Auch dieses Jahr steigert der musikalische Adventskalender die Vorfreude auf das Weihnachtsfest ins Unermessliche. Diesmal mit ganz vielen phantastischen Gastautorinnen und Gastautoren, die ihre liebsten Lieder zur Weihnachtszeit vorstellen. Viel Spaß beim Hören!
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Es erfüllt den musikalischen Adventskalender mit großer Freude, dass sich heute die Avantgarde der Weddinger Familienblogger-Szene die Ehre gibt. Johnny, der eigentlich Tobias heißt, aber auch auf „Haste Lust `nen Kaffee zu trinken“ hört, schreibt seit Februar 2014 auf dem ‚Weddinger Berg‘ ein „Sammelsurium schräger Alltagsgeschichten und Gedanken aus dem Leben mit töchterlicher Urgewalt“. Damit trägt er maßgeblich zur Rehabilitation des als Problembezirk stigmatisierten Weddings bei und zeigt, dass man dort sehr gut als junge Familie leben kann (Anti-Gentrifizierungs-Aktivisten schicken ihre Beschwerden bitte direkt an istmirdochegal@weddingerberg.de.). Es ist außerdem Johnnys Verdienst, die Blogger-Aktion ‚12 von 12‘, bei der die Teilnehmerinnen und Teilnehmer am 12. eines Monats 12 Bilder aus ihrem Alltag präsentieren, auf ein neues Level gehoben zu haben. In den letzten Monaten hat er an einem Tag 12 Kugeln Eis beziehungsweise 12 Stück Kuchen in verschiedenen gastronomischen Einrichtungen des Weddings zu sich genommen. Wir verneigen uns in Ehrfurcht vor dieser Leistung.
Das Lied, das Johnny heute vorstellt, ist eigentlich gar nicht besonders weihnachtlich. Das hängt damit zusammen, dass Weihnachten in seiner Kindheit keine große Rolle gespielt hat und er die von der Konsumgüterindustrie inszenierte Kulturtechnik des Weihnachtsfests als Familienvater erst in einem autodidaktischen Aneignungsprozess erlernen muss.
Ben Gibbard “Title and registration”. Oder: Dezember in Auschwitz
Aufgrund der Tatsache, dass die weihnachtlichen Feiertage seit geraumer Zeit schon kaum noch Relevanz in meinem Leben entfalten, verbinde ich auch keine allzu frischen Erinnerungen mit ihnen. Keine besonders besonderen Momente, aber auch keine besonderen Dramen. Nichts. Und Musik, sofern es sich nicht um die aller klassischste Weihnachtsmusik à la “Last Christmas” handelt? Nein, nichts, komplette Fehlanzeige!
Dachte ich jedenfalls. Vielleicht gibt es aber doch eine kleine Ausnahme und zwar ein Lied mit dem “Title & registration” von Ben Gibbard, seines Zeichens Sänger der Gruppe Death Cab for Cutie. Hierfür muss ich aber ein Stück weit ausholen und es ist auch keine echte Weihnachtserinnerung, sondern ein Dezember-Erlebnis, dass sich zufällig nah an Weihnachten genau so zugetragen hat:
Im Dezember des Jahres 2009 (lange her also) befand ich mich ganz unverhofft für eine ganze Woche auf einer Lehrertagung in der IJBS Oswiecim (IJBS = Internationale Jugendbegegnungsstätte). Der deutsche Name dieses kleinen verschlafenen Nestleins in Polen, damit auch jeder weiß, was gemeint ist: Auschwitz. Auschwitz!
Mit deutschen und polnischen Lehrerkollegen verbrachte ich meine Vormittage auf den verschiedenen Geländen des ehemaligen Arbeits- und Vernichtungslagers Auschwitz, sprach mit Überlebenden, die den Boden der Hölle berührt haben und wie durch ein Wunder wiederkehrten, um mich dann bis in die Abendstunden hinein in Arbeitsgruppen und Präsentationen darüber zu diskutieren, wie man sich dem Thema möglichst pädagogisch nähern könnte. Abends wurde dann standesgemäß und massiv dem billigen Alkohol gefrönt. So mancher rauchte Zigarre. Lehrer und ihr natürliches Verhalten eben.
Kurz vor meiner Abreise mit dem Warschau Express in Richtung Polen fiel mir der Mitschnitt eines Akustik-Konzerts von Ben Gibbard aus dem Jahr 2007 in die Hände. Ein Zufallsfund, der mir seit jenem verhängnisvollen Tag in elektronischer Dauerschleife um die Ohren zu dröhnen hatte. Bis, ja bis zu meiner Abreise Montag Morgen um 6:30h. Am Hauptbahnhof hörte ich die Stimme Gibbard’s dann erst einmal zum letzten Mal.
Danach herrschte eine Woche lang Stille. Sieben Tage ohne Musik. Nur einmal noch versuchte ich in Oswiecim, Gibbards akustischem Treiben zu lauschen, aber nach wenigen Sekunden schon drückte ich hastig die STOP-Taste. Nicht jetzt, nicht hier, es ging nicht, fühlte sich auch gar nicht richtig an. Erst, als ich längst wieder zu Hause in Berlin war, begann ich langsam wieder damit, den im übrigen legalen Mitschnitt laufen zu lassen. Lied für Lied und irgendwann auch wieder ganz am Stück.
Im Dezember 2009 habe ich kein Weihnachten gefeiert. Eben genauso, wie ich es schon so häufig und in den Jahren zuvor nicht getan habe. Weihnachten fand einfach nicht statt. Statt dessen habe ich ganz unfeierlich eine Flasche Wein geleert und so viel “Herr der Ringe” geschaut, wie es mir menschenmöglich erschien.
Bis heute denke ich ab dem ersten Akkord dieses Liedes an jene Zeit im Dezember 2009, rund um Weihnachten, als ich mit Kolleginnen und Kollegen in Polen weilte. Ich denke daran, wie ich auf der ehemaligen Rampe stand oder am Teich, als ich in “Kanada” herumirrte und später die ehemalige “Sauna” betrat. Ich denke an die langen Abende, die kurzen Nächte, die viel zu langen Tage und die Köchinnen, die mir immer eine extra Portion Nachtisch reservierten. Wie könnte ich das vergessen?
Letztes Jahr war das erste Jahr, dass ich wirklich wieder bewusst Weihnachten gefeiert, besser gesagt: begangen habe. Dieses Mal ganz neu und alles frisch mit Freundin und kleiner Tochter. Diese Erfahrung und die Angst, eigentlich gar nichts zu diesem Feiertag beisteuern zu können, teilte ich auf meinem Blog “Weddinger Berg”. Außer vielleicht ‘Kartoffelsalat mit Würstchen’.
Was ich mir seit letztem, also meinem ersten Weihnachten fest vorgenommen habe, ist: Neue Lieder zu hören, um irgendwann sagen können: “Hey, weißt Du noch, damals, Weihnachten?”, ohne an das Jahr 2009 denken zu müssen. 2009 war gut, war schön, war komplett durchgeknallt und auch ein bisschen verloren. 2009 ist aber längst vorbei und so langsam erscheint mir die Zeit reif für neue Erinnerungen. In diesem Sinne: “I’m proposing a swift and orderly change.”
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Lieber Johnny, vielen Dank für das wunderbare Lied.
Wer mehr von ihm lesen möchte, wird hier fündig:
Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Im September erscheint sein neues Buch “Papa braucht ein Fläschchen”. Ebenfalls mehr als zu empfehlen sind “Hilfe, ich werde Papa! Überlebenstipps für werdende Väter”, “Ein Vater greift zur Flasche. Sagenhaftes aus der Elternzeit” sowie “Wenn’s ein Junge wird, nennen wir ihn Judith”*. (*Affiliate-Links)