehr, das ich hier nicht ausbreiten möchte. (In erster Linie, weil ich froh bin, es verdrängt zu haben.) Das Urteil von Heidi Klum zu diesem Auftritt würde wohl lauten: „Ich habe heute leider kein Foto für euch.“
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Der Sohn und ich nutzen den noch freien Platz am Strand, um eine Runde Beach-Tennis zu spielen. Es nagt an ihm, dass wir im Urlaub bisher eine eher unterdurchschnittliche Beach-Tennis-Performance an den Tag gelegt und unser Höchstwert, bei lediglich 26-mal den Ball zuspielen liegt. Ein Wert, den er als Beleidigung unseres wahren Leistungsvermögens empfindet.
Nach ungefähr 20 Minuten haben wir es immerhin geschafft, den Ball 53-mal ohne Unterbrechung hin und her zu spielen. Damit sind wir zwar immer noch weit von unserem 72er-Bestwert aus der Bretagne entfernt, aber der Sohn ist dennoch zufrieden. Zumindest haben wir einen neuen familieninternen italienischen Landesrekord aufgestellt. Noch zufriedener wäre er, wenn wir uns dafür selbst eine Medaille verleihen würden. So mit Siegerpodest und Hymne.
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Während der Sohn zu seiner Mutter und seiner Schwester ins Wasser geht, döse ich vor mich hin und hoffe außerdem auf eine Inspiration, was das Postkartenschreiben angeht. Allzu viel Zeit bleibt ja nicht mehr, ein paar originelle Urlaubsgrüße zu formulieren. Vielleicht gibt es etwas Passendes aus Goethes ‚Italienischer Reise‘, das ich verwenden kann. Ein Zitat, das nicht so bekannt ist, dass es jemandem auffällt, wenn ich es plagiatisiere. Und zu intellektuell sollte es auch nicht sein, sonst traut man es mir nicht zu. Irgendetwas mit Wetter, Essen und Erholung, wäre schön. Leider ist aber der Internetempfang am Strand zu schlecht für eine kurze Recherche. Ich beschließe daher, die Ideenfindung für den Postkarteninhalt auf später zu verschieben.
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Ungefähr 30 Minuten später kommt die Frau zu mir und teilt mir mit, die Kinder möchten wieder Wasser-Basketball mit mir spielen. Diesem Wunsch will ich selbstverständlich gerne nachkommen, habe aber Schwierigkeiten, die beiden im Wasser zu finden. Nach vierzehn Tagen unter der Sonne Sardiniens haben sie inzwischen einen Bräunungsgrad erreicht, durch den sie sich kaum noch von den italienischen Kindern unterscheiden. Vor allem wenn ich keine Brille trage. Nachdem ich drei fremde Kinder fröhlich angeschwommen bin und allmählich von den anderen Strandbesuchern misstrauisch beäugt werde, finde ich aber endlich Tochter und Sohn.
Die Partien Wasser-Basketball gewinne ich übrigens mit 10:1 gegen den Sohn und mit 10:7 gegen die Tochter. Die beiden finden zwar, dies sei hier keine Erwähnung wert, aber als verantwortungsvoller Vater möchte ich sie nicht der Chance des öffentlichen Scheiterns berauben, was extrem wichtig für den charakterlichen Reifeprozess von Kindern ist. Außerdem sehe ich es als späte Revanche für unzählige demütigende Niederlagen im Memory, die ich gegen sie früher erleiden musste.
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Gegen Mittag haben wir das Gefühl genug Sonne für heute getankt zu haben und machen uns auf den Weg zum Auto. Vorher mache ich noch einen kleinen Abstecher in ein Restaurant, um einen Tisch für 19 Uhr zu reservieren. Per Google Translator mache ich mich vorher schlau, wie der korrekte italienische Satz dazu lautet. Der Kellner scheint aber unter einer leichten Schwerhörigkeit zu leiden, denn erst als ich ihm den Satz auf dem Handy zeige, versteht er, was ich von ihm will.
Den Nachmittag verbringen wir faulenzend auf der Terrasse des Ferienhauses. Höhepunkt der ereignislosen Stunden sind ein paar Ameisen, die wir dabei beobachten, wie sie gemeinsam ein Stück Wurst abtransportieren. Ungefähr fünfmal so groß wie sie selbst. Ich stelle mir vor, wie es wäre einen 360-Kilogramm-Käsekuchen auf meinem Kopf zu balancieren und die Ameise ist jetzt mein neues Lieblingstier.
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Gegen 18 Uhr fahren wir wieder los Richtung Santa Teresa Gallura. Da noch etwas Zeit ist bis zu unserer Reservierung, begeben wir uns in ein Souvenirgeschäft. Zur Erhaltung von Freundschaften und der familiären Harmonie ist es ja wichtig, Geschenke aus dem Urlaub mitzubringen. Meistens freuen sich die Beschenkten nur so mäßig über die Mitbringsel, aber das heißt noch lange nicht, dass man mit leeren Händen zurück nach Hause kommen sollte, denn dies wird als Aufkündigung der Freundschaft beziehungsweise Bruch mit der Familie gewertet.
Allerdings ist es gar nicht so einfach, in dem Laden Souvenirs zu finden, mit denen man nicht den Eindruck erweckt, als wolle man Freunde und Verwandte demütigen, weil man ihnen unterstellt, sie hätten Gefallen an einer mit Muscheln beklebten Dose oder einem Schwein aus Kork. Die gleichen farbenblinden Postkartendesigner und langzeitarbeitslosen Computer-Novizen scheinen auch in die lokale Andenkenproduktion eingebunden zu sein. Anders ist das gegen jegliche Grenzen des guten Geschmacks verstoßene Angebot in dem Laden nicht zu erklären.
Schließlich werden wir doch fündig. Die Tochter kauft ein paar Armbändchen für ihre Freundinnen und eine Jeanshosen-Tasche für sich, der Sohn sucht für seine Kumpels ein paar monströse Kugelschreiber mit Sardinien-Motiven aus. Die werden sich wahrscheinlich nicht allzu lange daran erfreuen können, wenn sie ihre Schreibwerkzeuge auch nur annähernd so oft verlieren, wie der Sohn. Für unsere Eltern gibt es sardischen Likör, für die Kollegin Seife und für uns wie aus jedem Urlaub ein paar Kühlschrankmagneten von grenzwertiger Schönheit.
Nachdem wir den lokalen Souvenir-Einzelhandel in ausreichendem Maße angekurbelt haben, können wir schließlich ins Ristorante gehen. Das ist noch ziemlich leer, so dass ich mir – und dem bedauernswerten Kellner – den Versuch, einen Tisch auf Italienisch zu reservieren, auch hätte sparen können.
Damit wir wie beim letzten Restaurantbesuch, nicht wieder daran scheitern unser Essen komplett zu vertilgen – und um die Urlaubskasse zu entlasten –, verzichten wir diesmal auf Vorspeisen und konzentrieren uns voll und ganz auf die Pizzen. Der Sohn ist hellauf begeistert, als er auf der Karte eine Pizza, die mit Pommes belegt ist, entdeckt. Ich bin eher skeptisch, denn eigentlich möchte man sich ja den kulinarischen Gebräuchen und Sitten des Urlaubslandes anpassen, um nicht direkt negativ als ignoranter ausländischer Urlauber aufzufallen. Eine Pommes-Pizza scheint mir da wenig hilfreich zu sein, denn sie scheint mir eher in die Kategorie „Malle Pauschaltourist“ zu fallen. Andererseits habe ich im Supermarkt eine Fertigpizza mit „wurstel e patatine“ gesehen, was darauf hindeutet, dass es auch unter Italienern Vorlieben für abseitige Pizzabeläge zu geben scheint. Egal, wenn der Sohn glücklich mit einer Pommes-Pizza ist, soll es mir recht sein. Und übermorgen reisen wir ohnehin ab, da kann es uns egal sein, ob man schlecht über uns redet.
Die Pizzen sind wieder vorzüglich und wir schaffen es diesmal, sie fast komplett aufzuessen. Unser kluger Schachzug, keine Vorspeise zu bestellen, zahlt sich aus, denn so verfügen unsere Mägen auch nach den Pizzen noch über freie Nachtischkapazitäten. Der Kellner empfiehlt uns nachdrücklich und mehrfach das hausgemachte Tiramisu, welches er in den höchsten Tönen. Wenn sein Englisch oder mein Italienisch besser wäre, würden sicherlich die Worte „kulinarischer multipler Orgasmus“ fallen.
Ein wenig misstrauisch macht es mich ja schon, wenn ein Nachtisch angepriesen wird, in dem rohe Eier verarbeitet sind. Möglicherweise steht der ja schon ein paar Tage unmotiviert und ungekühlt in der Küche herum und ist bevorzugtes Ausflugsziel aller Salmonellen von Sardinien. Das Küchenpersonal hat sich dann vielleicht überlegt, dass eine Familie, die Pommes-Pizza bestellt, tumb genug ist, damit man ihr altes Tiramisu andrehen kann. Und recht haben sie, denn wir bestellen tatsächlich eine Portion.
Es stellt sich heraus, dass das Tiramisu wirklich ganz hervorragend ist und ich noch nie in meinem Leben besseres gegessen habe. Zusätzlich nehmen wir noch Eis für die Kinder und für uns Seadas, die in unserem Reiseführer als sardische Dessert-Spezialität empfohlen werden. Dabei handelt es sich um mit Ricotta gefüllte Teigtaschen, die in Öl ausgebacken und mit Honig bestrichen werden. Mit der Wahl eines frittierten Nachtischs, der fetthaltigen Frischkäse beinhaltet, kann man ja nicht wirklich viel falsch machen. Tun wir auch nicht, den auch die Seadas sind sehr lecker. Allerdings auch ein wenig mächtig und somit nach einer großen Pizza eine gewisse Herausforderung.
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Nach unserem 5.000-Kalorien-Abendessen flanieren wir aus Gründen der Verdauung noch ein wenig durchs Städtchen. Außerdem möchte die Frau noch einen weiteren Souvenirladen aufsuchen, denn anscheinend reichen ihr die von mir ausgesuchten Kühlschrankmagneten noch nicht als unsere eigenen Mitbringsel. Der Sohn ist einverstanden, da er noch fünfzehn Euro Urlaubsgeld übrig hat, das ihm unter den Nägeln brennt. Die Tochter ist zunächst weniger begeistert, aber als sie feststellt, dass es vor dem Geschäft sehr guten Handyempfang gibt, hat sie nichts einzuwenden.
In dem Laden weist mich die Frau auf einen Kissenbezug hin, auf das eine große, rote Koralle gestickt ist und das sich laut ihrer Einschätzung ganz hervorragend auf unserer Couch im Wohnzimmer machen würde. Ich starte einen schwachen Versuch, eine weitere Belastung unserer Urlaubskasse zu vermeiden, indem ich einwende, dafür bräuchte man ja auch ein ordentliches, gut gefülltes Kissen, damit der Bezug erst so richtig zur Geltung kommt. Die Frau erwidert, das sei überhaupt kein Problem, da könnten wir einfach bei unserem nächsten Ikea-Besuch eines mitnehmen. Nun droht mir nicht nur der Kauf des Kissenbezugs, sondern zusätzlich auch noch ein Ikea-Besuch. Man darf die Frau einfach nicht unterschätzen!
Der Sohn treibt sich derweil in der Spielzeug-Ecke des Ladens rum. Anscheinend ist das sardische Holz-Kunstwerk auf die Herstellung von Hieb-, Stich- und Schusswaffen spezialisiert, denn das Spielwaren-Angebot umfasst Pistolen, Gewehre, Zwillen, Schwerter und Säbel, die allesamt aus Holz geschnitzt sind. Der Sohn hat ein Auge auf eine hölzerne Beretta, was ich ihm aber ausreden möchte, um übermorgen am Flughafen von Olbia unnötige Diskussionen mit italienischen Security Officern zu vermeiden.
Die Frau springt mir zur Seite, indem sie seine Aufmerksamkeit auf ein paar Fußball-Trikots lenkt. (Diese hängen überraschenderweise direkt neben den Kissenbezügen.) Somit verlassen wir kurze Zeit später mit einem Juve-T-Shirt sowie einem Korallen-Kissenbezug den Laden.
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Die Heimfahrt zu unserer Ferienwohnung ist wieder recht beschwerlich, denn es ist schon stockdunkel und die engen Serpentinen verfügen über so gut wie keine Straßenbeleuchtung. Die Frau meint, die Sicht sei trotz Fernlicht so schlecht, da könne sie gleich mit geschlossenen Augen fahren. Da die Frau diese Aussage aber glücklicherweise nur metaphorisch gemeint ist und nicht in die Tat umsetzt, bringt sie uns doch gewohnt sicher nach Porto Quadro.
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Obwohl es schon spät ist und wir nach dem reichhaltigen Abendessen etwas erschöpft sind, spielen wir unsere obligatorische Kniffelrunden. Die Tochter wirft zu ihrer großen Freude in zwei Spielen vier Kniffel, wodurch sie ihre Gesamtführung ausbaut und zu ihrer noch größeren Freue einen Vorsprung von mehr als 850 Punkten auf mich, den Letztplatzierten, hat. Wenn wir wieder in Berlin sind, werde ich das WLAN-Passwort ändern. Mal sehen, wer dann zuletzt lacht.
Gute Nacht!
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Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Im September erscheint sein neues Buch “Papa braucht ein Fläschchen”. Ebenfalls mehr als zu empfehlen sind “Hilfe, ich werde Papa! Überlebenstipps für werdende Väter”, “Ein Vater greift zur Flasche. Sagenhaftes aus der Elternzeit” sowie “Wenn’s ein Junge wird, nennen wir ihn Judith”*. (*Affiliate-Links)
gback: Woanders ist es auch schön. | READ ON MY DEAR, READ ON.
Lieber Verfasser, den ganzen Schmarn den Sie da verzapfen, was soll das eigentlich! bleibt zu Hause. Ansonsten muss man schon ganz ehrlich sein, nach über dreißig Jahren Sardinienurlaube ist wirklich alles nur schlechter geworden was Qualität und Ehrlichkeit betrifft.
Mh, sollte man solche Kommentare kommentieren? Eigentlich nicht … Also ignoriere ich diesen Kommentar und sage nur: “hab wieder sehr geschmunzelt … Bleibt lieber nicht Zuhause! “😀
Vielen Dank. Das freut mich.
Vielen Dank für Ihren Kommentar. Ich war eigentlich gar nicht auf Sardinien, sondern habe mir das alles auf einem Campingplatz in Wanne-Eickel ausgedacht.