Mein liebes Tagebuch,
in letzter Zeit, werde ich häufig gefragt, wie ich auf meine grandiosen Geschichten für das Buch käme. Gut, genau genommen lautet die Frage „Wie kommst du immer auf diesen Scheiß?“ und ich stellte mir diese Frage selbst. Aber es ist doch ein schöner Einstieg, um mal wieder von meinem Schreibprozess zu berichten.
Ein neues Kapitel beginnt immer damit, dass ich mir erstmal ein Grundthema ausdenke. Zum Beispiel eine Familienfeier, einen Umzug oder das Warten auf die Wehen. Danach versuche ich, mich daran zu erinnern, wie das damals eigentlich genau war. Meistens stelle ich fest, dass ich mich an schrecklich wenig erinnere. Also muss ich mir etwas halbwegs Originelles und Witziges ausdenken.
Sehr viele gute Ideen für Geschichten kommen mir beim morgendlichen Joggen. (Ja, mein liebes Tagebuch, du lachst jetzt vielleicht, aber ich gehe tatsächlich zwei bis drei Mal die Woche Joggen.) In den frühen Morgenstunden sind Körper und Kreativität noch frisch, die Beine und die Phantasie geraten allmählich ins Rollen und schließlich fließen Transpiration und Inspiration in harmonischem Einklang. Mit zunehmender Erschöpfung erlahmen allerdings Fleisch und Geist und ich bin froh, wenn ich ohne Nahtoderfahrung wieder zuhause ankomme.
Während meiner Laufrunden habe ich bereits häufig im Geiste komplette Plots für Romane von buddenbrookschem Ausmaß entworfen. Mit Protagonisten, Antagonisten, komödiantischen Nebenfiguren. Mit dramatischen Konflikten, Katastasen, Klimaxen, retadierenden Momenten und Katastrophen. Einfach mit allem, was ein Buch benötigt, um sowohl an den Kassen als auch im Feuilleton zu überzeugen. Doof ist allerdings, dass ich mir, wenn ich schwitzend und schnaufend, das traute Heim erreiche, lediglich einen Satz gemerkt habe: „Tante Uschi trägt ´nen rosa Schlüpper.“
Die bruchstückhaften Ideen, die ich mir nach dem Laufen behalten habe, notiere ich in meinem roten Schreib-Büchlein. Da bin ich ganz altmodisch-analog und verzichte auf jegliche elektronischen Gadgets und technischen Hilfsmittel. (Eine schöne Aussage, die irreführend suggeriert, ich gehörte sonst zur digitalen Avantgarde.).
Ohnehin schreibe ich die meisten Kapitelentwürfe in meinem Schreib-Büchlein vor. Mit Bleistift. Wie so ein Neandertaler. Diese Textpassagen, die ich meinem Hirn mühsam abringe, sind zunächst nur rudimentäre Skizzen. Oder wie es die US-amerikanische Schriftstellerin Anne Lamotte nennt: „Shitty First Drafts“. Diese bekommt nie jemand zu sehen. Und das ist auch gut so, denn bei den vielen Rechtschreib- und Grammatikfehlern, zöge dies die Aberkennung meines Abiturs nach sich.
Mein liebes Tagebuch, du kannst dir nicht vorstellen, was für ein langwieriger und stockender Prozess das Schreiben in das Büchlein ist. Ständig muss ich nach Inspiration und Anregungen heischen. Dazu schaue ich aus dem Fenster, trinke Kaffee, schmiere mir Schinkenbrote, zähle die Pflanzen auf unserem Balkon, esse Kekse, lese Zeitung, trinke noch mehr Kaffee, spiele Angry Birds, genehmige mir ein Stück Käse, zähle die Pflanzen in unserer Wohnung, verputze ein Stück Wurst, trinke weitere Kaffees, sortiere die CDs im Regal alphabetisch, bereite mir zwischendurch ein Schälchen Cornflakes zu, informiere mich im Internet über Diät-Tipps und nasche Schokolade. Irgendwann ist mir sehr übel und ich verschiebe das Schreiben auf einen anderen Tag.
Die nächste Schreibhürde besteht darin, mich mental in die Lage zu versetzen, den „Shitty First Draft“ in mein Laptop zu tippen. Und glaube mir, mein liebes Tagebuch, es macht keinen Spaß, einen „Shitty First Draft“ noch einmal zu lesen.
Während des Abtippens nehme ich erste Verbesserungen vor, damit der Text nicht aussieht, als habe ihn ein Erstklässler in Lautschrift verfasst. Anschließend drucke ich den ersten Entwurf aus, redigiere ihn per Hand und tippe die Überarbeitungen wieder ein. Dies wiederholt sich noch vier bis fünf Mal, was zu einem ökologisch bedenklich hohem Papier- und Tonerverbrauch führt. Eines Tages werden zornige Robin Wood-Aktivisten mit Mistgabeln und brennenden Fackeln vor unserer Tür stehen.
Nach unzähligen Editierschleifen hat der Text wenigstens ein Niveau erreicht, bei dem ich es wage, ihn der Verlegerin zu geben. Dabei hoffe ich, dass sie sich nicht schämt, diesen in Worte gegossenen Scherbenhaufen im Seitenstraßen Verlag zu veröffentlichen und nach juristischen Möglichkeiten sucht, den Buchvertrag aufzulösen (wegen geistiger Unzurechnungsfähigkeit des vermeintlichen Autors).
Wenn ich in diesem mühseligen Prozess ein Kapitel abgeschlossen habe, treibt mich danach immer wieder die panische Angst um, dass mir nie wieder etwas Niederschreibenwürdiges einfällt, das ich zu Papier bringen könnte. Dann muss ich wieder Joggen gehen, damit ich wenigstens auf den Satz komme: „Mit zunehmendem Alter sah Onkel Horst seinem Rauhaardackel Lumpi immer ähnlicher.“
Es bleibt spannend, liebes Tagebuch. Demnächst schreibe ich dir, wie ich versuche, einen Titel für das Buch zu finden.
Dein,
Christian
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Alle Kapitel von „The Making of ‚Das Buch’“ gibt es hier.
Christian Hanne, Jahrgang 1975, hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und zu viel “Nackte Kanone” geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Im September erscheint sein neues Buch “Papa braucht ein Fläschchen”. Ebenfalls mehr als zu empfehlen sind “Hilfe, ich werde Papa! Überlebenstipps für werdende Väter”, “Ein Vater greift zur Flasche. Sagenhaftes aus der Elternzeit” sowie “Wenn’s ein Junge wird, nennen wir ihn Judith”*. (*Affiliate-Links)
Sooo schlimm isses doch garnicht, für einen Erstentwurf, der nicht von mir stammt … ;-)
Dein Bleistiftsieht auch schon ganz erschöpft aus. Habe auch so einen. Aber da kommen nicht so schöne Geschichten raus. Vielleicht mehr joggen? Bin sehr gespannt auf DAS Buch!